Als ich, ungefragt und 3 Wochen zu früh, zu Beginn der 70er ins Leben katapultiert wurde, war die Welt riesig. Geradezu unfassbar groß und unbegreiflich schien sie mir. Meine Welt endete an der Dorfgrenze, an der Hand meines Vaters. Wir standen beim obligatorischen Sonntagsbratengedächtnisspaziergang nur wenige hundert Meter hinter den letzten Häusern meines 300 Seelen Kaffs (das ich so sehr liebte, auch weil ich nichts anderes kannte, vielmehr aber weil ich es als meine Burg verstand). Meine kurzen Stummelbeine trampelten aufgeregt auf der Kapstrasse hin und her. Da hinten, so zeigte ich meinem Helden mit Hut und schwarzer Bügelfaltenhose an, da am anderen Ende der Aue, hinter den Bäumen, da steht ein Kirchturm. Und da wollte ich unbedingt hin. Denn da war was neues, unbekanntes, etwas das schieres Abenteuer verhieß. Ich war nicht älter als 3 Jahre und wollte hinaus in die Welt. Ich wollte sie kennen lernen und sie sollte unbedingt auch mich umarmen. Aber der weise Herr, der mir immer alt und respekteinflößend vorkam, obwohl er damals noch weit davon entfernt war, sich mit seinem 40. Lebensjahr abfinden zu müssen, nahm meine winzige Hand in seine Riesige und führte mich sacht wieder in die Gegenrichtung, die ich unter keinen Umständen bereit war einzuschlagen. Ich hab bitterlich geheult.
Ich bin ohne digitale Ablenkungen durch Schule, Pubertät und den ersten (und jeglichen anderen) Sex gestolpert. Wenn ich irgendwas von irgendwem wollte, bin ich losgelaufen und hab es mir geholt. Bei den Freunden hab ich meist nicht mal geklingelt, einfach rein und ich war da. Verstecken galt nicht, die Türen waren überall immer offen.
Unser Fernsehprogramm bestand aus 4 mehr oder weniger gut zu empfangenden Sendern, wahlweise mit einem grauen Stromregler und ner mehr schlecht als recht ausgerichteten Antenne zur Optimierung des seinerzeit schon uninteressanten Schwachsinns. Und ohne Farbe versteht sich. Ich war mir immer sicher, ab und an doch mal Schemen bunter Ahnungen aufblitzen zu sehen. Die Unterhaltung war immer schon seicht, nur wurde zusätzlich von 2 Seiten Klassenkampf geführt. War mir Wurst! Meine Vorstellung von dem was hinterm Horizont kommen würde hat das nur wenig beeinflusst. Dahinter musste noch viel mehr sein, als der Holzkasten mit seinem trüben und griesigen Bild zu erzählen wusste.
Ein Auto hatten wir nie, Vater hat mal eins im Lotto gewonnen und postwendend EVP gesichert wieder verscheuert. Fahren wollte er nie, kann man schlecht Bier zu trinken hat er sich wohl gesagt. Und Mutter hatte schon Schiss auf der Rolltreppe. Auch aus diesem Grund blieb die Welt so gigantisch groß.
Wenn wir zu Oma gefahren sind, mit dem Zug eben, dann waren wir schon mal 7 Stunden unterwegs, mit 3-mal umsteigen und Mitropabier. Da hat der alte Herr immer drauf bestanden, konsequent war er schon immer. In diesen 7 Stunden haben wir eine Entfernung von ca. 200 km zurückgelegt.
Ich hatte eine heute kaum mehr begreiflich langsame Kindheit. Eine Kindheit voller Naivität und purer Glückseligkeit. Eine Woche fühlte sich für mich so lang an, wie heute ein ganzes Jahr. Entspannt bin ich erwachsen geworden, unter Familie und buckliger Verwandtschaft, die Sonntags immer den guten Rondo weggeschlürft und meinen geliebten Erdbeerkuchen weggefressen haben, Frei war ich unter und mit unbeschreiblich vielen und guten Freunden, mit denen ich alles geteilt habe.
Wenn ich heute darauf zurückblicke, weiß ich wie beängstigend dumm ich war, aber das ist mir egal.
Als DDR Kind will und kann ich da nichts hinein romantisieren, ich will die Uhren nicht auf Rückwärts trimmen! Das System, das den kleinen Arbeiter und Bauernstaat so unermesslich glorifiziert hat, und ihn durch blankes Unvermögen und taube Ohren selbst wieder abschaffte, hat mich als Jugendlicher nicht interessiert, ich wollte nur Spaß und so viel erleben, wie in einen Rucksack passt. Und das habe ich auch getan, Zeit hatte ich zur Genüge. Ich hab geliebt, gesoffen, getanzt, gekotzt, gelacht und geweint, mich geprügelt, meine Wunden geleckt, bin hingefallen und wieder aufgestanden, und all das ohne Stress. Ein solches Wort hätte ich seinerzeit erst mal in Mutters Lexikon nachschlagen müssen.
Es war schön! Ganz unabhängig davon, ob ich nun in einem gescheiterten Sozialismus heranwuchs, oder im Auenland. Es war schön, weil ich jung war und meine Eltern mich so sein ließen wie ich war.
Genau so wäre ich auch gern älter und alt geworden.
Und heute scheint all das verpufft, nur eine Erinnerung unterm Morgentau. Viele derer, die sich heute wortwörtlich durchs Leben prügeln müssen, haben so etwas nie erlebt. Denn heute ist die Welt ein Zwerg, weil jeder Ort nahezu umgehend zu erreichen ist und auch aus dem letzten Zipfel der sterbenden Kugel Halbwahrheiten in Lichtgeschwindigkeit von A nach B fliegen. Weil die Digitalisierung Fantasie und Verstand schrumpfen lassen, weil Globalisierung Hunger, Armut, Ungleichheit und Tod bringen. Weil heute nur noch verschwindend wenige, dafür aber verbrecherisch eigensüchtige Wichser davon profitieren. Weil heute das Bildungsniveau dem einer trockenen Apfelsine gleicht und nur noch wenige begreifen, wo die Schuldfrage zu klären wäre. Weil heute jene, die glauben nichts mehr zu haben auf jene eintreten, die gar nichts mehr besitzen, anstatt nach oben durchzuladen. Weil heute niemand hinterfragt und Bequemlichkeit das Maß aller Dinge ist. Heute ersticken wir im Überfluss, den keiner braucht und fühlen uns trotzdem verraten und verkauft. Wir haben eines der besten Gesundheitssysteme weltweit und leben trotzdem in der Katastrophe. Wir haben die niedrigste Arbeitslosigkeit seit Assi – Adi und wissen trotzdem nicht, ob wir alle Rechnungen zum Monatsende abdrücken können, oder doch wieder der Geier vor der Tür kauert. Wir lieben es oberflächlich zu sein, uns verblöden zu lassen, uns das vermeintliche Wissen anderer vor die durchgetretenen Schuhe göbeln zu lassen.
Das Land ist voller ausgebrannter Menschen mit kaputten Knochen und zerrissenen Seelen, und doch stirbt jeder für sich allein.
Ich frage mich schon sehr lange, ob Wohlstandes das alles Wert ist, warum wir alle so bereitwillig diesen Preis zahlen und unsere Leben in die Tonne treten.
Die Welt ist im Wandel und der Fortschritt dient dem Menschen. Werdet doch endlich mal wach!
Ach fick Dich Erde!