Sie wollte das Land verlassen. Jedoch nicht auf direktem Wege. In ihrem Kopf festigte sich seit zwei Jahren der Plan, ein Schiff zu betreten. Alle anderen Grenzen waren ihr zu unsicher. Sie wollte nicht in eine Kontrolle geraten.
Damals hatte sie nur ahnen können, was jetzt Gewissheit war. Sie hatte einen unglücklichen Zeitpunkt erwischt. Es hatte einen weiteren Anschlag gegeben. Für sie bedeutete das, dass die Grenzkontrollen wieder einmal verschärft waren. Wie eine Verbrecherin würde sie sich auf ein Schiff schmuggeln müssen, als blinder Passagier nach England oder Norwegen auswandern und von dort weiter flüchten.
Zwei Tage war sie auf der Flucht. Die letzte Nacht hatte sie in der Nähe des Bahnhof verbracht, unter totem Gestrüpp verborgen. Die allerersten Sonnenstrahlen hatten sie dazu gebracht, ihr ungemütliches und nasskaltes Bett zu verlassen. Mit einem billigen Kaffee in der Hand saß sie auf den Plastiksitzen und beobachtete die Anzeige. Der Zug, den sie sich ausgesucht hatte, kam erst in drei Stunden. Die Zeit würde sie sich irgendwie vertreiben müssen.
Als die ersten Läden öffnen, wanderte sie durch die Reihen. Sie kaufte ein paar Bifis, in einem anderen Laden drei Dosen Cola. Sie hatte all ihr Erspartes dabei. Als in einem Zeitschriftenladen auf einem winzigen Bildschirm die Nachrichten liefen, blieb sie stehen.
Konflikte, Kriege, Kämpfe. Nichts von einem Mädchen auf der Flucht. Vielleicht hatten ihre Eltern ja die Polizei nicht verständigt. Oder, so fuhr es ihr bitter durch den Kopf, ihre Familie hatte noch nicht bemerkt, dass sie zwei Tage fort war.
Doch davon durfte sie nicht ausgehen. Sie müsste das Schlimmste annehmen, dass sie bundesweit gesucht wurde. Dass die Kameras im Bahnhof sich auf ihr Gesicht fokussierten und Warnleuchten zu blinken anfingen. Dass sie genauso gesucht wurde wie die zwei Männer, deren Gesichter über den Bildschirm flackerten und vor denen eindringlich gewarnt wurde.
Phoebe kaufte eine Zeitung, einerseits, um ihren langen Aufenthalt in dem Laden zu rechtfertigen, aber auch, um informiert zu bleiben und um für die nächsten Stunden etwas zu tun zu haben. Auf dem Weg zu den abgetrennten Warteräumen, wo sie sich etwas sicherer fühlte, blieb sie an einem kleinen Kiosk stehen.
Der Wunsch, sich einfach einen kleinen Lolli zu kaufen und für ein paar Minuten in das kostbare Land ihrer glücklichsten Erinnerungen zurückkehren zu können, wurde fast übermächtig. Doch sie riss sich zusammen. Diese Zeiten waren vorbei. Nicht einmal ein Lolli für 50 Cent könnte sie wieder fühlen lassen, was für immer verloren war. Als der Verkäufer sie fragend anstarrte, ließ Phoebe den Blick schweifen und entdeckte einen kleinen, schwarzen Kasten mit Kurbel und USB-Anschluss, über den sie manuell ihren MP3-Player aufladen könnte. Sie investierte ihr Geld darin und hatte das Gefühl, dass sie dies später bereuen könnte. Mit 15 Euro war das Gerät eigentlich viel zu teuer. Aber Phoebe war sich bereits darüber klar geworden, dass Musik ihre große Schwäche war.
Seufzend zog sie sich in den Warteraum hinter den milchigen Glasscheiben zurück. Ein säuerlicher Geruch erfüllt die Luft. Auf dem Boden lagen Papierbeutel und eine zerdrückte Bierdose. Außerdem Zigaretten, obwohl der Raum als rauchfreie Zone ausgeschildert war.
Sporttasche und Schlafsack landeten achtlos auf dem Boden. Phoebe setzte sich auf einen Sitz an der Wand, lehnte ihren Rücken gegen den beschmierten Stein und setzte die Füße auf der Sitzschale neben sich ab. Sie schlug die Zeitung auf ihren Knien auf und begann zu lesen, nur sporadisch einen Blick auf die Uhr werfend, um ihren Zug ja nicht zu verpassen.
Bei den Kurznachrichten fand sie schließlich ihr Bild und einen kurzen Text. Sie las den Artikel gründlich. Man hatte also die leeren Tuben Haarfärbemittel im Mülleimer gefunden und ging davon aus, dass sie jetzt rothaarig sei. Ihr Kleidungsstil wurde als „farbenfroh, vermutlich Rot- und Grüntöne“ beschrieben. Man suchte nach einem naiven, sentimentalen Mädchen, das von seiner liebenden Familie sehr vermisst wurde.
Die junge Frau mit den kurzen, schwarzen Haaren lachte kurz und hart, doch in ihre blauen Augen kehrte ein Stück des alten Lichtes zurück.