Es dauerte fast eine Woche. Dann wagte Phoebe es endlich, den Bahnhof zu betreten und in einen Zug zu steigen.
In der letzten Zeit hatte es keine Angriffe mehr gegeben, die Sicherheitskontrollen ließen endlich nach, obwohl die Suche nach den Verantwortlichen – und dem Mörder von einem von ihnen – noch nicht abgeschlossen war.
Phoebe lief mit gesenktem Kopf und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Doch Niemand beachtete sie.
Mit einer neuen Zeitung ließ sie sich schließlich in ihren Sitz fallen. Heute hatte sie ein Abteil ausgesucht. Hinter der abgeschlossenen Tür fühlte sie sich sicherer. Eigentlich hätten hier sechs Menschen Platz gehabt, doch wer auch immer das Abteil entworfen hatte, hatte nicht mit Phoebe und ihrer großen Sporttasche gerechnet. Nachdem sie sich breit gemacht hatte und hoffentlich dafür gesorgt, dass ihre Einsamkeit anhalten würde, schlug sie die Zeitung auf.
In anderen Teilen Deutschlandes hatte es weitere Anschläge gegeben. Die Schlagzeile fiel ihr sofort ins Auge. Sie las den Artikel sorgfältig. Offenbar vermutete man, dass sich ein ganzes Terrornetzwerk über ganz Deutschland erstreckte. Phoebe kaute auf ihrer Lippe. Eine Ausreise ins Ausland würde sich schwierig gestalten, insbesondere, da sie keinen Pass dabei hatte.
Sie brauchte einen anderen Plan. Und Arbeit, denn langsam ging ihr das Geld aus. Als sie die Schlagzeilen fertig hatte, durchsuchte sie jede Seite, sogar den Sportteil, nach einem Artikel über ein ausgerissenes Mädchen. Weder ihr Bild noch ihr Name tauchten irgendwo auf.
Das musste natürlich nicht heißen, dass sie in Sicherheit war. Seufzend faltete sie die Zeitung zusammen und legte sie weg. Sie lehnte das Gesicht an die kühle Fensterscheibe und blickte hinaus in den Regen, wo Wohnsiedlungen und schließlich wieder Felder vorbei glitten.
Wo sollte sie hin? Sie musste eine Arbeit finden, wo Niemand nach ihrer Herkunft fragte. Ein Versteck.
Ein Geräusch weckte Phoebe aus ihrem schläfrigen Gedanken. Sie hob den Blick und bemerkte eine Frau, die vor der Tür zum Abteil stand.
Eine Hand an der Scheibe zögerte die Frau, als sei ihr im Vorbeilaufen etwas aufgefallen. Phoebe zuckte unter dem plötzlichen, stechenden Blick zusammen. Grüne Augen musterten sie. Das Gesicht kam Phoebe bekannt vor, doch sie konnte nicht sagen, woher. Die Frau schien nicht viel älter als Anfang oder Mitte Zwanzig zu sein, mit kastanienbraunen Locken und einem schelmischem Lächeln.
Zu Phoebes Entsetzen öffnete die Frau die Tür und trat ein. Fieberhaft überlegte das Mädchen, woher sie das Gesicht kannte, ob es jemand war, der sie verraten würde.
„Ist hier noch Platz?“, fragte die Frau höflich, obwohl nicht einmal Phoebes Tasche alle Sitzbänke besetzen konnte.
Das Mädchen nickte. Sie vertraute ihrer Stimme nicht mehr, die sie viel zu lange nicht benutzt hatte.
Die Frau ließ sich fallen und warf eine rote Tasche, die sich von Phoebes Sporttasche nicht sehr unterschied, auf den Sitz neben Phoebe.
„Kaum zu fassen, wie voll der Zug ist!“, plauderte die Frau: „Kein freier Sitzplatz, so weit das Auge reicht.“
Das war eine Lüge, wusste Phoebe sofort. Der Zug war leer, und seit der Anfahrt waren keine Menschen auf der Suche nach Sitzplätzen am Abteil vorbei gekommen.
„Tja, jetzt musst du meine Anwesenheit ertragen“, verkündete die Fremde und zog etwas aus ihrer Jackentasche: Eine Zeitung, die sie aufschlug und überflog. Phoebe strich über ihre eigene Ausgabe dieser Zeitung. Bei einem Artikel lachte die Frau unwillkürlich auf und schüttelte den Kopf.
Phoebe zählte die Seiten und überschlug, dann schlug sie vorsichtig die gleiche Seite in ihrer eigenen Zeitung auf.
Während sie die Artikel überflog, traf plötzlich etwas die Zeitung. Phoebe fuhr zusammen und hob den Blick. Die Frau hatte sich vorgebeugt und mit ihrer eigenen Zeitung Phoebes zur Seite geschlagen: „Wenn du etwas wissen willst, dann frag mich, Mädchen!“