Karon lief auf und ab. Wie ein in die Enge getriebenes Raubtier drehte er seine Kreise zwischen den Zelten. Seine Fußsohlen scharrten auf dem Waldboden. Er machte mich nervös. Wann immer meine Gedanken auf seine trafen, spürte ich die Unruhe in ihm. Sorge machte ihm zu schaffen, und ich wollte helfen, aber diesmal wusste ich nicht, wie. Deshalb zwang ich mich zur Ruhe und hoffte inständig, dass ein wenig von meiner Gelassenheit auf ihn abfärben würde.
Tatsächlich hörte er nach einer Weile auf, herumzulaufen. Ich sah ihn den Kopf heben, er schaute mich an und lächelte sanft.
»Ist es wegen der toten Erde?«
»Ja«, erwiderte er langsam, aber ein kleiner Funke schwang in seiner Stimme mit, der dort nicht hingehörte. Log er mich an? Konnte er mich reuelos anlügen und denken, ich bemerkte es nicht? Doch dann schüttelte er plötzlich den Kopf. »Und nein.«
Ich kniff die Augen zusammen, musterte ihn forschend, und dann dämmerte mir die Wahrheit. »Du verschweigst mir etwas.«
»Ich würde dich nie anlügen.« Aber er hatte es bereits getan. Mehr als einmal.
»Aber mir etwas bewusst nicht erzählen«, entschied ich. »Und die Wahrheit ein wenig zurechtbiegen.«
Ein diebisches Grinsen flammte im Gesicht des Dämons auf. »Möglicherweise. Aber ich lüge nicht.«
»Wie soll ich dir vertrauen, wenn du mir nicht die Wahrheit erzählst?«
»Erias, ich werde in wenigen Stunden wieder aus deinem Leben verschwunden sein. Ich werde dafür Sorge tragen, dass das, was in diesem Wald geschehen ist, sich nicht wiederholen wird.«
»Und was ist dort passiert?«
»Nicht was«, entgegnete der Whyndrir. »Sondern wer. Er nennt sich selbst Therion. Er ist gefährlich und war für viele Jahre verschwunden.«
»Ein Jahrzehnt lang?«, vermutete ich. Ich war mir nicht sicher, woher dieses Wissen kam, aber ich spürte deutlich, dass das Wesen, von dem Karon sprach, mit ihm auf eine ganz besondere Weise verbunden war.
Er blinzelte, anfangs verwirrt, dann überrascht, und letztendlich anerkennend. »Ja. Es scheint so.«
»Wer ist er?«
»Ein Mitbringsel aus einem alten Leben«, entgegnete Karon ausweichend. »Man könnte sagen, von allen Fehlern, die ich je in guter Absicht begangen habe, ist er der eine, den ich aus bösen Gedanken heraus geschehen ließ. Vor vielen Jahren habe ich unsägliches Leid über ihn gebracht. Ich habe ihm alles weggenommen, was er besaß. Und am Ende, als ich wusste, es würde ein böses Ende mit uns nehmen, hab ich seinen Tod verantwortet. Das, was heute von ihm übrig ist, ist ein Schatten. Ein Hauch Finsternis. Therion ist das Ungeheuer, das ich aus meinen Fehlern heraus selbst erschaffen habe.«
»Aber du.. du sagtest, dieses Wesen ist ungeheuer mächtig.«
»Manchmal«, fuhr er nachdenklich fort, »übertrifft der Schüler den Meister. Ich dachte, er wäre fort. Vielleicht hab ich sogar gehofft, dass er mit meinem Verschwinden Frieden gefunden hat. Ich weiß nicht, was ich dachte, aber bis ich dieses Waldstück sah, hatte ich ihn völlig vergessen. Er scheint über Kräfte zu verfügen, mit denen ich nicht vertraut bin. Ich weiß nicht, was es ist. Aber es ist alt. Es ist so alt wie der Whyndrir.«
»Und nun?«
Karons Grinsen verblasste ein wenig, als er die Arme ausbreitete, als wollte er losfliegen und laut: »Ich bin hier, oder?«, sagte. »Ich bin gekommen, um das Richtige zu tun.«
»Das Richtige«, wiederholte ich spöttisch. »Und das wäre?«
»Ich habe Therion damals etwas weggenommen, ohne das er nicht sein wollte. Diesen Verlust konnte er niemals überwinden. Ich zweifel nicht daran, dass er versuchen wird, mir etwas wegzunehmen, ohne das ich nicht leben kann.« Sein Blick grub sich fest in meinen. »Ich habe nicht viele Freunde, und nur die Götter wissen, für welchen von ihnen ich sterben würde, aber ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, dass Therion auch nur einen von euch bekommt.«
»Er kann dir nichts tun«, schlussfolgerte ich. »Aber uns. Selinia und mir.«
»Und Eerin, und Syra, und so ziemlich jedem anderen Geschöpf, das noch an das Gute in mir glaubt.« Er nickte mir zu, aber seine Augen blieben kalt und dunkel. »Meine allergrößte Angst ist, einen der wenigen Menschen vor seiner Zeit zu verlieren. Ihr alle werdet alt werden und irgendwann gehen. Aber erst am Ende eines langen, glücklichen Lebens. Jedem Einzelnen von euch bin ich diese Wiedergutmachung schuldig. Und ich-«
Hinter uns raschelten die Zweige. Ich fuhr herum und bemerkte, wie Karon sich spannte und sofort wieder locker ließ. Eine handvoll Männer traten durch das Unterholz, dicht gefolgt von Selinia und Eerin.
»Das sind alle, die mit dir gehen werden«, rief ihnen der Zer an Stelle einer Begrüßung zu. »Meine besten Männer, meine treuesten Freunde.« Seine Augen blitzten schadenfroh. »Du hast nicht allzu viele Freunde außerhalb deines kleinen Schutzkreises.«
Karon begegnete seiner Gehässigkeit achselzuckend. Eerins Worte bedeuteten ihm nichts. Sie verletzten ihn nicht, trafen ihn nicht einmal unangenehm. Er musste wohl damit gerechnet haben, dass sich nicht viele Krieger auf seine Seite schlagen würden. »Niemand kann behaupten, ich hätte es nicht versucht.«
»Nein, das kann wohl niemand.«
Eerin schien erleichtert und gleichzeitig ein wenig ungehalten darüber zu sein, dass Karon seine Spitze so klanglos über sich ergehen ließ. Für mich war dies ein Zeichen, wie sehr der Dämon sich in der Vergangenheit verändert haben musste. Zum ersten Mal dachte ich daran, was wohl geschehen wäre, wenn wir uns zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort begegnet wären. Wäre Karon dann auch mein Freund geworden, oder hätte er mich ohne mit der Wimper zu zucken aus dem Weg geräumt?
Wie war aus diesem kalten, emotionslosen Killer ein so stolzes, aufrichtiges Wesen geworden? Mutter hatte ganze Arbeit geleistet. Wenn nur ein kleiner Funken dieser Wandlung ihr geschuldet war, war ihr Opfer nicht vergebens gewesen.
»Ich will ja nicht stören«, mischte sich Selinia mit einem Räuspern ein, hob die Hände und wedelte um Aufmerksamkeit heischend, mit ihnen durch die Luft. »Aber die Sonne geht bald auf, und wir haben diese Männer und uns selbst nicht hier versammelt, um ein Naturschauspiel zu sehen. Also, wenn wir uns dann auf den Weg machen könnten?«
Ihr Blick glitt zu Eerin hin. Sie berührte seine Schulter mit ihrer Hand, und der letzte Rest seiner negativen Gefühle für Karon verebbte in einem kleinen Lächeln. Es war unscheinbar, aber es bedeutete etwas. »Du hast alles versucht. Jetzt lass uns gehen.«
Sie fuhr herum, blickte Karon und mich abwechselnd an, und schien entschlossen dazu, Karon zu folgen.
Ich betrachtete sie. Ihr Stolz ließ mich erschaudern. Und Eerin folgte entschieden ihrem Befehl. Jetzt und hier waren sie eine Einheit. Vielleicht enger verbunden, als je zuvor.
Ich sah, wie sie auf dem Rücken seiner geretteten Männer die Hand ausstreckte und seine Finger berührte. In diesem Augenblick ging die Sonne gleichzeitig auf und unter. Ich schluckte die Enttäuschung hinunter, als ich sah, wie sie einander anblickte. In ihrem Blick lag Liebe, und sie galt nicht mir. Sie galt dem Mann, der sie einst verlassen hatte.
Und obwohl der Schmerz mir den Atem raubte, freute ich mich doch darüber, dass sie glücklich war. Und das wusste ich, denn ich konnte es fühlen. Sie waren es beide.
»Hervorragend!« Karon klatschte in die Hände und durchbrach mit seiner Stimme das Schweigen. »Lasst uns aufbrechen.«
Sein Blick lief über die Gesichter der Krieger, die sich hinter Eerin versammelt hatten. Es waren sechs Männer, die mir von unserer Begegnung am Feuer nur flüchtig bekannt vorkamen, und Khel.
Ungeachtet ihrer misstrauischen Blicke wandte sich der Dämon zu mir um und streckte seine rechte Hand in meine Richtung vor. »Komm«, bat er mich. »Ich brauche deinen Funken, um so viele Seelen zu tragen.«
Ohne zu zögern reichte ich ihm meine Hand. »Was soll ich tun?«
»Genau das Gleiche, wie beim letzten Mal.« Als es nicht funktioniert hatte, ohne ihn. »Konzentrier dich auf das, was ich in deine Gedanken sähe. Atme. Tu, was ich tu.«
Aus dem silbernen Rabenschädel auf meiner Haut stieg Wärme auf. Er wollte von mir benutzt werden. Karons Nähe ließ ihn auf meinem Brustbein vibrieren.
Ich öffnete dem Whyndrir mein Bewusstsein. Ein wärmender Gedankenstrom machte sich rasch darin breit, als Karon seinen Zauber zu weben begann. Er hob die linke Hand und malte immerfort Kreise in die Luft vor sich.
Der Wald begann, majestätisch zu funkeln. Die Nachtluft vibrierte. Die Geräusche des Waldes, und unsere Stille, erschuf eine Symphonie aus Klängen, die harmonischer nicht hätten sein können. Das Unterholz schien zu singen. Ich glaubte nicht daran, dass die Anderen diese Töne hören konnten, aber für Karon sang der Wald. Er flüsterte leise seinen Namen und rief ihn zu sich, näher an sein Herz heran. Äste bewegten sich sanft. Blätter raschelten im Wind.
Mit angehaltenem Atem blickte ich ins Herz des magischen Forstes. Das leise Rascheln beruhigte meine Sinne. Ich ließ mich darauf ein, und ging irgendwann, nicht nur im Gesang des Waldes, sondern auch in Karons Zauber unter, der in meinen Fingerspitzen und meinen Zehen kribbelte.
Um uns herum erschuf Karon die perfekte Illusion. Ein Tor tauchte wie aus dem Nichts vor uns auf. Es war unsichtbar für alle Anderen, aber seine Energien waberten durch die Luft, als stünden die Bäume in Flammen. Hitze tanzte über den Boden. Der Grund schwelte.
Es fühlte sich gut an. Das dichte Blattwerk stob auseinander. Äste und Zweige wurden wie auf ein geheimes Signal hin lebendig. Eerins Männer fuhren zusammen. Sie wichen zurück, aber ihr Anführer hob gebieterisch die Hand, und ihr Vertrauen in ihn ließ sie innehalten und bleiben.
Knirschend reckten sich Zweige zur Seite, bogen sich durch, bildeten einen Halbkreis über unseren Köpfen, aus Gehölz und Blättern.
Wie Glühwürmchen flammte das Herz des Waldes auf. Ein seltsamer, grünlicher Schimmer, so wie der, der mich in der Höhle damals zu Karon geführt hatte, bewegte sich zwischen den Baumstämmen. Das Geisterlicht tanzte um uns herum, und es wurden immer mehr.
»Was ist das?«, flüsterte ich.
»Ein Portal. Wir gehen gemeinsam. Alle. Jeder andere Weg, so viele Wesen von einem Ort zu einem anderen zu bringen, trennt uns, wenn auch nur kurz. Aber eine Entzweiung kommt nicht in Frage.«
Er entschied, und wir folgten. Und der Zauber erledigte den Rest.
Hinter dem Tor aus Ästen und Ranken bildete sich eine zweite Wirklichkeit. Die blasse Silhouette einer Festung zeichnete sich dahinter ab. Ich konnte in Gänge und Flure schauen. Die Korridore waren leer. Sie wirkten verlassen.
Ich fühlte, dass Karon mir die Entscheidung überließ, in welchem Raum wir landen würden. Er wollte sich nicht näher mit dem Ort befassen, der einst seine Heimat gewesen war. Die Erinnerung an ein Gefühl von Heimkehr war ihm fremd geworden.
Vor meinem inneren Auge tauchte das Bild eines Empfangssaales auf. Ich konnte ihn sehen und fühlen, als wäre ein Teil von mir längst dort. Nein. Ich war dort!
Mein Blick huschte zur Seite. Karons Aura pulsierte. Seine Magie wanderte durch die Erde, in jeden Einzelnen von uns hinein. Wenn ich die Augen zusammenkniff, konnte ich den Zauber sehen. Wie feine, weiße Fäden sickerte er aus dem Leib des Whyndrirs heraus. Er war von Zauberkraft erfüllt. Er war der Ursprung der Magie.
Rein und klar.
Sein eiskaltes Herz pumpte mit jedem Stoß Magie aus ihm heraus.
»Geht«, befahl Karon uns.
Und wir gehorchten. Unendlich lange konnte er das Portal nicht offen halten. Es war Eile geboten. Denn auch dieser Zauber schwächte ihn.
Zuerst traten Selinia und Eerins Männer durch das Tor - und waren verschwunden. Dann Eerin selbst und dann ich. Das Durchschreiten des Portals setzte etwas in mir frei. Ein verborgener Teil meines Wesens wollte sich für immer an diese Form binden. Für immer.
Ich kam auf der anderen Seite heraus, in der großen, säulengesäumten Eingangshalle. Stiefel klackerten auf steinernem Boden. Es waren nicht meine. Nicht unsere. Es waren die Sohlen beschlagener Stiefel, die zu bewaffneten Soldaten gehörten. Blinzelnd sah ich mich um, blickte in die aufblitzenden, mir und meinen Freunden entgegengereckten Schwerter und auf uns gerichtete Pfeile, und spürte, dass irgendetwas ganz und gar nicht richtig war. Ich keuchte, wollte herumfahren, aber hinter mir wurden schlagartig zwei Speere gekreuzt. Es gab keinen Weg zurück.
»Erias!« Selinias Stimme.
Gerade, als ich herumfahren wollte, kam Karon durch den Schleier. Sein Umhang wehte um seine Gestalt, wie ein Paar aufgespreizte Flügel. Er reagierte schneller als ich. Seine Hand hob sich, streckte sich dem Feind entgegen, und eine Feuersbrunst, in Form einer lodernden Schlange, löste sich aus seiner Handfläche und stürzte sich den falsch gewandeten Männern entgegen.
Die Krieger trugen Harnische und Rüstungen, versehen mit einem Rabenwappen. Es waren Syras Männer. Ihre Leibgarde, ihr Heer aus Mördern und Verbrechern, und sie richteten ihre Waffen auf uns.
»Syra!«, grollte Karon. Er hob die zweite Hand und ein unsichtbarer Schlag aus zusammengeballter Magie streckte die Krieger nieder, die am nächsten zu uns standen. Er trat mit einem Schritt zwischen die bewaffneten Männer und uns und breitete abwehrend die Arme aus.
Kein Kampf brach aus. Aber etwas geschah dennoch. Rechts und links stoben Krieger auseinander. Sie bildeten einen Gang durch die Menschenmenge und eine hoch aufgerichtete, wunderschöne Frau mit rabenschwarzem Haar und einem ebenso dunklen Kleid schwebte zwischen ihnen hindurch, auf uns zu. Syras Blick fixierte nur eine Gestalt an. Er klebte auf Karon, fesselte ihn mit aller Macht an ihr Gesicht.
Etwas lief hier falsch.