Der Lärm riss Phoebe aus ihren Gedanken. Sie war im nächsten Moment hellwach und sah sich verwirrt um.
Eine schwarze Rauchwolke hing über der Straße. Menschen liefen draußen schreiend um ihr Leben. Innerhalb von Sekunden ergriff Entsetzen von Phoebe Besitz.
Sie schnappte sich ihre Tasche und den Schlafsack und sprang auf. Keiner im Café beachtete sie groß, denn alle waren nur mit dem Geschehen auf der Straße beschäftigt.
Phoebe jedoch spürte, wie die lange verdrängte Angst aufstieg. Sie sah sich um. In dem Café gab es keinen Hinterausgang. Knatternder Lärm näherte sich, und entgegen ihrem Instinkt wäre es sicherer, auf die Straße zu gehen. Sie stürmte durch die Glastür und mischte sich unter die panisch Fliehenden.
Jetzt konnte sie den Lärm einordnen. Schüsse, wie aus einem Maschinengewehr. Zusammen mit tausenden Menschen stolperte sie über das Kopfsteinpflaster, presste ihren Schlafsack an die Brust und lauschte auf die Schreie von überall her.
Sie musste orten, woher die Gefahr kam. Es schien wenigstens zwei Schießereien zu geben. Phoebe schlüpfte durch die Menschen und in eine Seitengasse, die sie hoffentlich in eine andere Richtung bringen würde. Stolpernd lief sie über das Pflaster, während die Schüsse sich näherten. Als sie Schreie hörte, warf sie sich in einen Hauseingang, doch man hatte sie nicht entdeckt. Stattdessen kreischten Menschen in Panik, die Schüsse hallten laut wider, setzten kurz aus und begannen dann von Neuem. Phoebe sah Blut von irgendwoher, die Straßen füllten sich damit. Sie sank auf die Stufen vor dem Haus, drückte die Sporttasche an sich und versuchte, die Tränen zu bekämpfen, die in ihr aufstiegen.
Sie war Phoebe, sie war stark. Auch jetzt durfte sie sich der Angst nicht ergeben. Doch ihr rasendes Herz und ihre schweißfeuchten Finger sagten ihr, dass sie immer noch zu großen Teilen menschlich war, und kein Roboter oder ein anderes gefühlloses Wesen.
Doch der Lärm zog weiter. Phoebe blieb in der Seitengasse unbeachtet sitzen. Als ein Anwohner sein Rollo herunter ließ, sprang sie erschrocken auf und huschte lautlos weiter. Sie hielt sich im Schatten, mied andere Menschen, überquerte breite Straßen erst, nachdem sie mehrere Minuten gewartet hatte.
Schwarzer Qualm füllte den Himmel zusehends, Sirenen ertönten, immer wieder lief sie an Menschen vorbei, die in Schockstarre mit leerem Blick ins Nichts sahen. Phoebe ignorierte sie, sogar das weinende, kleine Mädchen, das schutzlos auf der Straße stand und nach seiner Mutter krähte.
Jetzt und hier musste sie an sich selbst denken, rief sie sich ins Gedächtnis. Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft hatten ihr früher nur geschadet, und hier würde sie sich bloß in Gefahr bringen.
Um sie her herrschte ein Ausnahmezustand. Truppen von bewaffneten Polizisten liefen durch die Straßen. Phoebe versteckte sich bei dem kleinsten Geräusch. Sie achtete darauf, nie weit von einem Versteck zu sein, und erst weiter zu laufen, wenn sie den nächsten Schlupfwinkel schon im Blick hatte. Ihr Herz raste.
Immer wieder krachten in der Ferne Schüsse. Krankenwagen hetzten durch die Straßen, ohne das abgerissene Mädchen zu beachten. Phoebe rannte weiter, bis sie endlich einen Ort fand, an dem sie sich sicher fühlte.
Auf Höhe ihrer Knie befand sich ein Kellerfenster. Das Gebäude darüber schien verlassen, obwohl das im Moment für so gut wie jedes Haus zutraf. Phoebe trat das Fenster ohne zu zögern gänzlich auf. Sie umwickelte ihre Hand mit einem verlorenen Schal, der unweit auf der Straße im Dreck lag. Offenbar waren mehrere schwere Schritte darüber hinweg gegangen. Mit dem Stoff entfernte sie alle Scherben, die in dem Rahmen zurückgeblieben waren. Dann rutschte sie hindurch und atmete erleichtert auf, dass sie während der letzten Minuten nicht entdeckt worden war.
Jetzt hockte sie in dem verlassenen Keller und betrachtete die Backsteinwände und den Staub auf dem Boden. Verlassene Spinnennetze und eine vertrocknete Schnecke, haufenweise leere Türrahmen. Sie glaubte nicht, dass hier oft jemand vorbei sah.