»Halt ihn so«, wies Eerin mich an. Der zupfte an mir herum, während ich den gespannten Bogen hielt, und glaubte, meine Arme würden unter dem Druck, der in ihm herrschte, brechen. Es tat weh. Jeder meiner Muskeln schmerzte. »Jetzt halt den Pfeil. Nicht so. So!«
Er positionierte den Pfeil mit den hübschen azurblauen Federn in meiner Hand. Ich versuchte, ihn festzuhalten, aber der Druck wollte meine Finger bersten lassen.
»Du musst durchhalten«, wies er mich an. »Spann die Sehne, so weit du kannst.«
Ich spannte, aber sie wollte sich kaum bewegen. Da war er wieder, dieser kleine, aber spürbare Hauch des Versagens. Ich kniff die Augen zusammen. Meine Gedanken tasteten nach allem, was sie zu Greifen bekamen und fanden Selinias verwirrte Gefühle. Wie ein Schwamm sog ich gierig ihre Gedanken und Emotionen auf, wandelte sie in Wut und Kraft um und spannte die Sehne, so weit ich konnte.
Ein kleines, unscheinbares Grinsen auf Eerins Lippen bestärkte mich darin, dass ich auf dem richtigen Weg war. Mit zitternden Fingern hielt ich den Pfeil. Ich hatte ein Ziel vor Augen. Ein Baum zwischen den Zelten, abseits, im Dunkeln. Ein einzelner Koloss, wertlos, ungeachtet.
»Konzentrier dich. Du musst den Pfeil in deinen Bewegungen spüren. Sei eins mit ihm. Er ist die Verlängerung deines Arms.«
Langsam wurde die Anstrengung unerträglich. Meine Muskeln zitterten unter meiner Haut. »So?«
»Ausgezeichnet!«, frohlockte der Zer. »Du scheinst ein Naturtalent zu sein. Jetzt, schau auf diesen Baum. Sieh nicht die Stelle an, die du treffen willst, sieh ihn im Ganzen. Sieh ihn als komplexes Wesen.«
Selinia rollte mit den Augen. »Schieß einfach auf den verdammten Baum und dann lass uns vergessen, dass dieser Augenblick je stattgefunden hat!«
Eerin schmunzelte. »Hör nicht auf sie. Sie fürchtet sich vor Gespenstern.« Dann drehte er sich ihr entgegen und rief: »Karon ist nicht hier. Entspann dich! Ich würde ihn niemals auf ein lebendes Ziel schießen lassen. Wir-«
In diesem Moment ließ ich los. Blitzschnell schoss der Pfeil durch die Luft. Er zwirbelte sich, drehte sich. Ich sah, wie sich seine ganze Gestalt im Flug verbog, dann traf er sein Ziel. Holz borst entzwei. Die Rinde des Baumes ächzte und gab unter dem Druck nach. Ich hatte den Baum getroffen. Zwar nicht an dem Punkt, den ich anvisiert hatte, aber den gleichen Baum, den ich auch hatte treffen wollen.
Ein Keuchen löste sich aus meiner Brust. Ich spürte die Blicke meiner Begleiter. Sie starrten mit offenen Mündern und seltsamen, undurchdringlichen Blicken zu mir hin. Als hätte ich gerade gesagt, dass ich ein drei Meter großer Zauberer mit Spitzhut wäre.
Eerin fand zuerst die Fassung wieder. »Meine Güte, du scheinst tatsächlich Potential zu haben. Du-«
»Das reicht!«, fuhr die Düsterfee dazwischen. »Rede ihm nicht ein, dass er zum Krieg berufen ist! Erias gehört nicht in deine Welt. Er ist weder brutal, noch grob, und er..« Sie zögerte. Ihr Blick fuhr in meine Richtung, und Bedauern machte sich darin breit. »Er ist doch nur ein Kind.«
Diesmal fand ich kein Wort, um meinen Schmerz zu beschreiben. Was sie sagte, tat weh. Es verletzte mich dort, wo mich Worte nicht verletzen dürften. Es tat weh. Es brannte wie Säure in meinen Adern. Ihre Worte rissen eine Mauer ein, die ich bislang weder wahrgenommen, noch fühlen konnte. Doch plötzlich schien sie aus dem Boden emporzuschießen und meine ganze Welt in Schatten zu hüllen.
Er ist nur ein Kind. Nur ein dummer Junge, den man beschützen und in die Schranken weisen muss. War ich das für sie? Nur ein Junge, auf den sie achten sollte, während Karon fort war?
Zorn übermannte nicht. Ich konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob aus mir der Wein oder der Schmerz sprach, aber irgendetwas drängte mich dazu, den zweiten Pfeil zu packen. Ich legte ihn an, umklammerte den Bogen so fest ich konnte und spannte die Sehne. Mit einem Mal war mir, als besäße ich Macht. Macht, die Dinge anders zu betrachten, mich freizumachen von meinem Kummer und meinen Zweifeln. All meinen Schmerz lud ich dem Pfeil in meiner Hand auf. Er berührte die Sehne. Ich spannte sie, fühlte, wie die Wut auf den Bogen übertragen wurde, und sah aus den Augenwinkeln ein fieses Grinsen Eerins Gesicht erhellen.
»Erias..«, murmelte Selinia.
Aber ihre Worte fühlten sich entfernt an. Als kämen sie aus einer anderen Zeit. Sie berührten mich nicht. Meine Finger bebten. Ich sog ganz langsam die feuerschwere Luft ein, kostete den Augenblick aus, in dem all meine Sehnen und Muskeln zu ächzen begannen, dann ließ ich los - und befreite mich von alledem. Ich ließ Selinias böse Worte fliegen. Sie vergingen. Sie waren nicht länger wichtig für mich.
Der Pfeil flog.
Seine Spitze durchschnitt die Abendluft, teilte sie. Ich sah ihn auf den Baum zurasen. Ob er den letzten Pfeil berühren würde? Oder ging er gar in eine ganz andere Richtung?
Ich schaute ihm nach. Aber dieser Pfeil traf den Baum nicht.
Etwas packte ihn, hielt ihn an Ort und Stelle fest, und dann sah ich, wie winzige Eiskristalle seine Oberfläche bedeckten, sich ausbreiteten und ihn in Eis einschlossen.
Mein Atem stockte. Ich blinzelte. Hinter mir wurde lauthals nach Luft geschnappt. Aber ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren als auf den Pfeil, der klirrend zu Boden fiel und in unzählige glänzende Splitter zerschellte.
»Wieso findet der Spaß immer ohne mich statt?«, erklang Stimme hinter mir.