»Ich weiß wirklich nicht, wieso dir dieses Zeug so viel bedeutet«, grummelte Gorla und schob sich einen Bissen Brot in den Mund. »Bücher, Geschichten, Tagebücher.. Das sind bloß Dinge, die dir die verlorenen Tage nicht wiederbringen.«
Unter seinen aufmerksamen Blicken sahen Selinia und ich uns kurz an. Sie war die Erste, die daraufhin sprach: »Hoheit«, sagte sie mit fester Stimme, »Euer Neffe interessiert sich für die Geschichte seiner Familie. Für Dinge, die weiter zurückreichen, als mündliche Überlieferungen. Für ihn ist es wichtig, seine Wurzeln zu entdecken. Die Mönche haben nicht viel von Euch und Euren Vorfahren gesprochen.«
»Sie haben gar nicht darüber gesprochen«, verbesserte ich sie. »Onkel, es wäre wundervoll, wenn Meria Selinia und mich begleiten und uns alles zeigen könnte. Ich wüsste gerne, was mir in den letzten Jahren versagt war.«
Gorla ließ das Brot auf das vor ihm liegende Holzbrett zurücksinken und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. In seinem stoppeligen Bart hingen noch Krümel. »Natürlich wird sie das. Meria wird dir jeden Wunsch erfüllen, so unsinnig er auch sein mag.« Dann räusperte er sich und fügte: »Sie ist eine Perle, bitte mach dich nicht unbeliebt bei ihr«, hinzu.
»Natürlich nicht«, erwiderte ich.
Ich bemerkte beiläufig, dass mein Onkel mich aus den Augenwinkeln musterte. Misstraute er mir?
»Ich mag Bücher auch, Vater!«, mischte sich Thoma ein. Der kleine Siebenjährige saß neben seinem Vater am Tisch und stocherte lustlos mit dem Finger in einer Scheibe Schinken herum.
»Du bist zu klein zum Lesen!«, brummelte sein Vater ungehalten. Er warf mir einen genervten Blick zu und zuckte die Achseln. »Kinder in deinem Alter tollen über Wiesen und klettern Bäume rauf. Frag Erias, was er in deinem Alter getan hat.«
Erwartungsvoll schaute der Junge zu mir hinüber und ich fühlte mich ertappt. Meine Kindheit war ein wenig anders verlaufen, als die anderer Jungen. Ich war nicht nur hinter Mauern, sondern auch unter einer sehr strengen Hand aufgewachsen. Klettern, Herumtollen und sich schmutzig machen, hatte es nur selten gegeben. Dafür viele abenteuerliche Dinge, die man in einem alten Gebäude entdecken konnte, und in Thomas Alter, konnte ich sehr wohl schon ein wenig lesen.
Aber dem König schien viel daran zu liegen, seinen Sohn anders zu erziehen. Die Menschen hier waren rau und bescheiden. Sie mussten nicht lesen und schreiben können, um glücklich zu sein. Gorla selbst konnte es nicht. Er hatte mir in den ersten Tagen hier gebeichtet, dass alles, was er buchstabieren konnte, sein eigener Name war.
»Ich..«, begann ich zögernd. »Also, ich bin die Abhänge und Wiesen hinabgerollt und habe versucht, Tauben vom Dachsims wegzufangen.« Hilfesuchend schaute ich Gorla an, und erst als dieser zufrieden nickte, fühlte ich Erleichterung. »Bei uns gab es Hunde und Schafe, Katzen und jede Menge Ratten. Ich habe so ziemlich alles gejagt, was mir vor die Finger kam. Und als mich das nicht mehr befriedigt hat, habe ich angefangen, Fallen aufzustellen. Ich-«
In diesem Augenblick schwangen die Flügeltore auf. Ein roter Schopf schob sich zwischen hindurch und Meria lachte freundlich in jedes einzelne Gesicht. »Mein König!«, rief sie aus, »ich würde gerne den jungen Erias entführen.«
Gorla hob die Hand, winkte ab. »Der Bursche ist fertig!«, entgegnete er ungerührt, obwohl ich noch kaum etwas gegessen hatte. »Nimm ihn dir! Hinfort mit ihm.«
Sein Lächeln war ansteckend. Ich bettete die Stoffserviette neben mein Holzbrettchen und stand auf. »Kommst du nicht mit?«, fragte ich Selinia.
»Doch. Ich kaue nur fertig.« Sie warf dem König einen vielsagenden Blick zu, schlang den letzten Bissen hinunter und stand auf. Demütig senkte sie vor ihrem großzügigen Gastgeber das Haupt. »Mein Herr, Erias möchte mir mit seinem Wissen und seiner Wortgewandtheit imponieren. Verzeiht, dass ich den Tisch verlasse. Aber einem Thronerben soll man nicht widersprechen.«
»Geht schon«, brummte Gorla beiläufig, ehe er sich dem Rest seines Mahls widmete.
Selinia und ich folgten dem Dienstmädchen auf den Korridor hinaus. Meria schob die Tür an und drehte sich erst dann herum zu uns. »Bücher voraus!«, feixte sie. »Oder habt ihr den Plan geändert?«
Rasch tauschten wir einen Blick. »Ich würde gerne die Tagebücher meiner Mutter sehen«, gestand ich. Meria gehörte zu einem Kreis Auserwählter, denen Gorla sein Vertrauen schenkte. Sie wusste, wer ich war, und wieso Gorla darauf bestand, mein Erscheinen nicht publik zu machen. Den anderen Dienern hatte er mich als Cousin seiner Frau vorgestellt. Als Besucher aus dem Süden, der sich mit den Gebräuchen und Sitten der Nordmenschen nicht auskannte. Diese kleine Notlüge machte mir das Leben leichter. Ich brauchte mich nicht zu verstellen. Jedermann wusste, dass ich komische Dinge sagen oder seltsame Gesten an den Tag legen könnte. Immerhin kam ich von sehr weit her.
Was gar nicht so falsch war. Von Selinia wusste ich nämlich, dass das Land der Zhian-Ag auf einer Insel südlich des Festlandes lag. Sie gehörte zur größten der Thekra-Inseln und beherbergte neben dem Volk der Zhian-Ag nur ein paar andere Kreaturen, die sich vom Festland distanziert und dort Frieden gefunden hatten. Karon hatte uns vom südlichsten Punkt Theremals in die Nähe der nördlichsten Stadt gebracht. So einfach war es für einen Dämon, von Ort zu Ort zu gelangen.
»Die Tagebücher also.« Schmunzelnd streckte die Magd einen Arm vor und wies den Ganz vor sich hinunter. »Bitte nach Euch, Hoheit. Der Weg ist der Gleiche.«
Wir durchquerten das verwinkelte Schloss, das dann und wann wie ein Irrgarten wirkte. Fast jede residierende Königsfamilie hatte ein Zimmer angebaut, den Garten vergrößert oder sich selbst irgendein Denkmal gesetzt. Meine Eltern hatten den Turm bauen lassen, von dessen Zinnen aus man das ganze Land überblicken konnte. Ich war dort gewesen, und hatte mich ihnen dort oben seltsam nahe gefühlt. Ich hoffte, wenn ich erst ihre Tagebücher gelesen hatte, würde ich ihr auch endlich emotional näher kommen.
Wir folgten einem Pfad, den nur Meria kannte, über Korridore, Gänge und Flure hinweg. Am Ende des letzten Flures überkam mich ein sentimentales Gefühl.
Ich wollte weitergehen und gleichzeitig stehenbleiben. Mehr wissen und davonlaufen. Ja, ich wollte alles und nichts, aber nun umzukehren würde mich mein Leben lang verfolgen.
»Wird es mich umhauen?« Ich wollte nur scherzen, aber Meria nickt sofort und öffnete die Tür vor uns. Ein heller Schein fiel auf den Flur und den Grund zu unseren Füßen.
Wo waren wir gelandet? Der angrenzende Raum war so gewaltig, dass ich ihn mit wenigen Blicken kaum erfassen konnte. Regale stapelten sich vom Boden bis unter die Decke. Ich sah Buchrücken aus kunstvollem Leder, deren aufgesetzte Gold- und Silberschriften sich im Licht brachen.
Mitten im Saal standen kleine Tische mit je zwei Stühlen daran. Eine gemütliche Ecke mit Sesseln und Teppichen befand sich unter dem größten Zimmerfenster. Der Raum war groß wie ein Tanzsaal, lichtdurchflutet und hell. Er war ordentlich und im Sonnenlicht, das durch die großen Fensterrahmen hereinfiel, förderte unzählige durch die Luft schwirrende Staubpartikel zu Tage, die wie winzige Insekten durch den Raum schwirrten. Viele der zugige Fenster waren mit Tüchern verhangen, um den Frost und den Wind auszusperren, aber es funktionierte nur bedingt.
Ich trat ein, warf den Kopf in den Nacken und drehte mich einmal um die eigene Achse. Über mir drehte sich die Decke mit. Sie zierte ein Bild von einem wolkenverhangenen Himmel. In den vier Ecken des Saals waren Blumen und Ranken an die Decke gemalt. In einigen von ihnen hingen Blumen, die so echt wirkten, dass ich beinahe riechen konnte.
»Gefällt es dir?« Meria schaute mich an und wagte kaum, meine Euphorie zu durchbrechen. Als sie es dennoch tat, faltete sie ein wenig beschämt, die Hände im Schoß und versuchte, ein Lächeln aufzusetzen. »Sie war der ganze Stolz deiner Mutter. Als sie hier Königin war, war ich noch ein kleines Mädchen. Meine Mutter hat mir erzählt, wie oft die Königin herkam, sich in einen der Sessel setzte und Stunden damit verbrachte, sich durch jedes einzelne Buch zu arbeiten. Sie hat viel für das empfunden, was ihr andere Menschen zu sagen hatten.«
»Es wird Jahre dauern, jedes dieser Bücher anzusehen«, murmelte Selinia.
Doch ich hörte sie kaum. Plötzlich zog es mich fort. Es trieb mich in eine Ecke, und ich hatte gelernt, meinen Gefühlen zu folgen. Langsam näherte ich mich einem Regal. Es ragte bis unter die Decke hinauf und war über und über mit Büchern bestückt. Kein Platz war mehr dort, um auch nur noch eines unterzustellen. Und doch war dieses Regal anders als die anderen. Die Bücher, die hier standen, waren dunkel, namenlos. Sie besaßen keine Inschrift und leuchteten nicht, wenn das Licht sie berührte. Sie waren dunkel und von anderer, finsterer Natur.
»Danke, Meria«, murmelte ich. »Ich wäre jetzt gerne alleine hier.«
Hinter meinem Rücken senkte sie flüchtig das Haupt. »Sehr wohl. Ich komme dann zum Essen zurück.«
Als ich mich umdrehte, war sie verschwunden. Selinia kam an meine Seite gelaufen und betrachtete die Bücher vor mir mit gerunzelter Stirn. »Die Einbände..«, murmelte sie neben mir, trat an das Regal heran und zog eines der Bücher heraus. »Diese Bücher sind etwas Besonderes. Ich denke nicht, dass sie zur Sammlung des Schlosses gehören.«
»Sie gehörten meiner Mutter«, sagte ich entschieden. Ich wusste es einfach. Sie gehörten ihr. Sie beinhalteten einen Teil ihres Wesens.
Mein Blick flog über jedes Einzelne hinweg, bis eines von ihnen, eingebunden in rabenschwarzes Leder, eine Aufmerksamkeit erregte. Der Einband war zerschlissen und zerkratzt. Es war oft aus dem Regal genommen, aufgeschlagen und hingeworfen worden. Irgendjemand hatte diesem Buch besonders viel Aufmerksamkeit beigemessen. Also streckte ich mich und zog es heraus. Es lag schwer in meiner Hand, und fühlte sich seltsam falsch und unangenehm in ihr an.
Als ich die erste Seite aufschlug, erkannte ich eine fein säuberliche Handschrift. Tinte auf vergilbtem Pergament. Jeder Buchstabe war geschwungen und kunstvoll auf die Seiten drapiert. Aber irgendwie wusste ich, dass nicht meine Mutter diese Worte geschrieben hatte. Sie waren alt und verdorben. Etwas Böses wohnte ihnen inne, und als mein Zeigefinger über einen der Buchstaben strich, fühlte ich, wie viel Bosheit ihnen innewohnte.
Ich schlug das handgeschriebene Inhaltsverzeichnis auf und überflog es, bis ich an einem einzelnen Wort hängen blieb.
»Selinia? Ich denke, ich habe etwas gefunden.«
»Was steht da?«
»Whyndrir.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte in das Buch. »Bist du sicher, dass du das wirklich lesen willst?«
»Vielleicht kann ich dann besser verstehen, was Karon widerfahren ist, und ihm helfen, es zu überwinden.«
Wir schauten einander flüchtig an. Dann packte ich das Buch, warf es auf einen der Tische und setzte mich dazu. Ich blätterte das Kapitel auf, das die unheilvolle Überschrift enthielt, stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und begann zu lesen. Der Tag zog an mir vorüber ohne, dass ich sein Schwinden bemerkte. Ich las in diesem, Selinia in unzähligen anderen Büchern. Immer wieder und wieder blätterte sie über irgendwelche Seiten hinweg und verweilte lange über den Tagebüchern meiner Mutter. Dann und wann sah ich sie lächeln, betrübt die Stirn runzeln oder nachdenklich zum Fenster blicken. Mittags kam Meria vorbei, aber Selinia schickte sie fort und bat um Ruhe. Ich las weiter, völlig verloren in den leeren Worten, die ich dort fand. Das Buch schien meine Seele auszuhöhlen, immer weiter und weiter. Ich dachte an Karon, an all die Dinge, die er mir erzählt hatte, an all die Wahrheiten, die er glaubte. Er glaubte vergebens. Je mehr ich las, desto mehr Wissen ich mir aneignete, desto inniger hoffte ich, er würde hier sein, um mir beteuern zu können, dass es ihm gut ging.
Aber er war nicht da, und während ich las, verflog meine Wut auf ihn. Dass er mich angelogen hatte, spielte plötzlich eine untergeordnete, kleine Rolle.
»Und?«, fragte Selinia mich am frühen Abend, als ich das Buch zuklappte, meine Arme darauf legte und mit der Stirn meinen Handrücken berührte.
Meine Augen waren müde, mein Kopf schmerzte, und ich hatte das Gefühl, in einen Abgrund gestürzt zu sein. Immer und immer wieder.
»Erias? Was stand denn da?«
Ich blinzelte, schlug die Augen auf und drehte den Kopf so, dass ich sie ansehen konnte, ohne ihn heben zu müssen. »Willst du eine kurze oder eine ausführliche Zusammenfassung?«
»Ich will wissen, was mit meinem Freund geschieht, und ob es ihm bald besser gehen wird.«
»Nein«, sagte ich kurzangebunden. »Das wird es nicht. Das wird es überhaupt nicht.«
»Erias..«
»Als Karon dieses Ritual durchführte, brauchte er eine reine Seele, die seine Dunkelheit ausgleichen und absorbieren kann. Erinnerst du dich daran, dass er sagte, meine Mutter ging diesen Weg mit ihm?«
Sie nickte schweigend.
»Wenn dem so war, ist sie seine Seelenvertraute gewesen. Ein Anker, wenn du es so nennen magst, der Karon am Boden halten und ihn erden sollte. Eine Kraft, die er sich anfangs zu Nutze machen kann, um das Gleichgewicht in seiner Seele aufrechtzuerhalten.«
»Das verstehe ich. Aber wieso bist du so traurig darüber?«
»Weil mit ihrem Tod auch das verschwunden ist, was Karon im Gleichgewicht halten sollte. Du konntest nicht sehen, wie schwer ihm der Zauber im Steinkreis gefallen ist, wie viel er entbehren und loslassen musste, aber ich sah deutlich, wie sich ein Teil seiner Seele abgespalten hat und verlorenging. Ich fürchte, ohne meine Mutter, könnte es wieder geschehen.«
»Denkst du, sie hat es gewusst? Dass sie dieser Zauber verbindet?«
»Ich denke, er wusste es. Und er weiß auch, dass diese Aufgabe nach ihrem Tode einer anderen Person zufallen muss.« Langsam hob ich den Kopf und tippte mit dem Zeigefinger auf den Einband des Buches. »Hier drin steht, dass Karons Herz sich nach dem Tod seiner Seelenvertrauten ein anderes Wesen erwählen wird. Eines, das in seine Gedanken sehen und dann eingreifen kann, wenn es nötig wird. Ein Wesen, das sein Dunkel mit Licht aufwiegen kann. Das waren seine Worte zu mir. Genau darum hat er mich gebeten. Und ich kann Karons Gedanken lesen. Ich fürchte, er hat einen ganz furchtbaren Fehler begangen.«
»Als deine Mutter starb, war er unendlich weit fort. Er steckte in einer anderen Gestalt und wusste nichts von alledem.«
»Das alles scheint nicht wichtig zu sein. Es ist eine emotionale Bindung.«
»Wenn ich darüber nachdenke«, murmelte Selinia, »ist der Gedanke, dass Karon unter den Umständen, in denen er festsaß, dich erwählte, gar nicht so abwegig. Du warst ein Kind, als er fortgesperrt wurde. Du kanntest ihn nicht und warst frei von Vorurteilen. Und du wurdest von der Frau aufgezogen, in die er offenbar mehr Vertrauen hatte, als in jedes andere Wesen. Glaubst du, er hat dich ausgesucht, um seine Seelenreise zu Ende zu bringen?«
»Er hat gesagt, er will unsere Bindung nutzen, damit er weiß, ein Teil von ihm wird immer dafür verwendet werden, etwas Gutes zu tun.« Ich seufzte schwer. »Wenn ich an unser Gespräch zurückdenke, glaube ich, seine Entscheidung ist bereits gefallen. Und, dass ich ihn jetzt nicht mehr erreichen kann, macht mir Sorgen. Er versucht, sich abzunabeln, und dieses Buch behauptet, so etwas kann schlimme Folgen nach sich ziehen. Was ist nur geschehen?«
»Glaubst du, es geht ihm schlecht?«
Ich zuckte die Achseln und schüttelte missmutig den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber ich kann es nicht ausschließen. Wenn dieses Buch recht behält, dann muss ich ihn finden.«