Er war fort. Immer wieder ging mir der gleiche Gedanke durch den Kopf. Und vielleicht kam er nicht zurück.
Ich starrte vor mich hin, saß noch immer auf der Lichtung. Die Kutsche war schon lange fortgefahren, und es hatte zu Regnen begonnen. Dicke, glasklare Wassertropfen perlten von meinen Haaren, fielen auf mein Gesicht und rannen daran hinab. Als irgendwann, lange nach Mitternacht, als meine Kleider längst durchgeweicht und ich bereits bitterlich fror, ein Licht den Wald erhellte, nahm ich sein Näherkommen nur am Rande wahr. Ich blinzelte in den tanzenden Lichtkegel und sah mich kurz darauf einem sehr vertrauten Gesicht gegenüber. Selinia fiel mir haltlos in die Arme, umfasste mein Gesicht mit ihren Fingern und suchte in meinen müden Augen nach der Wahrheit.
Ihre Besorgnis weckte ganz langsam meine Lebensgeister. Ich ließ meinen Geist in ihren eindringen und fand dort ein Gewirr aus Fragen und Ängsten vor. Dinge, die sie nie auszusprechen wagte, obwohl sie ihr auf der Zunge brannten.
Ich sah, dass sich ihre Lippen bewegten, und wie Worte von ihnen fielen, aber ich hörte nichts außer dem Rauschen von Blut in meinen Ohren.
»Erias? Erias? Eeerias?«
Finger schnippten vor meinem Gesicht. Ich erschrak und zuckte zusammen. Blinzelnd sah ich auf, erkannte das Gesicht der Düsterfee unmittelbar vor mir. Erleichterung begann, sich darin auszubreiten.
»Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, murmelte sie. Ich sah die Farbe langsam in ihre Wangen zurückfließen.
Rasch sah ich mich um und erkannte das Zimmer rasch: große, gemütliche Sessel, eine üppige Deckenbeleuchtung und weitläufige, große Fenster, vor denen bodenlange, lichtdurchlässige Vorhänge wehten. Ich befand mich in der Schlossbibliothek meines Onkels.
»Was..«
»Ich habe dich im Wald gefunden«, rief mir Selinia in Erinnerung. Sie hockte unmittelbar vor mir, hob die Hand und wischte ein paar nasse, verwirrte Haarstränge aus meinem Gesicht. »Du warst völlig durchnässt und hast seltsames Zeug vor dich hingestammelt.« Ihre Augen huschten über mein Gesicht hinweg. »Bist du verletzt?«
»Nein.«
»Kannst du mir sagen, was dort draußen passiert ist? Wieso warst du dort?«
Ich blinzelte. Langsam tastete ich nach meinem Umhang und bemerkte dann, dass er fort war. Stattdessen trug ich eine dicke, braune Decke, die mir um die Schultern geschlungen war. Selinias Blick folgte mir. Sie drehte sich herum und wies auf ein schwarzes Bündel, das hinter mir am Boden lag. Ich nickte, und sie sprang auf, bückte sich und griff danach.
»Tasche..«, murmelte ich und sah ihr zu, wie sie den Stofffetzen nach irgendetwas durchsuchte.
Als sie den Brief fand, den ich zusammengeknüllt und eingesteckt hatte, war er zu ein paar nicht mehr zu gebrauchenden Fetzen geworden. Der Regen hatte das Papier aufgeweicht.
Sie schaute fragend zu mir auf.
»Syra hat mir eine Nachricht zukommen lassen«, klärte ich sie auf. »Sie behauptete, Karon sei in ihrer Gewalt, und sie wollte mich treffen, oder ihm etwas antun.«
»Und du bist ohne mich dort hinausgegangen?«
»Ich dachte, ich kann ihn retten«, entgegnete ich achselzuckend. Meine Seele fühlte sich taub und hilflos an. Ich empfand - rein gar nichts, und ich war nicht sicher, ob ich jemals wieder in der Lage sein würde, Gefühle wahrzunehmen. »Aber er war gar nicht dort.«
Selinia stand langsam auf und ließ sich auf den Stuhl niedersinken, den sie unmittelbar vor meinen geschoben hatte. Plötzlich klebte ihr Blick an meinen Lippen. Ich sah sie nicht an, senkte den Kopf und betrachtete meine Finger. Dreck klebte an ihnen. »Was ist passiert?«
»Es war eine Falle. Syra hat uns überlistet, und gewonnen.«
»Was heißt, sie hat gewonnen? Hast du sie gesehen?«
Ich nickte unbeteiligt. Ihr Gesicht erschien vor meinem inneren Auge. »Karon hat versucht, mich zu befreien, aber es waren zu viele, und er hat es nicht übers Herz gebracht, gegen sie zu kämpfen.«
Selinias Lippen zitterten. »Ich verstehe nicht..«
»Er ist mir ihr gegangen!«, entgegnete ich barsch, packte die Decke und schlang sie fester um mich. Dann stand ich auf und schlenderte auf wackeligen Beinen ans Fenster heran. Davor war es noch immer dunkel. Ich konnte die Lichtung sehen, auf der ich meinen Freund verloren hatte. »Er ist weg. Er ist bei ihr geblieben.«
»Aber..« Ihr Gesicht hatte erneut alle Farbe verloren, ihre Augen waren weit vor Entsetzen, und ihre Arme hingen nutzlos an ihrem Körper herab. Sie versuchte, meine Worte aufzunehmen, zu verarbeiten und zu verstehen. »Keine Magie kann ihm etwas anhaben..«
»Magie war gar nicht nötig. Er ist einfach mit ihr gegangen. Syra hat ihn gegen mich eingetauscht. Das war von Anfang an ihr Plan. Und jetzt hat sie alles.«
Jetzt war Karon dort, wie sie ihn haben wollte, und sein Wort zwang ihn dazu, dort zu bleiben. Jetzt gehörte Syra alles, wonach sie sich verzehrt hatte, und der Weg, der hinter Karon lag, schien vergebens.
Ich starrte ihr Spiegelbild an. Sie stand nur da. Reglos, entsetzt, und unfähig, ihre Wut hinauszuschreien.
Und ich verstand sie. Sie war nicht dabei gewesen, hatte meine Sorgen und Ängste nicht mitbekommen, und weil sie nicht in der gleichen Situation gewesen war, konnte sie unmöglich begreifen, wie sehr mich der Gedanke erschreckt hatte, Karon im Stich zu lassen.
»Er sagte, wollte mit ihr gehen«, fuhr ich fort. »Karon will uns Zeit verschaffen.«
»Zeit wofür?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hat er dir irgendetwas gesagt? Hat er dir einen Hinweis gegeben? Eine Botschaft? Irgendetwas?«
»Nein.«
Karon hatte mich mit nichts anderem als meinen Schuldgefühlen zurückgelassen. Keine versteckten Botschaften, keine Hinweise, keine Aussicht auf Besserung oder Glück.
Ich drehte mich um, schaute die Düsterfee an und versuchte, ihren Blick zu deuten. Sie war aufgestanden und nähergekommen. In ihren Augen flackerte Trauer, gespickt mit Entrüstung und Verzweiflung. Nie zuvor hatte mich irgendjemand auf diese Weise angesehen. »Oh, Erias..«, hauchte sie mir zu, kam langsam auf mich zu und berührte mit den Händen meine Schultern. Dann schoss aus heiterem Himmel ihre Hand hinauf zu meinem Gesicht und versetzte mir eine schallende Ohrfeige. Der Schmerz bedeutete mir nichts. Ich hieß ihn willkommen. Aber der Blick in ihren feuchten Augen, die Wut in ihrem Gesicht, ließ meinen Atem stocken. »Du hättest es mir sagen müssen!«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürmte aus der Bibliothek hinaus.
Hitze schoss in meine Wange, in mein Gesicht. Ich spürte Tränen in meinen Augen brennen, aber ich erlaubte ihnen nicht, den Weg über die Schwelle.
»Der Kampf«, murmelte ich, schaute auf meine Hände hinab und ballte sie zu Fäusten, »ist noch nicht vorüber.«