Dort, wo Karons Füße den Boden berührten, gefror der Grund zu Eis. Schneeblumen breiteten sich über den Waldboden aus, fraßen sich tiefer ins Unterholz. Ich sah, wie einzelne Äste schneeweiß wurden und ihr Blattwerk fallen ließen. Wenn er atmete, stoben winzige Atemwölkchen zwischen seinen Lippen empor. Aber sein Blick war wach und lebhaft.
Ein unbeständiges, kleines Grinsen huschte über seine Lippen. »Hallo, Eerin.«
»Karon!«, platzte Selinia hervor, und wollte auf den Dämon zulaufen, doch Eerins ausgestreckte Hand versperrte ihr den Weg.
»Dies ist mein Reich, mein Territorium«, rief der Zer dem Whyndrir zu. Auch sein Atem färbte sich weißlich. Ich spürte, wie Karons Kälte durch den Wald zog. »Bist du mein Freund, Karon? Der Freund, der mein Leben retten wollte, und mir eine Zukunft schenkte, oder bist du in Syras Namen hier, um zu vollenden, was dir schon einmal nicht gelungen ist?« Seine Mundwinkel verschoben sich, bis ein schiefes Grinsen seinen Ausdruck dominierte. »In wessen Namen bist du hier?«
»Ich bin in niemandes Namen hier«, entgegnete Karon amüsiert. »Oder siehst du jemanden, der mit mir gekommen ist?«
Ich spürte seinen Gefühlen nach und las in ihnen, dass es die Wahrheit war. Er war alleine hier, ich spürte keinen fremden Geist auf seinem liegen, und er war auch nicht verzaubert. Er war hier.
Und er war er selbst.
Auf einmal wusste ich, dass wir alle in Sicherheit waren.
Dann fing Eerin sich, sein Grinsen bröckelte. Er wurde ernst. »Wie bist du Syra entkommen?«
»Gar nicht«, erwiderte der Dämon ernst. »Ich bin nur aus einem einzigen Grund hier. Sie gab mir ihr Wort, dass all jenen, die ich liebe, nichts geschehen wird. Und wenn ihr hier bleibt, dann kommt heute Nacht der Tod über euch.« Seine Augen verengten sich. »Erias«, sagte er bedrückt zu mir und kam näher. »Du bist an diesen Ort gekommen, weil ich dich darum gebeten habe. Ich kann nicht zulassen, dass dieser Gefallen dein Leben kostet.«
Mein Blick huschte zu dem Bogen zu meinen Füßen. Ich sah, wie Karon meiner Geste folgte, und erwartete fast, dass er mich rügen würde. Doch stattdessen kehrte sein Lächeln zurück. »Das war ein beeindruckender Schuss. Ich wusste gar nicht, dass du dich zu verteidigen weißt.«
»Ich auch nicht.« Meine Hand streckte sich. Ich berührte seinen Arm. Meine Seele brauchte Gewissheit, dass er wirklich hier war. Erst dann konnte ich es glauben. Erleichtert atmete ich aus. »Du bist es wirklich, oder? Wieso bist du hier?«
Seine Miene verfinsterte sich rasant. »Ich habe heute in den Wäldern totes Land gefunden. Magie hat alles Leben dort ausgelöscht, und ich weiß nicht, von welcher Macht wir sprechen. Ich konnte den Tod in der Erde fühlen. Etwas unbeschreiblich Finsteres. Etwas aus der alten Welt. Es ist auf dem Weg hierher, und ich weiß nicht, ob ich es aufhalten kann.« Wieder wandte er sich Eerin zu. Anspannung legte sich über seine Seele, aber zugleich hielt auch endlich etwas Frieden Einzug darin. »Eerin.« Er sprach den Namen seines Freundes aus, wie ein Zauberwort. Wie etwas, das unendlich lange in ihm geschlummert hatte, und nun endlich ausbrechen und sich befreien konnte.
»Du hast mir ein Kind geschickt, um in deinem Namen um meine Vergebung zu bitten.« Eerin verschränkte die Arme vor der Brust. »Meine Meinung von dir ist heute Nacht nicht allzu groß. Was willst du?«
»Tatsächlich habe ich Erias nicht ohne Hintergedanken darum gebeten. Ich wollte, dass ihr einander begegnet. Ich wollte, dass du, als eine meiner furchtbarsten Taten, dem Jungen vor Augen führst, wie fatal es ist, mein Freund zu sein.« Er lächelte. Diesmal blieben seine Augen ernst und traurig. »Ich wollte ihm zeigen, wie grausam Magie ist, und wie schwer es sein kann, das Richtige zu tun.«
»Das Richtige wäre gewesen, selbst zu mir zu kommen. Du hattest genug Zeit, mich selbst aufzusuchen.«
»Ich war beschämt«, gestand der Whyndrir. »Was ich dir angetan habe, war unverzeihlich. Ich habe nicht den Mut gehabt, einem Monster meiner Vergangenheit entgegenzutreten. Selbst ich brauche manchmal ein wenig Hilfe.«
»Ich lebe noch.« Eerin schnaubte. Er wirkte nicht erfreut, aber seine Worte klangen aufrichtig. »Du schuldest mir nichts.«
»Ich schulde dir alles. Dein Opfer war mein Todesstoß.« Behutsam streckte Karon die Hand aus und enthüllte mit einer Geste die Rabenmale auf seinen Unterarmen. »Ohne dich hätte ich mich niemals befreien können.«
»Wirklich? Ich hatte nicht das Gefühl, das mein Elend Einfluss auf deine Entscheidungen hatte.«
»Du warst das letzte Wesen, dem ich Schmerzen zugefügt habe. An dem Tag, an dem ich Syra verließ, dachte ich an dich. Dachte an all den Schmerz, den ich noch bringen, und all die Leben, die ich nehmen würde. Und ich ging fort, und wurde ein Anderer. Du warst der Todesstoß für meine Feigheit.«
Er sprach von Verlassen im Bezug auf Syra, nicht mehr von Flucht. Auch wenn der Unterschied nur fein und kaum wahrnehmbar war, deutete er doch auf eine Wandlung hin, die er in der kurzen Zeit in ihrer Nähe durchgemacht hatte.
»Etwas anderes.« Der Engel schmunzelte. »Ich habe davon gehört.«
Ein kleines Lächeln erhellte Karons Miene. »Und jetzt bin ich hier, und du kannst es mit eigenen Augen sehen.«
Er streckte die Hand vor, und ich bemerkte, wie Eerin instinktiv zurückweichen wollte. Das, was zwischen ihnen vorgefallen war, saß tiefer als Worte. So lange Eerin lebte, würde er niemals vergessen können, wie groß das Elend war, das er dem Schattenblut verdankte. Doch er trat nicht zurück. Er spannte sich, ergriff die Hand des Dämons und tauchte in dessen Geist ein. Karon lud ihn ein, sich umzusehen und die neugewonnene Stärke und Kälte wahrzunehmen, die nun sein Wesen bestimmte.
»Kann mir diese Macht meine Flügel wiedergeben?«, fragte er dann.
Karon schüttelte den Kopf. Er kannte den Drang, wieder fliegen zu wollen, besser, als jeder Andere. »Nein. Aber ich kann etwas Anderes für dich tun. Würdest du dann deine Männer informieren und mit mir kommen?«
»Mit dir? Wohin?«
»Ins Syras Festung.« Karons kniff angespannt die Augen zusammen. Dieser Moment war heikel.
Mir blieb der Mund offen stehen. Hatte Karon eben tatsächlich angedeutet, dass er mit uns dorthin gehen wollte? Dass er einen rebellischen Engel und dessen Kampftruppe mitnehmen und Syras Obhut überlassen wollte? Er bemerkte meine Verwunderung und nickte mir zu. »Wir müssen diesen Ort vor Morgengrauen verlassen. Wir müssen fliehen, oder wir sterben hier. Wir alle.« Sein Blick berührte auch Selinia und Eerin. »Ihr müsst mich begleiten.«
»Ist es Syras Wunsch?« Selinia atmete hörbar aus. »Hat sie dir eingeredet, dass-«
»Syra hat mit alledem nichts zu tun«, wehrte der Dämon ab. »Sie hat mich nur gehen lassen, damit ich euch holen und in Sicherheit bringen kann.«
»Wirst du dann bei uns bleiben?«
Plötzlich wirkte Karon angespannt. Seine Kiefer mahlten. Ich konnte fühlen, dass eine Leere seinen Geist übermannte. Er drängte mich ab, weil er ein Geheimnis hatte, das mich nichts anzugehen schien. Mit aller Macht drängte er mich aus seinem Bewusstsein zurück und zog die Mauer, die seine Gedanken vor mir schützte, wieder hoch. »Nein.« Entschieden musterte er uns nacheinander. »Ich bringe euch in Sicherheit und bleibe bei ihr. Das ist der Pakt. Wir zwei werden an einen anderen Ort gehen, solange es dauert. Ich breche meinen Schwur nicht.«
»Und wie lange dauert es? Wie lange sind wir denn in Gefahr?«
»So lange, bis ich diesen Feind getötet habe.«
»Ihn.. getötet?«
»In diesem Punkt gibt es keine Diskussion«, erwiderte das Schattenblut todernst. »Ich töte ihn und ihr könnt gehen.«
»Und du bleibst bei Syra.« Meine Stimme klang dünner als zuvor. Die Euphorie, die sein Erscheinen in mir ausgelöst hatte, verebbte.
»Ich werde mein Wort halten«, sagte der Dämon entschieden. »Seht mich doch an. Ich bin wohlauf. Syra hat mich weder angefasst, noch mir etwas getan, und das wird sie auch nicht. Ich weiß, das ist schwer für euch zu verstehen, aber diesmal gibt es keine friedliche Lösung. Ihr müsst meinem Wort vertrauen, andernfalls sterben wir.«
»Dein Ehrenwort«, echote die Fee bitter. »Dein Edelmut hat dich schon einmal fast deinen Verstand gekostet.«
Aber Karon entlockte ihrer Bitterkeit nur ein kleines Lächeln. »Eines Tages wirst du mich verstehen.« Er wandte sich Eerin zu. »Ich kann euch retten, für einen Funken deines Vertrauens. Nur dann kann ich euch mitnehmen. Ich werde niemanden zwingen, doch wer bleibt, stirbt.«
Der Zer verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Ich kann diese Entscheidung nicht über die Köpfe meiner Männer hinweg treffen. Sie sind gute Krieger und stolze Kämpfer. Ich werde mich mit ihnen bereden, und wenn sie wollen, gehen wir mit dir. Weigern sie sich, bleibe ich mit ihnen hier. Und wenn du mein Freund bist, stehst du uns bei.«
Ich sah den Dämon nicken, langsam, andächtig. »Ich verspreche es dir. Auch wenn ich nicht weiß, ob euch das retten wird.«
Eerin musterte seinen alten Freund lange. Er nickte träge. »Schön. Ich muss Zwiesprache mit meinen Männern halten. Sie werden nicht erfreut darüber sein, dass du sie ausgerechnet in Syras Festung bringen willst. An den Ort, gegen den wir schon lange kämpfen.«
»Wenn sie es nicht tun, werden sie ihr Leben verlieren. Wer nur die Wahl zwischen Leben und Tod hat, trifft leichter die richtige Entscheidung.«
»Wir werden sehen. Da ich nicht weiß, wie viel dein Wort im Augenblick wert ist, wird Selinia mit mir gehen. Du erhältst im Gegenzug mein Wort, dass ich sie dir unbeschadet zurückbringe.«
Karon warf Selinia einen fragenden Blick zu. »Schon gut«, sagte sie daraufhin. »Ich gehe mit ihm, wenn das euer kleines Machtspiel verlangt.« Mit den Augen rollend wandte sie sich ab von ihm und dem Zer zu. »Also? Wollen wir?«
Dieser schmunzelte nur, bot ihr jedoch seinen Arm dar und sie hakte sich ein und ging mit ihm. Ich schaute ihnen nach, bis die Luft um mich herum wieder kälter wurde. Erst dann spürte ich, wie der Wein ganz langsam aus meinem Blut verschwand, wie sich mein Kopf klärte und meine Gedanken wieder zielgerichtet wurden. Ich wandte mich dem Schattenblut zu, beschämt darüber, dass er just in dem Augenblick erschienen war, als Eerin mich dazu gebracht hatte, etwas zu tun, das ganz und gar gegen meine Überzeugung spielte.
Ich musterte ihn lange von Kopf bis Fuß. Er wirkte angespannt, fast schon nervös, und ich wusste, dass es meinetwegen war.
»Karon..«, setzte ich an, während ich vergeblich nach Worten suchte, um mein Handeln zu erklären. Aber das musste ich gar nicht. Er wollte es nicht hören.
»Denkst du wirklich, ich nutze die kurze Zeit, die uns gegeben ist, um einen Streit mit dir zu beginnen?« Der Whyndrir neigte den Kopf zur Seite, sah mich fast erstaunt an und lachte dann leise. »Du bist jung«, ließ er mich wissen. »Ein aufstrebender junger Geist voller Talente, die du und deine Mitmenschen noch erkennen und entdecken müssen. Ich bin der Letzte, der dir Steine in den Weg legen wird.«
»Aber du willst nicht, dass ich lerne, mit Waffen zu kämpfen, in den Kampf zu ziehen und-«
»Ich will nicht, dass du ein Schwert besitzt. Wer eine Waffe trägt, muss bereit sein, sie zu nutzen. Du musst durchhalten. Einem Kampf aus dem Weg zu gehen, ist kein Zeichen von Schwäche. Nur wer stark ist, widersteht dem Krieg.«
»Du hast leicht reden. Ganz Theremal fürchtet dich.«
Es war mir nur rausgerutscht, aber diese wenigen Worte warfen einen dunklen Schatten über Karons Gesicht. »Eerin hat dir seine Flügel gezeigt?«, fragte er leise. Seine Stimme war dunkel geworden, und klang plötzlich fremd in meinen Ohren. Er streckte mir die flachen Hände mit den Handflächen nach oben hin entgegen. »Mit diesen Händen habe ich wieder und wieder über Leben und Tod entschieden. Ein Schwert zu führen, bedeutet auch, bereit dazu zu sein, über das Leben eines Anderen zu richten. Du kannst das Blut niemals mehr von deinen Fingern waschen. Ich kenne dein Wesen, Erias. Ich bin dir näher, als ich gerne wäre. Selbst über hunderte von Meilen spüre ich, wenn du traurig bist, wenn du dich einsam oder krank fühlst. Und ich weiß, jetzt und immer, dass du niemand bist, der leichtfertig ein Urteil über andere fällt.«
Er hatte Recht. Alles, was er sagte, stimmte. Ich wollte niemanden verletzen. Ich wollte nie vor der Wahl stehen, ob ich ein Leben beenden musste, oder nicht. So wollte ich nicht sein, und kein Schmerz und kein Verlust würden je so einen Menschen aus mir machen.
Als Karon meine Erkenntnis bemerkte, hellte sich seine Miene auf. »Wie ich sehe, konntest du dich mit Selinia versöhnen.«
Ich nickte und schaute instinktiv in die Richtung, in die sie mit Eerin verschwunden war. Sofort spürte ich, wie Karon meine Emotionen reflektierte, und kurz darauf stand er neben mir und legte eine Hand auf meine Schulter. »Muss es wirklich sie sein?«, murmelte er leise, mehr zu sich, als zu mir. Doch als ich zu ihm aufschaute, war sein Lächeln nach wie vor vorhanden. »Sie und er haben eine sehr bewegte Vorgeschichte.«
»Ich weiß.«
»Er hat sie für den Krieg verlassen, und sie haben sich nie wieder gesehen. Gib ihnen einen Moment, um zu erkennen, dass sie nicht mehr die Gleichen sind, die sie vor langer Zeit waren. Schon bald wird Eerin wieder seiner Wege ziehen, und sie wird bei dir bleiben. Das Herz einer Frau zu gewinnen, ist immer ein Glücksspiel. Am Ende gewinnt der, der den längsten Atem hat.«
»Das klingt, als wüsstest du, wovon du sprichst.« Ich heftete meinen Blick so fest auf sein Gesicht, dass er sich mir nicht entziehen konnte, und sagte dann leise: »Ich weiß, dass du meine Mutter geliebt hast. Irgendwie scheine ich es von Anfang an geahnt zu haben. Du hast gelogen, als ich dich danach fragte.«
»Aber sie liebte mich nicht und hätte niemals etwas getan, das ihre Liebe zu deinem Vater oder dir in Gefahr gebracht hätte. Inadette war ihrem Herzen immer treu.«
»Aber das Bild im Schloss..«
»Ist der Fantasie eines zu eifrigen Malers entsprungen«, spottete der Whyndrir. »Glaubst du wirklich, nach allem, was ich dir über sie erzählt habe, ich wäre jemand gewesen, für den sie mehr als Freundschaft empfinden konnte?« Er schüttelte den Kopf. Dunkle Locken fielen ihm vor die Augen. »Deine Mutter war eine treue Seele. Sie hätte ihren Mann niemals hintergangen.«
»Aber sie tat es. Letztendlich hat sie dich gewählt.«
»Das ist etwas völlig anderes und hatte nichts mit Liebe zu tun.«
»Ich denke, du irrst dich. Letztendlich ist, sein eigenes Leben zu opfern, der größte Liebesbeweis, den ein Mensch erbringen kann. Ich weiß, du hast sie dazu ermutigt, meinen Vater zu wählen. Wieso?«
»Ich weiß nicht, Kleiner.«
Auch wenn er es nicht zugab, er wusste es dennoch. Er hatte sie aus Angst abgewiesen, weil er sie nicht an etwas Böses verlieren wollte. Und bis heute konnte er sich das nicht eingestehen.
Ich blinzelte. Natürlich wusste ich, dass er Geheimnisse hatte, aber bisher hatte ich weiter darüber nachdenken wollen. Jetzt musste ich. Plötzlich war seine Verschwiegenheit greifbar. Etwas stand zwischen uns. Es musste fort, damit wir einander vertrauen konnten.
»Dir liegt etwas auf dem Herzen.« Karon wandte sich mir gänzlich zu. Er nahm die Hand von meiner Schulter und fragte: »Was ist los?«
»Eerin hat mir etwas für dich gegeben. Er denkt, dass du mich eigentlich aus einem anderen Grund hergeschickt hast. Um einen Zauber zu holen. Den Zauber.«
Sofort war sein Lächeln wie fortgeblasen. »Und wirst du ihn mir geben?«
»Ich weiß es noch nicht. Ich will nicht. Aber ich sollte dir vertrauen.«
»Und wann weißt du es?«
Ich zuckte die Achseln und fühlte mich plötzlich wie ein trotziges Kind, dem man ein Spielzeug weggenommen hatte. »Ich habe wohl gehofft, dass Eerin sich irrt und nicht weiter darüber nachgedacht. Und? Ist es wahr? Bist du tatsächlich wegen des Spruchs hier? War deine Entschuldigung ein Vorwand?«
»Ein wenig. Aber nicht nur. Ohne dich hätte ich nie den Mut aufgebracht, Eerin in die Augen zu blicken. Ich dachte, du solltest den Mann kennenlernen, dessen Leben ich ruiniert habe. Wenn ich dir nur von ihm erzählt hätte, hättest du alles abgetan und geglaubt, ich übertreibe. Aber Eerin ist für den Rest seines Lebens schwer gezeichnet. Er hat mehr als seine Flügel verloren. Sein Leben ist zerstört, und er wird sich nie davon erholen. Ich habe in dir meine Chance gesehen, dieses Unrecht ein wenig zu sühnen. Bitte verzeih, dass ich dich benutzt habe.«
»Aber?«
»Syra hat mich an einen Ort geführt, dem irgendjemand oder irgendetwas alles Leben ausgesaugt hat. Jeder Baum, jeder Strauch, jeder Grashalm, jedes Staubkorn - alles war zerstört und unfruchtbar geworden.«
Der schwere Klang seiner Stimme machte mich stutzig. »Du hast Angst«, schlussfolgerte ich, und war noch verwirrter als zuvor. Er? Der Mann, dem kein Zauber etwas anhaben konnte?
»Ich habe noch niemals eine derartige Zerstörung gesehen. Im Boden war etwas unfassbar Böses. Nie zuvor bin ich dem Tod so nahe gekommen. Er war überall. Ich konnte ihn riechen, ihn schmecken. Und ich kann sehr wohl von etwas getötet werden, das größer ist, als ich es bin. Dieses Wesen folgt mir schon, seit ich aus der Höhle gekrochen bin. Es interessiert sich für mich, und ich weiß nicht, ob ich seiner Kraft gewachsen bin. Wir sprechen hier von sehr, sehr schwarzer Magie. Diesen Waldboden konnte ich heilen, aber vor dieser Macht fürchte ich mich. Niemand ist unbesiegbar.«
Karon fürchtete sich. Nicht ein wenig, sondern sehr. Auch wenn er es zu verbergen versuchte, entging mir nicht, dass er seine Finger verbergen musste, weil sie zitterten. Er, der Mann, der vor Magie nichts zu befürchten hatte, war tief besorgt.
Ich ließ mein Bewusstsein in seines fließen und begegnete der Leere dort. Und seiner Kälte.
»Geh mit mir«, bat er mich.
»Und der Zauber?« Seine bloße Erwähnung kribbelte unangenehm in meinen Gedanken. »Wenn du ehrlich zu mir sein willst, sag mir, wofür du ihn brauchst.«
»Dieser Zauber frisst Magie. Er ist unvorstellbar alt und mächtig. Es gibt viele dunkle Zauber, aber nur wenige sind mit diesem vergleichbar. Er könnte der letzte Ausweg sein.«
»Woher hast du ihn?«
»Ich habe ihn Syra gestohlen. Sie hat eine Schwäche für Zauber, die die Welt erschaudern lassen. Wenn das Böse, das diesen Wald getötet hat, mich aufspürt, ist dieser Zauber möglicherweise unsere beste Waffe.« Ich wollte ihm glauben, aber irgendetwas sagte mir, dass er log. Schon wieder.
»Spielst du mir jetzt vor, es wäre gut und richtig, ihn dir zu geben?«
Karon lachte laut auf. Angesichts des ernsten Themas erschien mir seine Reaktion eigenartig, aber ich war froh darüber, dass er noch lachen konnte. Trotz Syra und seiner Furcht, und trotz der Tatsache, dass es glücklichere Ereignisse gab, um alte Freunde wiederzusehen.
»Funktioniert es denn?«
»Ja«, gestand ich ein wenig betrübt und klopfte demonstrativ auf die Tasche meines Mantels. »Ich gebe ihn dir, aber ich verlange auch etwas dafür.«
»Jetzt verhandeln wir«, bemerkte der Whyndrir amüsiert. »Viel kann ich dir in meiner Situation nicht geben.«
»Ich will auch nicht viel. Ich will nur dein Wort. Dein Ehrenwort. Das, von dem man sagt, du würdest lieber sterben, als es zu brechen.«
»Bist du nicht inzwischen umfassend darüber informiert, wie wenig die Welt von meinem Wort hält?«
»Das kümmert mich nicht«, wehrte ich hastig ab. »Selinia glaubt daran, und ich habe gesehen, wie du der Frau, deren Nähe du so fürchtest, nur dein Wort gegeben hast und mit ihr gegangen bist. Sie hat dich weder verzaubert, noch in Ketten abgeführt. Also bist du freiwillig dort. Ich will das Wort eines Mannes, den es fester bindet, als Stahl. Versprich mir, du wirst diesen Zauber nicht einsetzen, wenn es einen anderen Weg gibt. Er soll dein letzter Ausweg sein. Immer. Als ich den Spruch berührte, habe ich gespürt, wie unsagbar böse er ist. Also, das ist meine Bedingung.«
»Einverstanden. Ich hasse diesen Zauber mehr, als du dir vorstellen kannst.« Karon schüttelte sich demonstrativ. Diese Geste ließ ihn menschlich erscheinen. Ich hätte fast vergessen können, dass er unendlich weit davon entfernt war, ein Mensch zu sein. »Ich verspreche dir, was auch immer du willst. Aber ich muss ihn haben.«
Ich nickte. Er hatte Recht. Nur in seinen Händen war der böse Fluch sicher. Nur bei ihm wusste ich, dass er ihn niemals dafür verwenden würde, jemanden zu verletzen, an dem mir lag. Also langte ich in meine Tasche, zog das zusammengerollte Pergament hervor und ließ es in seine ausgestreckte Hand gleiten. Unter seiner Berührung fing die winzige Schriftrolle Feuer und verschwand in seinen Fingern. Dass sie nicht verloren war, sondern nur für alle Zeiten in seinem Besitz, sagte mir das kleine Funkeln in seinen Augen.
Ich hätte ihm den Spruch niemals ausgehändigt, wenn ich gewusst hätte, wie falsch ich damit lag.