Vor uns prasselte ein Feuer, das weithin sichtbar war. Flammen leckten zum pechschwarzen Himmelszelt hinauf. Der Mond verbarg sich hinter Wolken.
Ich saß seit Stunden stumm am Feuer, blickte abwechselnd in die Gesichter der Krieger, die Eerin in seinem Kampf gegen Syras Tyrannei unterstützten, und zu Selinia hin. Sie saß alleine gegenüber von mir. Ich wollte zu ihr gehen, den Arm um sie legen und sie wissen lassen, dass ich ihr zuhören konnte, wenn sie etwas belastete. Aber aus irgendeinem Grund wirkten die Flammen zwischen uns wie ein Krater auf mich, den ich ohne Hilfe niemals überwinden konnte. Ich fühlte sie nah und fern zugleich. Als hätte Eerins Erscheinen etwas Grundlegendes verändert.
Mit zusammengekniffenen Augen spähte ich durch die Flammen, dem Zer entgegen. Er saß zwischen zweien seiner Krieger und trank, und lachte. Von der Schwere, die seine Seele innerhalb des Zeltes gezeichnet hatte, war nicht viel geblieben. Hier, im Kreise derer, denen er traute, und die seine Freunde geworden waren, fühlte er sich frei.
Ich tastete nach seinem Geist und fand ihn. Er wirkte losgelöst, frei. Mein Blick schwirrte nach rechts. Zu Selinia hin. Auch ihr Bewusstsein öffnete sich mir willenlos. Ich bemerkte, wie sie wieder und wieder zur Seite schaute. Zu ihm. Aber wann immer er zurückblickte, wandte sie den Kopf und schaute fort. Es schmerzte. Wieso tat es so weh, sie zu sehen? Zu wissen, dass noch immer etwas zwischen ihnen existierte, dem ich nie gewachsen sein würde?
Ich hielt den Atem an. Mein Leben war einsam gewesen. Nie war ich mit Dingen und Gefühlen konfrontiert worden, die neu waren. Ich kannte sie alle. Ich kannte Wut, noch ehe ich zum ersten Mal selbst zornig geworden war. Ich wusste, wie sich Hunger anfühlte, obwohl ich immer genug zu essen hatte, und ich kannte die Liebe, obwohl ich selbst nie geliebt hatte. Aber dieses Gefühl, dieser Schrecken über Selinias Faszination dem Zer gegenüber, war mir unbekannt. Ich wusste schon länger, dass ich ihre Nähe schätzte, dass ich sie mochte, sie mir guttat und viel bedeutete. Aber wieso? Wieso tat es weh, wenn sich ihre Augen Eerin zuwandten? Wieso kümmerte es mich, ob er etwas für sie bedeutete oder nicht?
Wieso...?
Ich seufzte. Ich war eifersüchtig. Zum ersten Mal in meinem Leben besaß ein Mann, den ich eigentlich gar nicht kannte etwas, das ich mehr haben wollte, als alles andere auf dieser Welt. Eerin hatte alles verloren, und doch erschien er mir sehr viel reicher als jedes andere Geschöpf. Er besaß das einzige Herz, das mein sein sollte.
Als ich aufsah, bemerkte ich, dass die Fee mich anschaute. Ich wollte fortblicken, aber Selinia stand mit einem Lächeln auf, tänzelte leichtfüßig um das Feuer herum und setzte sich an meine Seite. Ich fühlte ein Stechen in meiner Brust. War ich wütend auf sie? Wütend, weil sie froh darüber war, einen Mann wiederzusehen, den sie geliebt hatte? War ich wütend auf sie, weil sie sich in diesem Moment glücklich fühlte, obwohl ich so traurig war und es Karon so schlecht ging?
Nein. Die Antwort war simpel und erschreckend zugleich. Ich war schlichtweg sauer auf mich selbst, dass ich all die Chancen, die mir das Schicksal zugespielt hatte, nie genutzt hatte, um ihr zu sagen, dass ich sie mochte. Dass sie im Augenblick die wichtigste Person in meinem Leben war.
»Du siehst nachdenklich aus«, raunte sie mir zu. Ihr Arm rieb an meinem, als sie die Hände um ihre angewinkelten Knie schlang. »Dabei bist du der Held des Tages. Du hast getan, worum Karon dich gebeten hat. Du hast ihm Frieden geschenkt, und Eerin einen Augenblick Glück beschert.«
»Und dir«, fügte ich hinzu, und hätte mich ohrfeigen können, für mein kindisches Verhalten.
Doch an Stelle einer schnippischen Antwort, lächelte die Fee nur. »Erias, Eerin war vor langer Zeit der Mittelpunkt meines Lebens. Als wir auseinandergingen, war ich am Boden zerstört. Ich wandte mich den Menschen und dem sterblichen Leben zu, und habe einen Teil meines Glücks für immer hier zurückgelassen. Als ich davon hörte, wie schwer Karon ihn verwundet hatte, wollte ich zurückkehren. Ich wollte ihn finden und für ihn da sein, aber meine Schuldgefühle haben mich davon abgehalten. Karon war mein Freund, und ich habe nicht versucht, ihn aufzuhalten. Ich verspielte die einzige Chance, Eerin aufrichtig in die Augen sehen zu können.«
»Du hast nicht ausgesehen, als wärst du voller Reue, als du ihn am Wasserfall angestarrt hast.«
Was stimmte nur nicht mit mir? Wo kamen der Frust und die Enttäuschung her? Wieso empfand ich so ungerechte Dinge, nur weil sie und er sich wiedergefunden hatten? Natürlich wusste ich, dass sie einander etwas bedeuteten. Aber ihre Liebe lag lange zurück. Wieso kümmerte es mich?
Die Antwort lag auf der Hand, aber sie auszusprechen, oder nur bewusst zu denken, ließ mich erschaudern. Ich schob den Gedanken unendlich weit von mir fort, hob die Hände und fuhr mir durchs Gesicht. »Tut mir leid«, ließ ich sie wissen. »Das war ein schwerer Tag. Ach was, es war eine harte Woche, und ich bin müde und traurig.«
»Du hast Angst«, schlussfolgerte sie. Ihr Lächeln wurde milder, und verschwand schließlich ganz. Sie hob die Finger, strich mir die Haare aus dem Gesicht und schaute mich lange mit schiefgeneigtem Kopf an. »Wovor fürchtest du dich? Vor Syra? Vor dem Zauber? Karon hatte schon oft die Gelegenheit dazu, ihn anzuwenden, aber er hat es nie getan. Du glaubst doch nicht, dass er jetzt darüber nachdenkt, oder?«
Kopfschüttelnd entwand ich ihr meinen Blick. »Natürlich nicht«, murmelte ich, obwohl es gelogen war. Natürlich beschäftigte mich dieser Gedanke. Hatte Eerin recht, und eigentlich war ich nur hier um diesen Zauber zu holen? Hätte mir Karon dann nicht von ihm erzählen müssen? Wieso spielte das Schattenblut ein so grausames Spiel mit mir? »Ich vermisse ihn einfach nur.«
»Ich auch.«
»Das ist etwas anderes«, wehrte ich ab. »Du hast deine Familie, zu der du zurückkehren kannst. Du kannst zu den Mönchen zurückgehen und deinen Frieden finden. Du könntest sogar bei Eerin bleiben und das große Glück finden. Aber ich..« Ich seufzte. »Ich habe, wenn ich die pflichtbewussten Mönche abziehe, die mich auf Wunsch meines namenhaften Vaters versteckt haben, niemanden, der übrig bleibt.«
Ich biss mir auf die Unterlippe und zwang mich, die Wahrheit nicht auszusprechen. Ich wusste nicht, ob Karon je zurückkehren würde. Und niemand konnte mir sagen, ob ich ihn je wiedersehen würde.
»Aber ich gehe doch nicht weg«, sagte Selinia überrascht. Ihr Blick flog an meinem Gesicht vorüber, zu Eerin hin, und da erkannte sie endlich meine Bedenken. »Oh!«, stieß sie hervor. »Erias, ich bleibe doch nicht hier! Ich könnte niemals wieder zu Eerin zurückkehren, nachdem wir uns so unfassbar weh getan haben.«
»Er würde dir verzeihen.«
»Aber niemals könnte ich mir selbst verzeihen. Und was Karon angeht..«
»Er ist weg.«
»Er kommt zurück.«
»Das weißt du nicht.«
Sie blinzelte, drehte den Kopf und starrte in die Flammen vor sich. »Ich habe gar nicht gewusst, dass du dich so einsam fühlst.«
Natürlich nicht. Wie auch? Ich sprach ja niemals über meine eigenen Gefühle. Obwohl ich die der Anderen immerzu kannte, und verstehen konnte, waren mir meine eigenen fremd geworden.
Mein Blick folgte ihr ins Innere des Feuers. Asche stieg empor. Es knisterte verspielt. »Ich auch nicht«, gestand ich ihr entmutigt. »Als Karon und du in mein Leben getreten seid, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, Zuhause angekommen zu sein.«
»Wir sind dein Zuhause.«
»Karon kommt nicht wieder. Irgendeine dunkle Macht wohnte diesem Ritual inne, und jetzt ist es seine Bürde, damit fertigzuwerden. Und wie stellt man sich einem Feind, den man nicht sehen kann? Wie bekämpft man etwas, das in einem drin ist?«
»Wieso zweifelst du auf einmal so an ihm?«
Ja, wieso eigentlich? Was hatte sich seit unserer ersten Begegnung verändert? Damals hatte ich ihn für ein seelenloses, finsteres Wesen gehalten. Eine Kreatur der Schattenwelt. Als ich ihn dann kennenlernen durfte, war er mein Freund geworden. Seine Geschichte hatte mir Mut gemacht, hatte mich glauben lassen, man könne alles erreichen, wenn man mutig genug war, neue Wege zu gehen. Ich hatte ihn in mein Herz geschlossen. Nicht nur, weil er die Verbindung zwischen mir und meiner Familie war, sondern auch weil ich ihn mochte. Ich respektierte ihn wegen der vielen Fehler, die er gemacht und wieder ausgeglichen hatte und wegen der Entscheidungen, die sein Leben prägten. Und dann hatte ich zusehen müssen, wie er selbst diese neue Welt zum Einsturz brachte. Durch ihn erfuhr ich, wie nahe Glück und Verzweiflung beieinanderlagen, und wie wenig Einfluss wir auf die Zukunft hatten. Wo war das Glück, an das ich anfangs glauben wollte? Wo blieb der Frieden, nach dem wir uns alle sehnten?
Und nun, nachdem er wieder bei Syra war, schien sich alles zu wiederholen. Mit dem Unterschied, dass ich Karon eine Superwaffe aushändigen würde, die nahezu jede Form der Magie zerstören konnte. Ich fühlte es. Ich wusste es, seit ich das Kästchen berührt hatte. Dieser Zauber war böse. Sein Naturell war finster und gefährlich, und wenn er auf Magie stieß, zerstörte er sie. Und ich würde Karon diese Macht geben, wenn er mich darum bat.
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich ihr. »Vielleicht habe ich einfach nur den Verstand verloren.«
»Oder mit dir ist alles in Ordnung, und du bist einfach traurig darüber, dass dein Freund fort ist.« Mit einem Zwinkern packte Selinia beherzt zu, schlang ihren Arm um mich und bettete den Kopf auf meine Schulter. Mein Herz schlug höher, aber sie ignorierte es, schloss einfach die Augen und atmete ruhiger. »Es ist in Ordnung, wenn du wütend bist.«
»Und denkst du, es ist richtig, ihm den Spruch auszuhändigen?«
»Ich glaube, diese Entscheidung liegt nicht bei uns.«
Ihr Atem streifte meine Wange. Ich hatte mir gewünscht, sie würde mir heute Abend nahe sein und meine Seele dort trösten, wo sie es am nötigsten hatte. Aber was ich empfand, war anders. Reifer. Ich wollte nicht mehr wütend, nicht mehr traurig oder eifersüchtig sein. Ich wollte ihr helfen, wieder glücklich zu sein. Und mir auch.
Also schloss ich die Augen, hob die Hand, und wollte ihr über den Kopf streicheln, als Schritte hinter uns laut wurden. »Ihr habt noch nicht ein Glas Wein getrunken!«, rief eine Stimme. Eine Hand bettete sich schwer auf meine Schulter, rüttelte an mir und brachte Selinia dazu, sich wieder von mir zu lösen. Aber es fühlte sich an, als läge ihr Kopf noch immer an meinem Hals. »Hey!«
Als ich aufsah, stand Khel hinter uns. Der dunkelhaarige Krieger aus dem Zelt. In seinen Fingern schwappte ein Krug aus Ton über. Wein perlte über seine Finger. Er grinste und entblößte eine Zahnlücke, dort, wo sein Schneidezahn hätte sein sollen. »Ich trinke nicht«, erwiderte ich rasch.
Aber er ignorierte meinen Einwand, beugte sich herab und presste mir den Krug in die Hand. »Ein Mann«, murmelte er, und kam meinem Gesicht so nahe, dass ich seinen Atem heiß auf meiner Wange fühlen konnte, »trinkt Wein, wenn er gut ist.«
Ich schaute Selinia an. Sie schmunzelte, zuckte die Achseln und sagte: »Ich fürchte, da musst du durch.«
Und dann nahm ich den ersten Schluck. Bitter rann das Gebräu meine Kehle hinab. Wärme breitete sich in mir aus. Ich verzog das Gesicht und wollte den Krug abstellen, als auch Eerin zu uns kam, seinerseits seinen Krug hob und gegen meinen stieß, dass dieser fast zerbrach. »Auf Freundschaft!«, brüllte er laut und ungehobelt in den Nachthimmel. »Auf alte Freunde und neue Bündnisse! Auf die Freiheit!« Jedes Wort betonte er, indem er den Krug über seinen Kopf hob und dem Himmel entgegen streckte. »Auf das Leben!«
Die übrigen Männer stimmten laut in sein Rufen ein, hoben ihre Becher und tranken. Ich wusste nicht viel über das Leben und den Zusammenhalt, aber in diesem Augenblick schien es gleichgültig, was wir taten. Wir waren hier. Wir waren ein Teil von ihnen. Jetzt gerade gehörten wir zum Widerstand. Wir aßen mit ihnen, tranken mit ihnen und teilten mit ihnen ein Feuer. Ich streckte meinen Geist aus und berührte den jedes einzelnen Wesens in meiner Nähe. Es fühlte sich an, als wären sie ein einziges Wesen. Nur eine Person. Ihre Gedanken und Gefühle waren eins. Sie waren verbunden, bis in den Tod.
Ehrfürchtig hob ich den Krug und nahm einen zweiten und einen dritten Schluck. Meine Gedanken begannen, sich zu drehen. Hitze schoss meine Kehle hinunter und in meine Wangen. Ich errötete, fühlte, wie meine Augen glasig wurden und mein Herz schneller schlug. So schnell wie ihre.
Ich schaute Selinia an. Sie fühlte genauso.
Plötzlich packte mich Khel. Er zog mich auf die Füße, riss mich herum und lachte. »Wie alt bist du, Junge?«
»Siebzehn«, erwiderte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. Er wollte mir nicht wehtun. Er war einfach von Natur aus grob und unbeholfen.
»Siebzehn!«, rief er aus. Die Männer am Feuer lachten. »Meine Güte! In deinem Alter stand ich bereits mit dem Schwert in der Hand auf dem Schlachtfeld und-«
Eerin rollte mit den Augen. Er versetzte Khel einen Stoß, der ihn von mir wegbeförderte, lachte allerdings. »Entschuldige ihn, Erias. Er meint es nicht böse. Er ist nur.. ein dämlicher, nichtsnutziger Klotz!« Die letzten Worte rief er so laut aus, dass Khel abwehrend den Arm hob und sich grunzend umwandte. Er schaute mir fest in die Augen und ich spürte, wie sich Wut in mir breitmachte. Nicht wegen dem, was vorgefallen war, sondern wegen seiner Nettigkeit. Störte es mich tatsächlich, dass er freundlich zu mir war? »Hast du schon mal eine Waffe in der Hand gehalten?«, fragte er mich.
»Nein. Ich bin am sichersten Ort der Welt aufgewachsen. Ich brauchte nie kämpfen.«
»Und würdest du dich gerne an einer versuchen?« Eerin deutete ein Nicken zu seinem Zelt hin an. Dem Letzten, das vom Feuerschein ein wenig berührt wurde. »Ich könnte es dir zeigen. Wenn ich dich ansehe, spüre ich große Wut in dir. Du bist verletzt worden, du bist traurig. Ich kann dir ein Ventil für all diese Gefühle aufzeigen.«
Auf meiner Unterlippe kauend dachte ich nach. Karon würde mir niemals eine Waffe geben. Nicht, weil er mir den Umgang mit ihr nicht zutrauen würde, aber er würde es dennoch niemals wagen. Denn wer eine Waffe besaß, der sollte bereit sein, sie zu nutzen. Und wenn ich eine Waffe nutzen wollte, machte mich das zu einem mordbereiten Seelenanker. Konnte ich seine Seele bewahren, wenn an meiner Blut klebte?
»Ich..«
»Erias, nicht«, schalt mich Selinia. »Karon würde das nicht wollen. Ich will es nicht.«
Aber mein Verstand war vom Wein schwer und träge geworden, und ich wusste, dass sie log. Ihr Herz schlug schneller, aber ihre Aura loderte auf vor Anspannung. Hatte Selinia sich damals nicht ebenfalls in einen Mann verliebt, der es liebte, mit Waffen zu spielen? Einen, der in den Krieg zog und jeden Tag bereit war, sein Leben zum Wohle Theremals zu lassen?
Ich blinzelte die Gedanken fort und nickte. »Es kann ja nicht schaden.«
Rasch schlang Eerin seinen Arm um meine Schulter und drehte mich fort. »Ich bringe ihn dir gesund und wohlbehalten zurück«, versprach er der Fee.
Aber Selinia schnaubte verächtlich. »Denkst du! Ich komme natürlich mit. So lange Karon fort ist, und ich allein für Erias verantwortlich bin, geht der Junge keinen Schritt ohne mich!«
Wie eine Glucke positionierte sie sich an meiner Seite, und plötzlich hatte ich das Gefühl, in einen Machtstreit hineingelangt zu sein, der schon länger brodelte, als ich bereits am Leben war. Zwischen den beiden kriselte es. Die letzte Auseinandersetzung hatte darin geendet, dass Eerin seine Sachen genommen hatte und fortgegangen war. Ich gestand mir ein, ich wäre nicht böse gewesen, wenn etwas sie wieder entzweien würde.
Eerin führte uns von den Feierlichkeiten fort. Die Zelte seiner Krieger bildeten abseits des Spektakels einen Halbkreis. Bäume zogen einen natürlichen Wall hinter ihnen. Zwei Männer, die den Festlichkeiten nicht beiwohnten, saßen an einem kleinen Lagerfeuer inmitten des Halbkreises. Als wir näherkamen, standen sie auf und zogen pflichtbewusst die Plane eines der Zelte zurück. Eerin war ihr unbestrittener Anführer, und auf seine Weise beinahe wie ein König für sie. Er regierte sie, war ihnen Freund und Vertrauter, aber ich spürte, wann immer er einen von ihnen ansah, dass sie für ein Wort von ihm in den Tod gehen würden.
Wir traten in das Zelt ein und das Schummerlicht einer auf dem Boden stehenden Öllampe ließ Schatten über Metall tanzen. Es gab eine Ecke, in der Schwerter lagen. Unzählige. Lange, kurze, mit breitem oder schmalem Griff, Einhänder und Zweihänder. Daneben befand sich ein Haufen seltsamer Schlagwaffen. Sogar ein Morgenstern lag dort, gespickt mit todbringenden Stahldornen. Meine Aufmerksamkeit jedoch richtete sich auf die Bögen und Köcher und die vielen Pfeile, die in Holzfässern lagerten, die entfernt noch immer nach Wein rochen.
»Also?«, fragte der Zer. »Was interessiert dich? Möchtest du ein Schwert halten? Es-«
»Kein Schwert!«, schritt Selinia ein. Sie schaute den Engel finster an und schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Karon bringt mich um, wenn ich Erias ein Schwert gebe.« Dann seufzte sie und fügte mehr zu sich, als an uns gewandt: »Aber wahrscheinlich tut er das sowieso«, hinzu.
Sie fürchtete sich davor, wie Karon reagieren würde, und ich verstand sie gut. Selbst mir war bewusst, wie wenig ihm dieser Gedanke gefallen würde, aber ich wollte. Ich wollte es so sehr. Ich wollte eine Waffe in meinen Händen halten, nur einmal stark anstatt klug sein.
»Die«, erwiderte ich. Wie von selbst hob sich meine Hand. Mein Zeigefinger wies auf die Bögen, und ich spürte, wie der Wein nachhaltig meine Sinne vernebelte. Ich hatte nur ein paar Schlücke getrunken, und trotzdem schien sich die Welt zu drehen.
Ich dachte an die Krieger der Zhian-Ag zurück, mit ihren Pfeilen und Bögen aus Gehölz, und an Syras Männer. Ihre Waffen hätten Karon niemals schaden können, aber er hatte sie so ehrfürchtig angeschaut, dass ich seinen Respekt vor ihnen nicht leugnen konnte.
Hinter mir schüttelte Selinia ungehalten den Kopf. Es kümmerte mich nicht. Ich schaute zu Eerin hin, der über ein paar Dolche hinweggestiegen war und wissend die Bögen musterte, bis ihm einer ins Auge fiel, den er für angemessen hielt. Er hob ihn auf. Es handelte sich um ein Stück aus hellem Holz. Die Bogensehne war gespannt. Sie schien zerreißen zu wollen, sobald man sie berührte.
»Hier.« Er drückte mir die Waffe in die Hand, packte einen Köcher, in dem sich drei Pfeile befanden und huschte aus dem Zelt hinaus.
Ich wollte ihm folgen, aber Selinia packte mich am Arm, hielt mich zurück. »Karon würde es überhaupt nicht gefallen, wenn er dich sehen könnte.«
»Wenn er mich sehen kann«, erwiderte ich erheitert, »dann soll er herkommen, und mich davon abhalten.«
»Das kann er nicht, weil er den Kopf für dich hingehalten hat!« Sie schnaubte. »Du bist betrunken, Erias. Wir sollten gehen.«
Ich schüttelte ihre Hand ab. »Nein. Ich will diese drei Schüsse!«
Mit diesen Worten ließ ich sie stehen, folgte Eerin aus dem Zelt. In diesem Moment spielte es keine sonderlich große Rolle für mich, ob ich etwas tat, das Karon gefiel oder nicht. Der Wein entfaltete sich in meinem Geist und machte mir schlagartig bewusst, wie wenig Einfluss all meine Taten auf den Verlauf der Welt hatten. Ob ich diese drei Pfeile nun abschoss oder nicht - nichts würde sich dadurch jemals ändern.