Wolfsbrüder
»Da entlang!« Mit ausgestreckter Hand wies Selinia einer Gebirgskette entgegen. Die weißen Kuppen der Bergspitzen hingen tief in den Wolken. Am Fuße der Berge jedoch erhoben sich sanfte Rauchschwaden in die Lüfte. Sie wandte sich ab, sprang von dem kleinen Felsvorsprung herab, auf den sie geklettert war, und kehrte zu dem sitzenden Zer zurück. »Ich sehe ein Dorf. Es ist weit, aber wir könnten morgen dort sein. Glaubst du, dass du gehen kannst?«
Sein Bein blutete. Es war mit dem Stoff seines Hemdes umwickelt und notdürftig mit Hilfe zweier Äste geschient, um es zu entlasten. Ein Schwerthieb hatte es getroffen und einmal von hinten nach vorn glatt durchdrungen. Sein Gesicht war blutig geschlagen, Prellungen ließen seine Arme in allen Farben schillern. Er nickte dennoch, streckte der Fee die Hände entgegen und ließ sich von ihr auf die Beine helfen.
»Hier.« Sofort reichte ihm Selinia den langen, knöchernen Ast, den sie aufgelesen hatte. Er diente dem verletzten Krieger als Wanderstab. Ihm allein schuldete Eerin, dass sie so weit gekommen waren.
»Du bemutterst mich«, tadelte er sie.
»Einer muss es tun!«, erwiderte Selinia stur. »Du bist unvernünftig. Wir hätten ein Feuer machen und uns ausruhen sollen. Aber nein, der feine Herr möchte unbedingt so schnell und so weit vom Schloss fort, wie seine eineinhalb Beine ihn tragen.« Sie rollte mit den Augen, wurde allerdings sofort wieder ernst und bezog Posten an Eerins Seite. »Was machen die Schmerzen?«
»Sind erträglich. Ich mache mir mehr Sorgen um den Rest von uns.«
Damit meinte er die Männer, die im Schloss im Gefecht zurückgeblieben waren. Jene, die nicht so viel Glück hatten und fliehen konnten - und natürlich Erias und Karon, die seither verschwunden waren. Im ersten Moment hatte Selinia ihnen ihre abrupte Flucht übel nehmen wollen. Aber nachdem sich der Rauch verzogen hatte, und sie wieder klar denken konnte, war ihr bewusst geworden, dass es möglich war, zu zweit im Kampfgemenge zu entkommen. Zu viert jedoch war es fast unmöglich. Ohne sich aufzuteilen, wären sie Syra vielleicht alle zum Opfer gefallen. Ihre einzige Chance bestand darin, schnell und weit vom Schloss fortzukommen, ehe Syra ihre Truppen noch einmal sammeln und Jagd auf sie machen konnte.
»Ich bin sicher, es geht ihnen gut«, sagte sie prompt. Auch wenn es dafür keinerlei Anzeichen gab, spürte sie, dass die Erde ihr diese Wahrheit offenbarte. »Karon wird uns finden.«
»Karon ist vergiftet worden«, erwiderte Eerin entschieden. »Wir müssen uns darauf konzentrieren, Erias zu finden. Der Junge ist am Leben.«
»Du solltest ein klein wenig Vertrauen haben. Natürlich ist Erias am Leben. Karon ist bei ihm. Ich bin mir sicher, sie suchen schon nach uns.«
»Und woher sollen sie wissen, dass wir hier draußen sind?« Kopfschüttelnd blickte der Halbengel in die Ferne. »Niemand weiß, wo wir sind. Und wenn wir ehrlich sind, dann wissen nicht einmal selbst, wo wir hier sind.«
Nein, das wussten sie nicht. Sie waren aus dem Schloss gestürmt und so lange weiter gerannt, bis Eerins Bein sie zur Rast zwangen. Im Eifer des Gefechts hatte er sich einen Schwerthieb eingefangen, der sein Bein einmal glatt durchstochen hatte. Ob Muskeln und Sehnen verletzt und vielleicht sogar der Knochen geschädigt war, wussten sie noch nicht. Sie hatten Fuß und Bein geschient, denn im Moment gab es nichts Wichtigeres, als voranzukommen.
»Verstehst du, was im Schloss passiert ist?«, hakte er plötzlich nach.
Die Düsterfee schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Karon wird uns aufklären, wenn er uns gefunden hat.«
»Wenn er überhaupt nach uns suchen wird«, entgegnete der Zer mürrisch. »Er hat uns zurückgelassen.«
»Um Erias zu schützen. Wir haben einen Pakt geschlossen. Er hat richtig gehandelt. An seiner Stelle hätte ich das Selbe getan.« Sie stieß den Zeren mit dem Ellenboden an. »Los, wir müssen weg von hier. Je weiter, desto besser!«
Eerin humpelte kopfschüttelnd weiter. »Und da sagt man, ich wäre gnadenlos.«