Von zwei stämmigen Wachposten flankiert geleitete man uns geradewegs in den Empfangssaal des Königs. Ein langgezogener Saal mit Wandteppichen aus Purpur und Gold, mit Bodenfliesen aus schwarzem Gestein und einer Länge von mehreren hundert Metern, an dessen Ende ein paar Stufen zu einer Estrade hinaufführten. Vor einer Front aus gewaltigen, glaslosen Fenstern erhob sich ein imposanter, schmuckloser Thron mit einer Gestalt darauf, die nur ein König sein konnte. Ein stämmiger Mann mit bärigen Ausmaßen, angegrautem blonden Haar und stahlfarbenen Augen saß darin und folgte uns gierig mit Blicken, während wir würdevoll näherkamen.
Er trug keine Krone und er hielt kein Zepter in der Hand. Nur seine Erscheinung und der weiße Fuchspelz, den er über die Schultern geworfen trug, ließ erahnen, dass er der König von Oara war. Mein Onkel. Sein halblanges Haar war leicht gewellt und von vielen blonden Strähnen durchzogen. Der Mann, der dort saß, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem Vater, an den ich mich erinnern konnte, und doch war er sein Bruder. Ein großer Mann mit breiten Schultern, gut genährt und stämmig gebaut. Seine Arme waren kräftig und lässig auf die Lehnen gestützt.
Wir kamen näher und er schaute wie ein Richter auf uns herab. Seine Augen schimmerten wie Eis und waren von solcher Tiefe und Vertrautheit, dass ich instinktiv meine Schritte verlangsamen musste. Unrasiert und mit schmutzigen Fingernägeln und Schwielen an den Händen, schien er kein Mann zu sein, der Arbeit scheute. Sein Auftreten wirkte schroff und unwirsch, aber irgendetwas in seinem Gesicht ließ ihn dennoch warm und herzlich erscheinen, sodass ich, als wir vor ihm zum Stehen kamen, keine Angst verspürte.
Man hatte uns eingelassen, willkommen geheißen und wie Freunde behandelt. Seit ich den ersten Schritt auf die Treppe des Schlosses gewagt hatte, war mir jedes Wesen hier freundlich begegnet. Ich fühlte, dass es richtig war, hier angekommen zu sein.
Ich hielt den Atem an und schielte zu meiner Begleitung hinüber. Diese verneigte sich leicht und wartete, bis der König sich aus dem Thron schälte und erhob.
»Selinia, meine Liebe!«, donnerte seine kernige Stimme durch den Raum. »Wie schön, dich hier zu sehen!«
»Vielen Dank, Hoheit«, erwiderte das Mädchen keck.
Ich begriff schnell, dass man der Etikette hier am Hofe nicht sonderlich viel Beachtung schenkte. Die Dunkelfeen hatten mir erzählt, dass die Eisfeen aus dem Norden rau und hart waren. Über Jahrhunderte hinweg hatten sie sich und ihr Leben perfekt an das Eis, die Kälte und die stille Einsamkeit angepasst. Und hier bemerkte ich Ähnliches.
»Was verschafft mir deinen Besuch, nachdem du kürzlich nicht erscheinen und schon gar nicht bleiben konntest?« Er schmunzelte und richtete nun erstmals den Blick in meine Richtung. Seine Stirn zog Falten und ich sah, wie eindringlich er mich musterte. »Wen hast du mitgebracht?«
»Mein König«, fuhr sie fort, strich sich grazil die Haare hinter die Ohren und wandte sich halb zu mir herum. »Mit Verlaub, ich hatte gute Gründe, Euch nicht zur Verfügung zu stehen. Als ich das letzte Mal für Euch die Karten las, prophezeite ich Euch eine große Veränderung. Jetzt habe ich sie mitgebracht.« Tief in ihrem Inneren war sie ruhig, aber ihr Äußeres wirkte angespannte. Eine Maske, die sie trug, um jeden Verdacht von sich abzulenken und so menschlich wie nur möglich zu wirken. »Ich bringe Euch Erias, Sohn des Eyris - Euren Neffen.«
Ein leises Raunen lief durch die Reihen der Krieger, die mit uns gekommen waren. Hitze schoss mir in die Wangen, als mir klar wurde, dass jedes Augenpaar innerhalb dieser Halle auf mich gerichtet war.
»Das«, blaffte der König kühl, »soll der Sohn meines Bruders sein? Was verleitet dich zu der Annahme, dass ich dir glaube, meine Liebe?« Er rieb sich über das Kinn, die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen.
»Die Ähnlichkeit«, erwiderte Selinia hastig, »ist unverkennbar, mein König. Seht ihn Euch an. Ihr werdet glauben, Euren toten Bruder zu sehen.«
Der König runzelte die Stirn. Er schaute mich an und blickte doch durch mich hindurchzusehen. Ich wusste nicht, dass ich meinem Vater so ähnlich sah. Meine Erinnerungen an ihn waren schwach und die kleinen Fetzen, die ab und an ans Licht traten, offenbarten mir nur selten sein Gesicht.
»Nun gut«, sagte er dann, »lasst mich mit diesem jungen Mann allein. Ich will ihn ansehen und meinem Bruder gegenübertreten.«
Alleinlassen? Eine heiße Welle der Nervosität brach über mir herein. Ich schenkte Selinia ein unsicheres Lächeln, welches sie erwiderte, ehe sie dem König zunickte und sich, gemeinsam mit den Kriegern zurückzog.
Auf ihr Verschwinden folgte ein Augenblick der Stille. Dann hob der Mann im Fuchspelz die Hand und winkte mich zu sich. »Komm zu mir, Junge«, rief er aus und wedelte ungeduldig mit den Fingern herum, als würde er meine Bewegungen beschleunigen können. »Keine Scham! Selbst wenn du nicht der bist, für den die Fee dich hält, wird dir kein Leid in meinem Haus geschehen.«
Ich folgte seiner Einladung träge. Vier Stufen führten zur Estrade hinauf und jede einzelne verlangte mir alles ab. Was, wenn er mich nicht erkannte? Was, wenn er mir nicht helfen wollte und Karons Versuch, mich zu retten, in einem Disaster endete? Instinktiv nahm ich den Anhänger, den mir der Dämon überlassen hatte, in die Hand und ballte meine Finger zur Faust darum.
›Sei stark‹, wisperte es leise in meinem Kopf. Karons Stimme klaffte wie das Echo einer anderen Welt in mir auf, aber ich hörte sie drängend an den Innenwänden meines Verstandes kratzen. Er war bei mir, ganz wie er versprochen hatte. Auch wenn Meere und Berge zwischen uns lagen, er war noch immer nahe.
»Wie ist dein Name?«, fragte mich der König mit rauer Stimme. Kaum, dass ich die Estrade erklommen hatte, streckte er die Hand aus und zog mich ins Licht. Seine großen Händen berührten meine Schultern, während er mich ansah.
»Erias«, entgegnete ich unsicher und hoffte, er würde mir glauben.
»Beim Barte der Zauberer!«, flüsterte jener unerschütterliche Mann mit weiten Augen und starrem Blick. Seine Pupillen wurden groß, sein Blick bohrend. Angespannt kniff er die Augen zusammen. Seine Augenbrauen bildeten einen breiten Strich. Er neigte sich vor, kam immer näher. Ich wünschte, er würde blinzeln, aber er tat es nicht. Stattdessen streifte sein warmer Atem mein Gesicht. Schrecken und Begeisterung legten sich auf seine kantigen Gesichtszüge. »Du bist Eyris wahrlich wie aus dem Gesicht geschnitten! Woher kommst du, Junge?«
War ich das? Mit keinem Wort hatte Karon je erwähnt, dass ich meinem Vater ähnlich sah. Dabei hätte es so vieles leichter gemacht.
»Ich bin als Kind von den Düsterelfen aufgenommen und aufgezogen worden. Sie haben mir alles beigebracht, was ich weiß, mich lesen und schreiben und zuhören gelehrt.« Das war meine Gelegenheit. »Mein König, ich will niemandem etwas Böses. Ich will auch den Thron nicht. Ich will nur-«
»Du hast die Augen deiner Mutter.« Seine Stimme verkam zu einem rauen Flüstern. Ich fühlte mich beobachtet von ihm. »Meine Güte! Es ist, als stünde sie vor mir. Als wärst du..«
Ich schaute hoch und unsere Blicke kreuzten sich. Für einen Moment war ich nicht sicher, ob er seine Worte ernst meinte, doch als ich ihn ansah und das Glitzern in seinen Eisaugen bemerkte, spürte ich, er war aufrichtig zu mir. Seine Aufregung war echt.
»Das ist doch nicht möglich!«, brauste er auf, wankte zwei Schritte zurück und musste auf dem Thron Platz nehmen, so weich waren seine Knie geworden. Seine Hände wanderten zu seinem Gesicht. Er wischte darüber, verschränkte die Hände ineinander und berührte sie angespannt mit den Lippen. Ich sah seine Gedanken Kreise ziehen. »Wie alt bist du?«
»Siebzehn«, antwortete ich ihm.
»Siebzehn Jahre«, wiederholte mein Gegenüber murmelnd, griff sich in die Haare und ließ die Finger geräuschlos hindurchfahren. »Du bist ihm ähnlich. Bist du wahrhaft Eyris’ Sohn? Kannst du dich an deinen Vater erinnern?«
Ich nickte und schüttelte kurz darauf den Kopf. »Kaum«, offenbarte ich ihm wahrheitsgemäß. »Und an meine Mutter auch nicht. Die Dunkelfeen und Mönche haben nie von ihnen gesprochen. Ich wusste nur, dass sie tot sind.«
»Dunkelfeen, sagst du?« Grüblerisch hob der König eine Hand ans Kinn. Er war wie gebannt von mir und schaffte es nicht, sich abzuwenden. »Dein Vater hatte eine Schwäche für das Feenvolk und deren Bräuche. Ich hätte ahnen können, dass er dich dort verstecken würde.«
»Mein König«, setzte ich nochmals an. »Ich will niemandem zur Last fallen, aber ein Dämon-«
»Gütiger Gott!« Bei dem Wort Dämon schwand jede Gutmütigkeit aus dem Blick des Königs. Seine mächtige Faust donnerte auf die Armlehne des Thrones und Zornesröte schoss ihm in die Wangen. »Ich weiß von diesem teuflischen Mann, der meinen Bruder in die Wildnis lockte und ihm dort sein Ende bereitet hat! Er ist tot, Junge. Schon seit langer Zeit.«
Ich biss mir auf die Zunge und nickte stattdessen nur. Karon in diese Sache einzubeziehen war das Letzte, was ich wollte. »Nein, ich-«
Mein Gegenüber grunzte. »Grundgütiger, du bist ja ganz verwirrt! Was ist mit dir geschehen?«
»Ich bin von den Feen fortgerissen worden und begegnete Selinia. Sie hält es für möglich, dass mir eine finstere Hexe nach dem Leben trachtet. Ich kann es nicht belegen, jedoch..«
»Das ist nicht nötig, Kind. Ich kenne die Hexe, von der sie sprach, und werde Männer vor das Tor stellen. Wenn Selinia Recht hat, will ich gewappnet sein. Ob du nun der Sohn meines Bruders bist, oder nicht, ich gewähre dir Schutz. Selinia hat sich bislang nie geirrt und du wirkst mir so vertraut, ja, ich erkenne meinen Bruder nur allzu deutlich in dir. Du wirst hier bleiben, bis wir in Erfahrung gebracht haben, wer du bist und woher du kommst, und ob deine Geschichten wahr sind.«
Behutsam neigte er sich vor und klopfte mir zweimal auf die Schulter. »Lauf und hol mir die Seherin rein. Ich muss wissen, was sie gesehen hat.«
Ein Atemzug löste sich von meinen Lippen. Ganz langsam drehte ich mich um und stieg die Stufen wieder hinab. Wie in Trance und doch hellwach bewegte sich mich durch die Halle, bis zu ihrem Eingang und wankte hinaus. Selinia stand dort noch und ihr Gesichtsausdruck verriet mir, dass sie jedes Wort gehört hatte.
»Du warst fantastisch!«, lobte sie mich. »Den Rest erledige ich. Vertrau mir. Das Eis ist längst gebrochen.«
Ich wusste, dass sie recht hatte. Obwohl meine eigenen Gefühle gerade alles überlagerten, hatte ich die leichten, freudigen Schwingungen deuten können, die dem König entströmt waren. Ich war Familie, und selbst wenn sein Misstrauen noch allgegenwärtig war, schien er zu spüren, dass es stimmte. Wir waren blutsverwandt. Ich jedenfalls fühlte es.
Was seine Nähe mir an Emotionen zu bieten hatte, war zwar nur eine sehr abgeschwächte Form dessen, was Karon und ich besaßen, aber auch seine Gefühle luden mich ein, daran teilzuhaben.
Wir liefen Seite an Seite in den Thronsaal zurück. Als wir Anstalten machten, stehenzubleiben winkte uns der König zu sich nach oben und wir folgten seiner Einladung.
»Meine Liebe«, sprach er Selinia an und berührte mit seiner großen rauen Hand ihr Gesicht. »Du hast mich nie im Stich gelassen. All deine Vorhersagen sind eingetroffen und nun, nachdem ich fast enttäuscht war, dass du meine Einladung ausgeschlagen hast, kehrst du mir meinem Neffen zurück, den meine Familie tot und verloren glaubte. Wie kann ich dir für alles, was du getan hast, danken?«
»Erias braucht Schutz vor Syras Spähern. Es gibt Gerüchte, dass der Dämon, den die Königin einsperrte, entkommen ist. Wir sind nicht sicher dort draußen, deshalb ersuchen wir Euren Schutz und Eure Gastfreundschaft. Es war mir eine Ehre, Erias ausfindig zu machen und zu Euch zurückzubringen. Die Karten lügen nicht, aber sie sind nicht immer eindeutig. Ich wäre gerne schon eher hier gewesen.«
Mit einem Nicken stimmte der König ihren Bedingungen zu. »Und du, Erias?«
»Ich möchte alles über meine Eltern erfahren«, entfuhr es mir voreilig. »Ich will wissen, wer sie waren, wo sie gelebt haben, woran sie glaubten. Bis vor einigen Tagen war ich noch ein Waisenkind, nicht mehr. Und nun habe ich eine Familie. Größer könnte mein Glück kaum sein.«
»Nun«, schmunzelte der König. »Wenn das alles ist, was ihr Zwei wünscht, bin ich sicher, das lässt sich machen. Ich werde euch Zimmer geben und Diener bereitstellen. Und heute Abend sehen wir uns zum Bankett. Nur wir und die Familie. Es ist Zeit, einen Wein zu holen und darauf zu trinken, dass Erias von den Toten auferstanden ist. Jedoch erwarte ich Diskretion von euch. Ich will niemanden herumlaufen und rufen hören, dass der verlorene Königssohn aufgetaucht ist. Ich denke, wir verstehen uns?«
»Natürlich«, erwiderten Selinia und ich wie aus einem Munde und lächelten einanader verschämt an.
Plötzlich empfand mein Herz in seiner Nähe nur noch Freude. Die Angst, von diesem großen kalten Mann verstoßen und vielleicht sogar als Feind betrachtet zu werden, war wie fortgewaschen und ich vergaß einen Augenblick lang sogar meine Sorge um Karon. In diesem Moment war ich nur ein Junge, der endlich eine Familie gewonnen hatte und der Lösung eines großen Rätsels immer näher kam.