»Ich weiß, was du willst«, flüsterte Syra im Dunkeln dem Spiegel zu. Der große Zeh an ihrem rechten Fuß durchstieß das klare Wasser in der Wanne und malte größer werdende Kreise auf die zarte Oberfläche. Das ruhige Wasser setzte sich langsam in Bewegung. Aber der Oberfläche geschah etwas. Es formte einen Umriss aus Schatten.
Das Kerzenlicht im Zimmer, hunderte kleine tanzende Flammen, färbten das Wasser golden.
»Ich weiß, du willst ihn, und du kommst, um ihn zu holen. Ich kenne die Signatur deiner Magie und bin dir gefolgt. Du hinterlässt eine Spur wie ein bitterer Anfänger.« Ihr eigenes Abbild wirkte blass. Das Mondlicht, das durch das große Fensterloch fiel, ließ ihre Haut perlmuttfarben glänzen. Ihre fahlen Wangenknochen wirkten heute kränklich, eingefallen. »Aber ich bitte dich, nimm ihn mir nicht weg. Alles, was ich jemals wollte, alles, was ich jemals tat, zählt gar nichts, wenn ich ihn verliere.«
Sie warf einen Blick ins Abbild ihres eigenen Gesichts. Eine einzelne, funkelnde Träne lief über ihre Wange, blieb an ihrem Kinn hängen und fiel hinab. Sie berührte das Wasser in der großen Marmorwanne, verwandelte sich in einen Teil der bewegten Oberfläche und ging verloren.
Vor ihrem inneren Auge sah sie noch einmal die schicksalhafte Nacht vor sich. Sie sah Karon am Waldrand stehen, unfähig, sich zu rühren, unfähig, den letzten Schritt in die Freiheit zu wagen. Und dann sah sie sich selbst hinter dem Vorhang stehen, und mit geballten Fäusten zu ihm hinabblicken. Sie erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen, als sie ihre verkrampften Fingerknöchel lockerte, und den Dämon mit einem sehnsüchtigen Blick gehenließ. Er wusste es nicht, und er würde es nie erfahren. Niemals.
»Du kannst alles haben«, versprach sie dem Schatten im Wasser. »Alles, was du willst. Aber wenn du mir den Liebsten nimmst, dann zerstöre ich alles, was noch übrig ist von dir. Dann zerbreche ich dein Lebensband, und wenn es mich meines kostet. Und ich nehme dir alles, was du hast, alles, was du bist.«
Ein Raunen fuhr durch das Wasser. Eine Welle bäumte sich auf, schwappte über ihren Fuß.
Kein Wort erfüllte ihren Geist, und dennoch wusste sie, was der Schatten von ihr verlangte. Sie schloss die Augen. Ihre Gedanken wanderten zu Karon hin, der sie jetzt, trotz der Liebe, die sie einte, nicht mehr hören konnte. Ihm war der Schritt in die Freiheit gelungen, und so sehr sie ihm diesen Weg auch gönnte, stimmte sie die Distanz traurig, die nun zwischen ihnen lag. In ihrem Kopf war sie einsam, selbst wenn er bei ihr war, und er würde sich ihr gegenüber niemals mehr auf diese Weise öffnen.
Mit all ihren Taten hatte sie diese Gelegenheit für alle Zeiten verspielt.
Ein Lufthauch fuhr durch das Bad. Die Kerzenlichter flackerten, aber keines erlosch. Die Hexe schloss die Lider, presste sie fest aufeinander, dann nahm sie das schneeweiße Tuch, das um ihren Leib gewickelt war ab, und ließ sich in die Wanne gleiten. Sie tauchte unter. Das lauwarme Wasser hauchte ihren Gliedern neues Leben ein.
›Karon‹, flüsterte eine tiefe, unmenschliche Stimme aus dem dunklen Wasser.
›Alles kannst du haben‹, dachte Syra leise, ›nur ihn nicht. Nicht so.‹
Nicht den Mann, den sie liebte. Sie hielt den Atem an, spürte, wie ihre Haut prickelte. Vom Grund der tiefen Wanne stiegen große Blasen auf. Magie wanderte ihre Beine hinauf. Schönheit. Jugend. Stolz. Sie fühlte sich stark, fühlte sich in der Lage dazu, Karon aufzuspüren, ihn zu sich zu holen, ihn festzuhalten und mit all ihrer Liebe zu umschließen. Doch anstatt die Magie dazu einzusetzen, ihren Plan umzusetzen, warf sie ihn dem Schatten im Wasser entgegen. Er grollte. Er bäumte sich auf und verschwand.
Sie tauchte auf. Wassertropfen perlten von ihrem Gesicht. Das Kerzenlicht erhellte und wärmte das Zimmer. Der Schatten auf der Oberfläche war verschwunden. Nach Atem ringend bewegte sich die Hexe an den Wannenrand zurück, bettete die Arme darauf und die Stirn auf die Hände. Der Zauber nagte an ihr, kostete sie Kraft. Er sickerte durch ihre Venen, machte sie müde und erschöpft. Sie schaute sich um. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich das Wasser hinter ihr langsam beruhigte. Wie die einzigen Kreise, die die Wasserhaut noch schlug, die ihrer eigenen Bewegungen waren.
Ein Gefühl von Schwerelosigkeit durchströmte sie. Um jeden Preis würde sie versuchen, Karon zu retten, und sich selbst mit ihm. Nur gemeinsam konnten sie frei sein, glücklich werden und wieder die sein, die sie einmal waren. Nur gemeinsam konnten sie alle Zauber abstreifen, und für immer jung und zufrieden sein.
Sie schloss die Augen noch einmal. Ihr Körper bebte unter jedem Atemzug. Aber auch die Schwäche würde vergehen. Wieder und wieder. Sie würde Therion bekämpfen, solange sie musste. Immer und immer wieder.
Warm fuhr ihr eigener Atem über ihren Handrücken. Sie blinzelte. Schaute auf ihre Finger. Sie wirkten fahler und blasser als zuvor. Viele Male konnte sie die böse Macht nicht mehr im Zaum halten, aber so lange es möglich war, würde sie Karon von alledem fernhalten, ihm die Gelegenheit geben, seine neuen Kräfte zu erforschen und kennenzulernen. Und irgendwann, das wusste sie, würde er sie beide davon befreien können.
Vor ihrem inneren Auge erschien das Gesicht des Schattenblutes. Sie sah ihn lächeln. Damals, als sie das erste Mal in ihrer menschlichen Form voreinander standen. Sie erinnerte sich daran, wie er ihre Hand genommen und zu seinem Mund geführt hatte. Wie seine weichen Lippen ihren Handrücken berührten, und ihrer Seele mehr Leben einhauchten, als jeder Zauber zuvor.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie der Stille des Zimmers zu.
Und in diesem Moment traf der Sturm ein. Ein Sog riss am alten Mauerwerk und der Wind peitschte hinein, löschte auf einen Schlag alle Lichter. Syra fuhr zusammen. Sie klammerte sich an den Rand der Wanne, schlug die Nägel in den Stein und wollte sich in die Höhe stemmen, als etwas ihren Fuß umschlang. Etwas packte sie, huschte ihre Beine hinauf und klammerte sich mit aller Macht an ihr fest.
»Nein!«, brüllte sie zornig, krallte sich fest und versuchte mit Nachdruck, sich aus der Wanne zu ziehen, aber ihre Finger rutschten an der glatten Oberfläche ab. Sie fand keinen Halt. Sie rutschte. Es zog sie hinab. »Therion!«, fauchte sie. »Nein! Therion!«
Ihre Finger rutschten ab. Das Etwas packte sie fester, zerrte sie unter Wasser und hielt sie fest. Es schleppte sie auf den Grund hinab und hielt ihren Leib dort fest.
In Todesangst schlug die Hexe um sich. Das Wasser geriet in Bewegung. Blasen und Schaum stiegen auf. Es begann zu kochen. Ihre Magie ließ Hitze aufsteigen. Es brodelte in ihr. Es brodelte im Wasser. Sie schlug und trat um sich. Vor ihren Augen fuhr der Schatten durch das Wasser. Er war zurückgekehrt. Er hatte sie da, wo er sie haben wollte.
›Niemand‹, hauchte ihr die seltsame, zischelnde Stimme ins Bewusstsein, ›droht mir. Niemand nimmt mir, was ich will und brauche. Auch du nicht.‹
Syra spürte ein Ziepen an sich, ein Zerren an ihrer Seele. Es war vorüber. Sie spürte, wie der Schatten ihre Gedanken überschwemmte, wie sich etwas Finsteres auf ihr Wesen legte, und sie in eine Tiefe verschleppte, weit, unendlich weit fort. Ihre Gedanken wurden fortgewischt, ihre Sorgen und Ängste bröckelten und verschwanden. Sie öffnete den Mund. Luftblasen stiegen auf. Der Zauber hatte sie alle Kraft gekostet, die ihr geblieben war, und jetzt gab es keine Magie mehr, die sie retten konnte.
In ihrer Lunge versiegte die Luft. Ihr Herz pumpte schneller. Es konnte nicht mehr, schaffte es einfach nicht. Durch ihre Gedanken zog sich ein schwarzer Schleier. Ihre Bewegungen wurden langsamer, schleppender. Sie rang sich einen letzten Kampfversuch ab, dann gehorchten ihr Arme und Beine nicht mehr. Sie hob den Blick hinauf, sah, wie ein Kerzenlicht nach dem anderen wieder entflammte und den Raum in zartes Gold tauchte. Und dann hörte alles auf. Es wurde dunkel. Karons Bild vor ihrem inneren Auge löste sich auf. Er war fort. Nein, sie war fort.