»Karon gab mir diesen Zauber, damit ich jederzeit wusste, er konnte mir nicht mehr gefährlich werden. Er übergab ihn mir als Wiedergutmachung, das weiß ich heute.« Eerin schmunzelte. »Ich werde euch jetzt losbinden und dir im Anschluss dieses Kästchen aushändigen, Junge. Das«, sagte er entschieden, »ist, was Karon in diesem Augenblick am meisten haben will.«
Er stellte die kleine Kiste auf der Truhe ab, hob das Messer, das er noch immer in der Hand hielt und kam auf Selinia und mich zu. Obwohl er uns vorgewarnt hatte, kniff ich erschrocken die Augen zusammen, als ich das Messer auf mich zukommen sah. Ich hielt den Atem an, versteifte mich, aber nichts geschah. Erst, als ich die Augen wieder öffnen konnte, sah ich, dass er tatsächlich nur Selinias und meine Fesseln durchgeschnitten hatte. Rasch tauschten sie und ich einen erleichterten Blick und fielen uns dann flüchtig in die Arme.
Die Wut der vergangenen Tage, über all die Dummheiten und Fehler, die wir begangen hatten, stand nicht länger zwischen uns. Diese kurze, aber intensive Umarmung befreite uns von allen Negativgefühlen, mit denen wir unsere Freundschaft belastet hatten.
»Hier.«
Ich schaute über ihre Schulter hinweg auf das Kästchen, das Eerin mir anreichte, und zögerte noch immer davor, es anzufassen. Was geschah mit mir, wenn ich es berührte? War ich in der Lage dazu, all den Schmerz wahrzunehmen, den dieser Zauber verursacht hatte? Belastete ich mich mit unzähligen Sorgen, wenn ich es tat?
»Ich..«
»Keine Sorge, er tut dir nichts, wenn du ihn berührst. Nimm ihn, aber lies ihn nicht. Schau ihn nicht an. Niemals«, fügte der Zer hinzu, als hätte er die Sorge in meinen Augen gelesen und instinktiv richtig gedeutet. »Dieser Zauber ist für deine Augen genauso wenig bestimmt, wie für meine. Aber ein Whyndrir ist mit Sicherheit in der Lage dazu, auch dieser dunklen Magie etwas Gutes abzugewinnen.« Ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen. »Und nebenbei.. ein Whyndrir? Was hat er sich dabei gedacht?«
»Er wollte Syra entkommen«, antwortete Selinia an meiner Stelle und löste sich von mir. Beschämt strich sie ihr Kleid glatt und vermied es sorgfältig, den Zer anzusehen. »Um jeden Preis. Dieser Weg hat ihn befreit und verändert. Erias hat Schatten gesehen, die sein Licht trüben. Wir hegen den Verdacht, dass sich Karon seiner neuen Kräfte noch nicht bewusst ist, und sie möglicherweise ein Risiko für ihn darstellen.«
»Und jetzt ist er Syra in die Hände gefallen«, schlussfolgerte Eerin nachdenklich. »Ich verstehe eure Bedenken. Ich bin in meinem Leben schon einmal einem Whyndrir begegnet. Viele haben das Ritual abgebrochen.«
»Wie ist so etwas möglich? Karon sagte, man kann es nicht rückgängig machen.«
»Doch, man kann. Aber man sollte nicht. Die Gesetze der Magie verlangen unentwegt nach einem Gleichgewicht. Rettet Magie ein Leben, nimmt sie ein anderes. Heilt sie dir eine Wunde, wird ein Anderer verletzt. Ein Bestreben nach Gleichgewicht, immer und überall. Ein Whyndrir folgt diesen Gesetzen nicht. Karon ist nur an sein eigenes Herz gebunden. In der Zwischenzeit haben seine Taten auf die Gesetze der Magie keinerlei Einfluss. Wird das Ritual umgekehrt, werden ihn alle Folgen seines Handelns einholen. Es ist nicht klug, sich mit so dunklen Mächten einzulassen. Aber es gab genug Whyndrirs, denen es gelungen ist, in ihr altes Leben zurückzukehren - mit neugewonnenen Kräften und neuer Stärke. Natürlich lässt sich das Ganze nur anfangs umkehren. Bevor der Dämon, der unter dem Whyndrir-Fluch steckt, seine Menschlichkeit ablegt.«
Ich fühlte mich getroffen. Von einem Pfeil aus Eis unmittelbar in mein Herz. »Seine Menschlichkeit ablegen?«
»Das ist der schwerste und letzte Schritt. Ein Whyndrir muss, wenn der Zeitpunkt kommt, die schwerste aller Entscheidungen treffen. Die, ob er leben, oder sein will. Dieser Zauber«, sagte er und deutete auf die Kiste in seinen Fingern, »wird ihm immer die Wahl lassen und die Kraft geben, den Fluch zu zerstören.«
Selinia trat an meine Seite. Ganz langsam ging sie an mir vorüber, streckte die Hände aus, und nahm dem Zer das Behältnis aus der Hand. Er nickte ihr zu, und zum ersten Mal sahen sie einander frei und ohne Reue an. Ich sah sogar ein kleines Lächeln auf den Lippen der Düsterfee. »Es tut mir so leid, was dieser Zauber dir angetan hat.«
»Manchmal können wir nicht alles haben«, erwiderte Eerin.
Er schien sich auf den Zauber und seine Kriegsverletzung zu beziehen, aber meine sensiblen Instinkte fühlten deutlich, wie sehr seine Aussage auf Selinia gemünzt war. Ich bemerkte schweren Herzens, wie tief und innig er sie musterte und wie sich ein Stein auf meine Brust legte. Wieso störte es mich? Wieso verursachte mir dieses Wiedersehen Krämpfe? Weshalb konnte ich ihnen das Glück, das ihnen wiederfuhr, nicht von Herzen gönnen?
»Wofür kann Karon diesen Zauber haben wollen?«, flüsterte ich. Ich wählte bewusst eine Frage, die sie entzweite, und empfand plötzlich eine tiefe Abscheu für mich. Doch als ich sah, wie sich Selinia von dem Krieger abwandte und mit dem Kästchen in der Hand zu mir herüberkam, fühlte es sich richtig an.
»Als er mir den Spruch übergab, sagte er, wer diesen Zauber in Händen hält, und über die Macht verfügt, ihn aufzusagen, kann Magie in jeder Form zerstören. Ich mache mir Sorgen. Ganz gleich, wie schlecht es ihm ging, wie sehr er unter Syras Bann gelitten hat, er hat mich nie darum gebeten, den Zauber herauszugeben. Dass er es jetzt tut, bereitet mir Kopfschmerzen. Dieser Spruch ist alt und böse. Er steckt voller dunkler Magie, und sollte zerstört werden. Was kann ein Whyndrir, der ohnehin über nahezu unüberwindbare Kräfte verfügt, mit einem so gefährlichen Zauberspruch anfangen wollen?«
Ich wusste es nicht. Hatte ich mich vielleicht doch geirrt, und hinter Karons Mission, steckte nicht mehr, als ein Versuch, seinen Namen reinzuwaschen? Wollt er den Zauber gar nicht haben? Wollte Eerin ihn vielleicht nur loswerden, um nicht mit jedem neuen Tag wieder an seine Schmach erinnert zu werden?
Eine Katze maunzte, erregte meine Aufmerksamkeit und lenkte mich kurzzeitig von all meinen Sorgen und Gedanken ab. Ich sah sie um mein Bein streichen, und ihr Körper verfestigte sich, schien greifbar und wirklicher zu werden. Ihr Fell war orangerot, mit dunkleren, braunen Streifen versetzt. Sie schaute auf und ihre grünen Augen blitzten. Dann war sie fort.
»Stör dich nicht an ihnen«, wies Eerin mich an. Ein Grinsen verdrängte die Bitterkeit in seinem Gesicht. »Meine Schattenkatzen sind nützlich und klug. Tharlea, die Rote, weigert sich seit Tagen, ihren Nachwuchs zur Welt zu bringen. Sie sind sehr sensibel und warnen mich vor drohender Gefahr. Ich wusste, ihr würdet kommen. Ihr oder jemand anders. Jetzt wird sie gehen, und ihre Jungen gebären.« Er verschränkte die Arme. »Sie warnen mich vor dem Erscheinen einer bösen Präsenz oder etwas Fremden.«
»Bist du in Gefahr?«, platzte Selinia heraus. »Wer-«
»Meine Männer und ich sind die, die Syras Heer bekämpfen. Wir sind alles, was vom Widerstand des stolzen Reiches Nea geblieben ist. Alles, was zwischen Syra und der Krone steht. Wir sind immerzu in Gefahr.«
Ich seufzte. »Syra gab Karon ihr Wort, dass niemand verletzt wird, der ihm etwas bedeutet. Solange er in ihrer Nähe bleibt und nach ihren Regeln spielt. Ich glaube nicht, dass sie euch angreifen wird. Karons Forderungen waren sehr deutlich. Er wird es nicht zulassen.«
»Karons Einfluss auf Syras Taten war schon immer kleiner als sein Mundwerk. Er hat viel geredet, und viel öfter die Augen vor der Wahrheit verschlossen. Wenn Syra einen Kampf führen will, wird sie ihn nicht erst um Erlaubnis fragen. Hat sie nie.«
Ich schluckte. Der Gedanke, dass diese grausame, kalte Frau, meinen liebsten Freund unter ihre Fittiche nehmen und mehr und mehr unterdrücken konnte, erschien mir bizarr. Bei unserer Begegnung auf der Lichtung hatte ich das Gefühl gehabt, egal wie viel Druck Syra auf Karon ausübte, der Zwang, der hinter ihr stand, war größer.
»Ich habe ein seltsames Gefühl dabei, aber ich muss dich fragen«, gestand ich. »Deswegen kam ich her. Kannst du Karon vergeben?«
»Ich habe ihm schon sehr lange sagen wollen, dass es mir schwergefallen ist, die Rachegelüste zu bekämpfen. Aber ich konnte es. Ich kann ihm wohl niemals vergeben, dass er mich verkrüppelt hat, aber ich wünsche ihm nichts Böses. Ich hoffe sehr, er schafft es noch einmal, Syra zu entkommen. Ehrlich. Ist dir das Antwort genug?«
Er sagte die Wahrheit. Seine verborgenen Gefühle verrieten ihn.
»Danke. Dann können wir jetzt gehen.« Hoffnungsvoll wandte ich mich Selinia zu. Sie nickte unbeholfen.
»Oder ihr bleibt noch eine Weile«, schlug der Zer vor. »Als meine Gäste. Wir hatten lange keinen Grund zum Feiern mehr. Ein Wiedersehen nach so vielen Jahren und ein neugewonnener Verbündeter scheint mir ein guter Grund zur Freude zu sein.«
Als ich abermals zu Selinia sah, eröffnete mir ein seltsames Funkeln in ihrem Blick, das sie genau das wollte. Ich nickte langsam, träge, aber mein Herz fühlte sich schwer an. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, noch eine wichtige Person in meinem Leben zu verlieren.