Ich klopfte an ihre Tür und fühlte mich dabei, wie ein hilfloses Kind. Es war nicht das erste Mal, dass ich einen anderen Menschen um Verzeihung bitten musste, aber das erste Mal, dass es mir wirklich schwerfiel. Ich war nur meinem Herzen gefolgt. Wieso war es diesmal so schwer?
Als Selinia öffnete und ihr Gesicht zwischen Tür und Angel erschien, schob ich vorsichtshalber meinen Fuß in die Spalte, nur um sicherzugehen, dass sie mir die Tür nicht vor der Nase zuknallte.
»Ich muss mir dir sprechen«, platzte ich heraus. »Darf ich hereinkommen? Es.. geht um Karon.«
Obwohl ich ihr ansah, dass sie mich nicht bei sich haben wollte, öffnete sie die Tür weiter und trat zur Seite. Ich huschte an ihr vorüber und wandte mich um. Es war das erste Mal, dass ich ihr Zimmer betrat.
»Was willst du?«, fragte sie. In ihrer Stimme schwang ein barscher, mürrischer Tonfall mit. »Hat dir ein Schlag nicht gereicht?«
Ich wollte lächeln, aber sie war so wütend, dass mein Gesicht versteinerte. »Karon hat mich in meinem Traum besucht. Es tut ihm leid, dass er uns im Stich lassen musste, und er bat mich, alles daran zu setzen, dass wir uns wieder versöhnen.«
»Und wieso sollten wir das tun?«
»Weil er möchte, dass wir etwas für ihn erledigen, so lange Syra jeden seiner Schritte überwacht.«
Selinia zog die Stirn kraus. »Er ist dir im Traum erschienen? Hat er mit dir gesprochen?«
Nickend stimmte ich zu. »Ja. Es geht ihm gut. Er wollte mir damit klarmachen, dass er nicht so weit fort ist, wie wir gedacht haben.«
Ich musterte sie lange. Wut bildete noch immer den größten Teil ihres Ausdrucks. Aber in ihrer Aura veränderte sich etwas, während ich sprach. Ich konnte den Zorn darin langsam abklingen sehen und je weiter er schwand, desto mehr öffnete sich ihr Geist für meine übersinnlichen Fähigkeiten. Ich umschloss sie mit meinem Bewusstsein, versuchte ihr aufzuzeigen, wie ernst ich es meinte, und wie viel Überwindung es mich gekostet hatte, herzukommen.
»Woher weißt du, dass er es wirklich war? Du hast dich schon einmal geirrt.«
»Ich habe in seine Seele gesehen und ihn erkannt.« Ich seufze. »Meine Augen kann man täuschen, aber nicht meinen Instinkt. Ich würde Karon immer erkennen. Wir sind immerhin miteinander verbunden. Aber er hat mich daran erinnert, dass wir alles sind, was wir haben. Bitte verzeih mir, dass ich dich nicht eingeweiht habe. Es war falsch und wird nicht wieder vorkommen.«
Sie sah mich wortlos an.
»Es tut mir wahnsinnig leid«, fügte ich hinzu. »Ich kann nicht ungeschehen machen, was geschehen ist, aber ich kann Karon diesen Wunsch erfüllen. Ich muss. Ich schulde ihm diesen Dienst.«
»Also schön«, erwiderte sie kühl. »Um was hat er dich gebeten?«
»Er sagte, ich muss einen Mann namens Eerin aufsuchen, und ihn in seinem Namen um Vergebung bitten.« Als ich sah, wie die Fee bleich wurde und ihre Kinnlade hinunterklappte, fügte ich rasch: »Es ist ihm wichtig«, hinzu. »Karon glaubt, er wird eine ganze Weile bei Syra bleiben müssen, und er setzt alles daran, ihre Seele zu retten, und damit auch sich selbst.« Als Selinia wankend zurückwich und sich schwer auf ihr Bett sinken lassen musste, hastete ich zu ihr. »Was ist los?«
»Was hast du gesagt..?«
»Karon hatte den Entschluss, sie-«
»Ich meine das Andere, Erias!«
Nach kurzer Überlegung sagte ich langsam: »Er bat mich, einen Mann namens Eerin aufzusuchen und in seinem Namen um Vergebung zu bitten. Karon sagt, er hat ihm etwas Furchtbares angetan und will diese Schande aus dem Weg räumen. Kennst du ihn etwa?«
»Flüchtig.« Ihr Gesicht verlor zum zweiten Mal die Farbe. Sie verschränkte die Hände ineinander, um ihnen irgendetwas zu tun zu geben, und senkte betreten den Blick, um meinen nicht erwidern zu müssen. »Wie kann Karon so etwas von dir verlangen?«
»Ich habe ihn in Syras Arme getrieben«, erinnerte ich sie mürrisch. »Ich würde alles tun, damit er mir verzeiht.«
»Aber das?« Sie flüchtete sich in ein bitteres Lächeln. »Du weißt nicht, was dich erwartet. Du kennst Eerin nicht.«
»Er will außerdem, dass du mich begleitest«, erwiderte ich rasch. »Karon will, dass du mit mir gehst. Ohne dich komme ich doch nicht weit in dieser verwirrenden Welt. Ich weiß nicht einmal, ob ich alleine das Amulett benutzen kann, das er mir gegeben hat.«
Sie hob den Blick. Ich wartete, aber das Erwachen darin blieb fern. »Ich kann auf keinen Fall mit dir gehen«, erwiderte sie plötzlich entschieden und stand auf. »Karon weiß genau, dass ich das nicht tun kann! Wie kann er so etwas nur von mir verlangen?!«
Ich verstand ihre Gefühle nicht, aber ich spürte ihnen nach und fand am Grunde ihres Herzens ein seltsames Gemisch aus Entrüstung, Trauer und Sorge. Etwas, dass ich angesichts dessen, um was Karon uns bat, nicht ganz verstehen konnte. Es sei denn, sie wusste etwas, das mir der Dämon verschwiegen hatte. Wieder einmal.
»Was weißt du über Eerin?«, hakte ich nach und erhob mich ebenfalls. »Und vor allem.. verzeihst du mir denn?«
Sie drehte sich zu mir herum, legte zwei Zeigefinger an ihre Lippen und nickte dann ein wenig. »Versprich mir nur, mich nicht mehr auszuschließen. Weder jetzt, noch in Zukunft.«
Ich lächelte. »Natürlich.«
Mit ihr versöhnt zu sein, schob die grauen Wolken von meinem Gedankenhimmel fort. In den letzten Tagen hatte mich das Schweigen beinahe mehr belastet, als die Schuldgefühle, die ich mir selbst einredete. Erleichterung flutete meine Lungenflügel. Ich konnte nicht aufhören, zu lächeln. Sie war schön und gütig, und ich wusste, auf sie konnte ich immer zählen. Umso weniger verstand ich nun, weshalb ich ihr nichts von dem Brief erzählt hatte.
»Weißt du, was zwischen Eerin und Karon vorgefallen ist?«, fragte ich. »Wer ist dieser Mann?«
»Kein Mann, ein Zer.« Die Düsterfee schaute mich an, musterte mich abschätzend von Kopf bis Fuß. Doch als ich nicht fragte, fuhr sie direkt mit der Erklärung fort. »Ein Himmelsblut. Ein Wesen aus meiner Welt, aber viel reiner und heller als das Feenvolk. Er ist unsterblich und verfügt über große Fähigkeiten. Vor vielen Jahren hat er an Karons Seite gekämpft. Sie waren Freunde und haben einander vertraut.«
»Wie kommt es, dass er nie von ihm gesprochen hat?«
»Ihre Geschichte nahm ein tragisches Ende, als Karon der Dunkelheit verfiel. Ich sagte dir doch, es waren gefährliche Zeiten damals.« Ihre Stimme bröckelte. Ich fühlte ihre Gedanken in die Vergangenheit wandern und dort Bilder auf ihre Netzhaut malen. »Sie begegneten sich in der letzten großen Schlacht vor den Toren des Königreichs Nea. Syra pflegt seit jeher den geheimen Wunsch, eine Welt zu schaffen, in der alle Dämonen, Menschen und Schattenblüter gleich sind. In der man als Dämon unter Menschen wandeln kann, ohne geächtet und ausgestoßen zu sein. Für dieses Vorhaben tauchte sie Theremal in das Blut derer, die sich ihr in den Weg stellten. Und Karon half ihr. Zunächst freiwillig, und als er nicht mehr wollte, wegen des Schwurs. Syra wollte diesmal ein Zeichen setzen und niemanden verschonen. Egal ob Frauen, Kinder oder Greise - alle sollten sterben. Also schickte sie den Mann, dem sie mehr als allen anderen traute. Karon. Sie waren dem Feind zahlenmäßig überlegen und doch kämpften Eerins Männer wie Tiger. Als kein Krieger mehr stand, und niemand mehr lebte, waren nur noch Eerin und Karon übrig. Himmelsblüter leben lange und es ist schwer, sie zu töten, aber es ist möglich. Da Zeren zwar robust und stark sind, aber keinerlei Magie besitzen, hatte Eerin keine Chance.«
»Karon hat versucht, ihn zu umzubringen«, vermutete ich kleinlaut.
Aber Selinia schüttelte den Kopf. »Er hat sein Leben gerettet und sich dafür eines verbotenen Zaubers bedient. Eerin fiel auf diesem Schlachtfeld. Er verlor alles und beinahe auch sein Leben. Der Zauber, den Karon anwandte, verbrannte seine Flügel und seine Unsterblichkeit und ließ Eerin halbtot und gefallen zurück. Karon hat ihm alles genommen, was er besaß, und ihm nicht mehr und nicht weniger als ein einziges, sterbliches Leben gelassen. Danach ging der Zauber verloren. Karon brachte Syra Eerins verbrannte Flügel und verschwand kurz darauf.« Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Wie willst du so einen Mann um Vergebung bitten? Karon hat diesen Plan nicht bis zum Ende durchdacht. Du kannst nicht einfach dorthin marschieren, und ihm sagen, dass es dir leidtut. Eerin schneidet dir die Kehle durch, oder Schlimmeres.«
»Ich vertraue ihm«, unterbrach ich sie. »Karon weiß, was er tut. Er würde uns nicht leichtfertig einer solchen Gefahr aussetzen, wenn es nicht unbedingt notwendig wäre. Und er ist immer bei mir. Irgendwie.«
»Du kennst Eerin nicht. Du weißt nicht, wie verzweifelt er ist, und zu welchen Taten er sich hingerissen fühlen könnte. Er und Karon sind keine Freunde mehr. Und er wird dich nicht mit offenen Armen empfangen.«
»Ich muss es dennoch tun.«
»Dann«, murmelte sie, »wäre es besser, ich würde mit dir gehen.«
»Als Freundin?«
»Wenn du mich nochmals um Verzeihung bittest«, erwiderte die Fee sanft, »vielleicht sogar als Freundin.«
Sie wandte sich ab und stürmte auf die Tür zu. Ich fuhr herum, folgte ihr mit den Augen. »Wie oft muss ich mich entschuldigen, bis du mir nicht mehr böse bist?«, rief ich ihr nach.
Ich hörte sie von draußen lachen. »Bis ans Ende deines Lebens, Königssohn! Feen sind sehr, sehr nachtragend!«