Syras Schritte hallten in der Stille des Saals wieder. Zum zweiten Mal in meinem Leben sah ich der Frau ins Gesicht, die Karons Leben auf so vielen Wegen zerstört hatte. Leere schwemmte meine Wut davon.
Wir waren in die Falle gegangen, und keiner von uns, nicht einmal Karon, hatte es kommen sehen.
Syras stolzes Gesicht war von dicken, schwarzen Locken ummalt. Ihr Haar war hochgesteckt, aber weil es schwer und voll war, fielen ihr lose Strähnen vor die Augen. In ihnen lag etwas Animalisches. Etwas, das zu einem Tier, nicht aber zu einem menschlichen Wesen gehörte. Ihre Frisur wippte, bei jedem energischen Schritt, auf und ab. Sie schleifte die Schleppe eines langen, tiefschwarzen Kleides hinter sich her. Wäre sie nicht Syra, nicht die Rabenhexe und Herrin der Schatten gewesen, hätte ein solches Kleid lächerlich wirken können. Ihr jedoch schmeichelte es. Es umspielte ihren Körper wie ein Geflecht aus flüssigem Pech und glänzte im Licht der Fackeln, als würde es selbst in Flammen stehen.
Karon hielt ihrem Blick stand. Wenn sie Magie einsetzte, um ihn im Zaum zu halten, dann geschah es so unauffällig, dass weder Karon, noch ich, etwas davon mitbekamen. Der Whyndrir ließ sich keine Schwäche anmerken. Er betrachtete sie nur, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt.
»Du hast dir Zeit gelassen«, schnurrte die Hexe. Die Weite des Saals verschlang jedes Echo ihrer Stimme. Ihre Augen wanderten über jedes einzelne Gesicht. »Und ich sehe, du bringst vertraute Gesichter mit.« Als sie Selinia erspähte, flackerte ein Grinsen über ihre Mundwinkel. »Hallo, kleine Fee ohne Heimat.«
Ich zuckte zusammen. Aus den Augenwinkeln sah ich Selinia keuchen.
Karons Schultern strafften sich. »Ich war nicht darüber im Klaren, dass du uns so herzlich in Empfang nehmen würdest.«
Syra kam näher. Sie berührte ihn. Ihre Hand streifte durch den Stoff seiner Kleider hindurch, über sein Brustbein hinab. Ich hörte, wie Karons Atem ins Stocken geriet, und bemerkte, dass auch ich aufgehört hatte, nach Luft zu schnappen.
Sein Geist leerte sich. Mit einem Schlag wurde seine Gedankenwelt dunkler. Eine Welle aus Nichtigkeiten, aus angestauten, schlechten Gefühlen und ungesagten Dingen, überschattete das Glück auf seiner Seele. Karon hob die Hand, umschlang sanft, aber bestimmt ihr Handgelenk und schob es von sich. Dass ihm dieser Schritt schwerfiel, spürte ich sofort.
»Du hast mir dein Wort gegeben, meinen Freunden freies Geleit zu schenken.«
»Ich halte mein Versprechen«, raunte sie ihm zu. Sie wippte auf die Zehenspitzen und berührte seine Lippen mit ihren.
Ihre Augen schlossen sich und Karon reflektierte diese sanfte, aber bestimmte Geste. Er ließ die Lider sinken. Seine Hand berührte ihren Rücken. Er zog sie zu sich, sie umklammerte ihn. Ein Gemisch aus Liebe, Lust und Verlangen lag in der Luft. Karons Beherrschung schwand stetig. Der Whyndrir in ihm, das unbekannte, dunkle, naturbezogene Wesen, das seine Seele überschattete, drohte die Oberhand zu gewinnen. Sein rationales Denken wurde in den Hintergrund gedrängt.
›Karon‹, flüsterte ich seinen Namen in seinen Kopf. Ich rechnete nicht damit, dass er mich noch hören konnte. Umso erstaunter war ich, als sich seine Augen öffneten, er seine Hände an ihre Oberarme legte und sich behutsam von ihr löste.
Ihre Blicke brannten sich fest ineinander. Ich bemerkte Trauer darin, weil sie einander nahe sein wollten, und es nicht durften. Sehnsucht, weil sie so nah und doch so weit entfernt waren, und Unsicherheit, denn hier und jetzt einander die Hand zu reichen, besiegelte etwas, zu dem sie nicht bereit waren. Nicht jetzt jedenfalls.
»Syra«, murmelte er. Seine rechte Hand huschte zu ihrem Gesicht hinauf und strich über ihre Wange. »Bitte. Sei vernünftig. Wir wollten diesmal alles besser machen.«
Ein mattes Lächeln wischte die Härte aus dem Gesicht der Rabenhexe. »Das bin ich.«
Was daraufhin folgte, nahm ich nur am Rande wahr. Ich sah, wie ihre Hand hinabglitt, wie sie etwas umschloss, und danach in die Höhe schoss. Die restliche Bewegung verschluckte Karons Umhang. Aber ich hörte dieses vertraute, schleifende Geräusch und sofort klammerten sich seine Nägel fest in ihr Fleisch. Er schnappte nach Luft. Nur zwei Züge. Dann gaben seine Beine nach und er stürzte, sich noch immer an ihr festklammernd, auf die Knie.
Zwischen seinen Rippen steckte der Griff eines Dolches. Und irgendetwas sagte mir, dass dies keine normale Waffe war.
»Nein!« Ich stürzte los, und war fast bei ihm, als mich zwei Krieger packten und zurückhielten. »Nein!«, entfuhr es mir wieder. »Lasst mich los!«
Karon kämpfte. Etwas rann durch seine Venen. Etwas, das seinen Tod bedeutete. Möglicherweise Gift.
Seine Finger schlossen sich um den Griff des Messers. Er bekam es zu fassen, aber seinen zitternden Fingern fehlte plötzlich die Kraft, es herauszuziehen. Und schon war Syra da.
Sie sank ihm gegenüber in die Hocke, bettete sein Kinn in ihre Hand und wischte ihm ein paar lose Strähnen aus dem Gesicht. Sein schmerzerfüllter Blick begegnete ihrem. Keine Klarheit lag mehr darin. Ihre Hand kegte sich auf seine, verhinderte somit seinen kläglichen Versuch, sich von der Waffe zu befreien. Sie hielt ihn, während sein Kopf auf ihre Schulter sank.
»Nein!«, schrie ich wieder. Hinter mir war die Hölle losgebrochen. Ich hörte Stimmen, Waffen, die klirrend aufeinandertrafen, Schritte und Schreie. Ich musste nicht hinsehen, um zu begreifen, dass Eerin und seine Männer sich in den Kampf stürzten.
Aber in meinen Ohren pulsierte das Blut. Ich versuchte alles, um Karons Geist zu erreichen. Wenn ich ihm beistehen konnte, vielleicht konnte ich ihm dann etwas von seinem Schmerz nehmen? Konnte ich seine Gedanken davon ablenken, seiner Qual zu verfallen?
Wieso schadete ihm diese Waffe? Wieso tötete sie ihn?
»Schhht«, hörte ich die Hexe machen. Sie umschlang ihn mit ihren Armen. »Nur noch einen Augenblick. Das Gift der Shelkii wird dich schlafen lassen. Bald schon.«
»Du bist nicht Syra«, hörte ich ihn sagen.
Die Hexe lächelte zufrieden. »Nein.«
»Therion«, flüsterte der Whyndrir. Seine Augen weiteten sich. »Was hast du ihr angetan?«
»Wohlauf«, raunte ihm die Hexe zu. »Schlafend in ihrem eigenen Körper. Ausgewechselt, und unwissend. Aber am Leben. Ich dachte mir, nachdem wir beide eine so bewegte Vergangenheit haben, wird es dich freuen, wenn sie diejenige ist, die dir ein Messer ins Herz rammt. Die Frau, die dir Schmerz und Elend bringt.«
Ganz langsam hob der Dämon das Gesicht. Verständnis lag in seinen Augen. Seine Sinne trübten sich schleppend ein. Und dann sah ich etwas, das mir den Atem stocken ließ.
Zwischen den Steinen, die den Boden der Halle bildeten, schlängelten sich winzige, grüne Triebe hindurch. Wie Unkraut wucherten sie zwischen den grauen Steinen hindurch und berührten Karons Hände auf dem Boden, seine nackten Füße, seine Hose. Syra konnte es nicht sehen, aber mir blieb es nicht verborgen. Etwas kam aus der Erde um einen Pakt einzulösen, den er mit seinem Blut und seinem Leben besiegelt hatte. Die Erde Theremals würde ihn am Leben erhalten, bis jedes Staubkorn in Flammen stand, und im Gegenzug war es seine Aufgabe, für ein Gleichgewicht zu sorgen. Ob er bereits merkte, dass der Whyndrir-Geist in ihm dabei war, sein Leben zu retten?
»Mh«, kam es sanft von Syras Lippen.
Hinter mir wurde es immer stiller. Ich schaute zu den beiden Kreaturen am Boden hinüber und bäumte mich noch einmal im Griff der Krieger auf. So durfte ich es nicht enden lassen! Ich war kein Kind mehr. Ich wusste, was zu tun war. Wie ich ihn und uns alle retten konnte. Aber jetzt seine Kräfte anzuzapfen, konnte alles verschlimmern. Was, wenn ich ihm in seinem Zustand mehr schadete, als half?
Die Fingerbeeren der Hexe tasteten zärtlich über Karons Halsbeuge hinab. »So viele Jahre habe ich im Dunkeln darauf gewartet, dich zu finden. Ich wusste, dass du nicht tot bist. Ich hätte gespürt, wenn es dich vom Angesicht der Erde gewischt hätte.« Sie packte zu, schlang die Hand fest um seine Kehle und ließ ihn keuchen. »Du hast mir ein Leben lang Schmerz und Elend beschert. Mein Körper ist zerfallen. Dein Zauber hat mich aufgefressen und vernichtet. Ich lasse dich nicht einfach so gehen. Ich will, dass du zusiehst, wie ich deine Liebste töte, dir alle Freuden nehme, und dein Leben aufsauge. Ich will zusehen, wie du dich am Ende deiner Kräfte in Ketten windest und mich anflehst, noch einmal ein Messer in dein Herz zu rammen. Ich werde es niemals tun. Nie.« Ruckartig ließ sie von ihm ab, stemmte sich hoch und rief ihren Kriegern zu: »Tötet die Fee!«
In meinem Kopf ging etwas zu Bruch. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie alle Krieger, die noch stehen konnten, sich mit einem Mal um Selinia scharten. Wie Syras Männer ihre Schwerter schwingend auf sie zustürmten, und der Kampf erneut an Fahrt aufnahm. Eerin, allen voran, stürzte sich kreischend in ein Meer aus Kämpfern, und dabei wäre es so einfach für Karon gewesen, diesen Kampf zu beenden.
›Bitte!‹, flehte ich ihn an. ›Komm zu dir!‹
Seine Gedankenmauer schmolz dahin. Darunter lag eine seltsam vernebelte Ebene aus rotem Schmerz und sengend Hitze. Ich sah, wie Syra sich von ihm entfernte, wie Karon beide Hände brauchte, um sich am Grund abzustützen, und nicht vornüber auf die Steine zu stürzen. Aber ich bemerkte auch, wie eine einzelne, dicke aus dem Boden hervorgewachsene Ranke ihre Enden um den Griff des Dolches schlang und ihn mit einem widerlichen Laut langsam aus seinem Fleisch zog.
Es klirrte. Geräuschvoll fiel der Dolch, mit seinem roten Blut bedeckt, zu Boden, aber im Kampfgetümmel bekam niemand etwas davon mit. Nur ich. Schlagartig öffnete sich Karons Geist. Er atmete ein und aus, stemmte sich auf die Knie hoch, bettete die Hände auf die Oberschenkel und zog aus den zarten Pflänzchen, die nur zu seiner Rettung gekommen waren, einen Schwall lebensspendender Energie.
›Karon..?‹
Mit aller Macht versuchte ich an sein Bewusstsein heranzukommen, aber eine Mauer, die er zum Schutz seiner Gedanken errichten konnte, lag über seinem Bewusstsein. Der Whyndrir. Stärker als je zuvor spürte ich, wie diese Heilung, diese ungewollte Rettung, Karons Geist niederrang und seine Empfindungen auf primitive Instinkte beschränkte. Die winzigen Pflanzen, die um ihn herum zwischen den Steinen hervorgekrochen waren, wurden braun, schrumpelten langsam zusammen und starben an seiner Stelle. So viel war Theremal sein Leben wert.
Zum ersten Mal offenbarte sich mir mitten in meinem Schrecken, wie viel von ihm ich bereits verloren war. Jedes Mal, wenn dieses dunkle Wesen die Oberhand gewann, ging etwas von ihm zu Bruch. Diesmal konnte ich es nicht sehen. Es war anders, als bei den Zhian-Ag, aber auch hier nahm ich seine Seelenrisse wahr.
Ich warf den Kopf herum und irgendwie gelang es mir, einen Arm freizubekommen. Wie von Sinnen schlug ich nach dem Mann, der rechts von mir stand. Ich traf ihn hart mitten ins Gesicht. Eine Schmerzwelle rauschte über meine Hand hinweg. Ich brüllte auf. Meine Hand schwoll augenblicklich an. Aber ich gab nicht auf. Nicht jetzt.
»Selinia!«, schrie ich, fuhr herum und huschte zu ihnen. Ich musste sie retten. Ich-
Just in diesem Augenblick packte mich jemand am Handgelenk. Finger saßen wie Schraubstöcke auf meiner Haut. Ich fuhr herum und sah, dass es Karon war.
»Erias!«, fauchte er meinen Namen. Seine grünen Augen hatten sich schwarz gefärbt und das Weiß darin fast vollständig verdrängt. »Nicht..«
»Ich muss sie retten! Ich -«
Er ließ nicht locker. Um ihn herum, begann die Luft zu vibrieren. Er wob den Zauber, er traf die Entscheidung über meinen Kopf hinweg.
»Nein!«, fauchte ich, zerrte an seinem Griff. »Nein, ich-«
Hinter uns erscholl ein Schrei. Zornig war das Wesen in Syras Körper herumgefahren. Schnellen Schrittes, mit zornigen Blicken und zum Zaubern vorgestreckten Händen hastete sie auf uns zu. Auf ihren Handflächen bildeten sich winzige, scharlachrote Blitze.
»Komm jetzt!«, herrschte Karon mich an. »Wir können nicht alle retten!« Er ließ mein Handgelenk los und schlang beide Arme von hinten um mich. Ich kam nicht frei. Es gab kein Entrinnen.
Aber nicht alle schloss Selinia ein. Ich wollte zu ihr. Wollte helfen. Den Kampf beenden, einschreiten. Also kämpfte ich gegen ihn. Mit allem, was ich besaß, auch wenn es nicht genug war. Nie genug sein würde.
Alles, was uns umgab, begann die Form zu verlieren. Der Raum drehte sich, der Zauber wirkte. Es zerrte uns fort, riss uns aus der Empfangshalle und dem Kämpfen heraus in eine andere, eine größere, eine von Magie erfüllte Wirklichkeit.
Ich schrie, als die Mauern des Schlosses verschwanden, als der Mond über uns langsam sichtbar wurde, und ich frische, freie Luft atmen konnte.
»Nein!«, begehrte ich auf, bäumte mich im Griff des Dämons auf.
Schwer atmete er mir ins Ohr. Er stürzte, und riss mich mit sich. Gemeinsam sanken wir in die Knie. Ich weinte. Plötzlich waren überall auf meinem Gesicht Tränen. Ich schaute noch immer dorthin, wo eben noch Selinia gestanden hatte, und nun nichts als Leere war.
»Es tut mir leid«, wisperte der Dämon leise in mein Ohr.
Dann lockerte sich sein Griff. Sein Leib wurde schwer und ungelenk. Ich spürte, dass er fiel, drehte mich im Sitzen herum und konnte ihn gerade noch auffangen, ehe er nach hinten kippen und hart auf dem Boden aufschlagen konnte.
Ich sah auf meine blutbesudelten Finger hinab. Sein Blut. Whyndrirblut. Er sah mich an, flüchtig, ein letztes Mal, dann sank er zusammen, stürzte schwer und wehrlos gegen meine Schulter, und obwohl ich wütend war, ihn anschreien und mit meinen Fäusten auf ihn einschlagen wollte, tat ich nichts von alledem.
Mit angehaltenem Atem kippte ich ihn mit dem Kopf in meinen Schoß und sah zu den Sternen hinauf. Meine Hand fuhr durch das Haar auf seiner Stirn. Es klebte vor Schweiß. Ein bitterer Gruß des namenlosen Giftes, das der Dolch in seinen Körper gepresst hatte.
Seine Wunde blutete stark. Ich war kein Heiler, und ich besaß nichts, womit ich sie hätte verbinden können. Also tat ich, was ich für jeden Sterbenden getan hätte. Ich fuhr ihm mit der Hand über den Kopf, wie einem kranken Hund und flüsterte immer wieder, dass alles gut werden würde, bis ich es selbst glauben wollte.
Dann schloss ich die Augen und eine selige, sanfte Ohnmacht trug meine Gedanken von Selinia fort, die vielleicht schon tot war. Weg von Karon, der in meinen nutzlosen Armen verblutete, hin in eine andere, eine bessere Welt.
Das letzte Bild, das sich vor meinen Augen abzeichnete, waren zwei glimmende, blaue Edelsteine, die aus dem Dunkel hervorstachen und sich ganz langsam auf mich zu bewegten. Dann gingen auch sie verloren. Und mit ihnen, alles Drumherum.