Schließlich traf die ersehnte Pause endlich ein. Yukiko bedankte sich artig bei ihrer Lehrerin und sah dann zu, dass sie schnellstens aus dem stickigen Lehrraum hinauskam. Sie trat ins Freie, glücklich darüber, endlich wieder einmal ein wenig Zeit für sich zu haben, selbst wenn es nur eine Stunde war - das Unterrichtsprogramm, das Sakuya für ihre Tochter aufgestellt hatte, war wirklich rigoros.
Nach der Pause würden Yukiko die musischen Aktivitäten erwarten – etwas, wovor es ihr jeden Tag aufs Neue graute. Fürs Tanzen war sie nicht graziös genug, ihre Bilder sahen aus wie die eines Kindes und auch für Musik oder Blumenarragements hatte sie kein Gefühl. Kurzum – alle Aktivitäten, die als 'typisch weiblich' angesehen wurden, lagen ihr nicht.
In dieser Hinsicht beneidete Yukiko Riho. Ihr Kammerfräulein strahlte eine Eleganz und Anmut aus, die die junge Adelstochter noch nicht einmal unter größten Mühen aufbringen könnte. Sowieso war Riho für ein Leben in der gehobenen Gesellschaft mit Sicherheit um einiges besser geeignet als Yukiko.
Die Schwarzhaarige nahm die kleine Treppe und betrat den Garten. Der süße Duft der prachtvollen Blumen lag in der Luft, die Sonnenstrahlen schienen sanft auf Yukikos Haut und lösten ein wohlig-warmes Gefühl in ihr aus.
Sie beschloss, ihre freie Zeit an solch einem schönen, sonnigen Tag wie dem Heutigen im Freien zu verbringen. Meistens kehrte sie in ihr Zimmer zurück oder setzte sich ins Archiv, in dem sich Katsuya meistens unter dem Vorwand, dort abstauben zu wollen, aufhielt. Ihr Kindheitsfreund mochte Bücher und vertrieb seine seltene Freizeit überwiegend mit Lesen. Und Yukiko selbst liebte es, wenn er ihr eine der alten Erzählungen und Legenden, die im Archiv zuhauf vorhanden waren, vorlas; in diesen Momenten fühlte sie sich in die Tage ihrer Kindheit zurückversetzt, in denen ihr regelmäßig Geschichten erzählt wurden.
Yukiko schlenderte den schmalen, steinernen Pfad, der sich durch den Garten zog, entlang. Riho folgte ihr – wie immer.
„Heute ist ein wahrlich herrlicher Tag, findet Ihr nicht auch, junge Herrin?“, fragte das Kämmerfräulein schließlich mit beschwingter Stimme. „Es wäre wirklich eine Schande gewesen, ihn im Haus zu verschwenden!“
Yukiko nickte.
„Das stimmt. Aber ich glaube nicht, dass sie lange anhalten werden...“
Riho seufzte.
„Das ist leider wahr; das Wetter hier, in der Asami-Provinz, ist wirklich äußerst wechselhaft...“
Und meistens eher schlecht als recht. Die einzigen wirklich angenehme Tage waren die des Frühlings. Im Sommer war es Yukikos Meinung nach viel zu heiß, im Herbst herrschte Dauerregen und der Winter war bitterkalt. Bedauerlicherweise gehörte das Wetter zu jenen Dingen des Lebens, gegen die man absolut machtlos war.
Am kleinen Weiher im Zentrum des Gartens blieben die beiden Mädchen stehen. Ein großer, alter Baum warf seinen Schatten auf ihn, einige große Steine markierten das Ufer. Yukiko ließ sich auf einem von ihnen nieder; seine Fläche war glatt, hatte sich im Licht der Sonne angenehm aufgeheizt.
Das Mädchen schloss seine Augen und genoss die friedliche Atmosphäre, die hier, im Herzen des Anwesens, herrschte. Riho setzte sich neben sie.
Eine Weile lang schwiegen sie beide. Das Kammerfräulein war diejenige, die zuerst das Wort ergriff.
„Ich bedauere wirklich, dass ich nichts zum Schreiben bei mir habe; dieser Ort ist immer wieder die ideale Inspirationsquelle...“
Sie seufzte bedauernd.
Yukiko hingegen war recht froh darüber. Rihos liebstes Hobby war das Schreiben von Gedichten und Kurzgeschichten. Das ältere Mädchen mochte zwar so seine Talente haben, doch die Poesie gehörte ganz gewiss nicht dazu. An sich wäre es Yukiko ja gleichgültig, doch unglücklicherweise war sie stets diejenige, der Riho ihre Werke als erste vortrug...
Die Schwarzhaarige schenkte ihrer Vertrauten ein Lächeln.
„Keine Sorge, Riho, heute wird sicherlich nicht der letzte schöne Tag des Jahres gewesen sein. Beim nächsten Mal wirst du sicherlich daran denken.“
Sie zuckte die Schultern.
„Ja, ich hoffe es...“
Yukiko wandte sich wieder von ihrer Freundin ab und sah hoch, zum blauen Himmel, an dem einige wenige, weiße Wolken vorbeizogen. Das einzige, das sie sich momentan wirklich wünschte, war, dass sie noch sehr viele, harmonische Tage wie diese erleben würde. Sie hatte das Glück gehabt, in friedliche Zeiten hineingeboren zu werden, dass sie Jahre des Aufschwungs und Fortschritts erleben durfte und keine der schrecklichen Seuchen der Vergangenheit ihre Heimat bedrohten. Sicher, es gab noch immer viele Dinge, die im Argen lagen, doch auch dort zeichnete sich eine Besserung ab.
So gesehen war die junge Frau mit ihrem Leben wirklich zufrieden.
Das Rascheln von Blättern brachte das Mädchen dazu, ihren Blick vom Himmel ab- und ihrer direkten Umgebung zuzuwenden. Dann sah sie den Verursacher des Geräusches – Katsuya war allem Anschein nach an einem Strauch hängen geblieben.
Yukiko gab sich größte Mühe, ein Kichern zu unterdrücken, doch Rihos Reaktion war – wie jedes Mal im Umgang mit Katsuya – nur wenig rücksichtsvoll.
„Wahrlich, es ist bemerkenswert, wie du all diese Jahre überleben konntest, obwohl dir noch nicht einmal so grundlegende Konzepte wie die der Pflasterwege bekannt sind“, meinte sie mit einem falschen Lächeln. „Sie sind wirklich praktisch – wenn du ihnen folgst, vermeidest du mit ziemlicher Sicherheit unangenehme Zusammenstöße mit Gesträuch und Bäumen.“
Ein wenig ungeschickt befreite der Junge seinen Hakama von den dornigen Ästen des Strauchs und warf Riho einen verschüchterten Blick zu.
„Ich... habe ihn nicht gesehen...“
„ 'Nicht gesehen', sagt du. Sag mir, bist du etwa blind?“
Er schüttelte leicht den Kopf.
„Das nicht, aber-...“
Yukiko entschloss sich dazu, diese unnötige Diskussion zu beenden.
„Hast du mich gesucht, Katsuya?“
Der Bedienstete, der über den Themenwechsel sichtlich froh war, nickte.
„Ja, junge Herrin. Eure Frau Mutter hat mich darum gebeten, Euch von ihr auszurichten, dass sie Euch zum Tee erwartet. Sie hat sich bereits zum Empfangsraum begeben.“
Yukiko runzelte die Stirn. Normalerweise war ihre Mutter den gesamten Tag über ziemlich beschäftigt, sodass sie nur sehr selten die Gelegenheit bekam, sich vor dem Abendessen mit ihr zu besprechen... War denn etwas Wichtiges vorgefallen?
„Hat sie dir denn gesagt, was genau sie von mir möchte?“
Katsuya verneinte.
„Einem einfachen Bediensteten wie mir würde die Herrin gewiss keine derartig vertraulichen Nachrichten anvertrauen...“, entgegnete er; Yukiko kam nicht drumherum, den bitteren Unterton zu ignorieren.
Riho lächelte wieder, diesmal süffisant.
„Dafür wird sie sicherlich gute Gründe haben.“
Sowohl Yukiko als auch Katsuya ließen diese letzte Bemerkung unkommentiert. Allerdings hatte Riho mit ihren Worten nicht vollkommen Unrecht; Yukiko wusste zwar nicht, was genau vorgefallen war, doch ihre Mutter und der Bedienstete pflegten eine äußerst seltsame Beziehung. Zwar war Sakuya allgemein für ihre Strenge bekannt – auch und besonders ihrer Tochter gegenüber - , doch gerade mit Katsuya schien sie äußerst hart ins Gericht zu gehen...
Aber vielleicht steigerte sich Yukiko auch zu sehr in die Sache hinein.
Sie nickte ihm zu.
„Danke. Ich werde gleich zu ihr gehen.“
Mit diesen Worten erhob sich die junge Frau von ihrem Platz und begab sich zum Empfangsraum, Riho und Katsuya hinter sich zurücklassend.
Als Yukiko schließlich vor der Türe des Teezimmers stand, zögerte sie einen Moment lang. Hastig strich sie ihr Gewand glatt und hoffte, dass ihre Haare nicht allzu schief saßen, ehe sie letztendlich die Türe aufschob und vorsichtig eintrat.
„Du hast mich warten lassen, Yukiko.“
Das Mädchen verbeugte sich entschuldigend.
„Verzeiht bitte, Mutter.“
Sakuya, die bereits auf dem Sitzkissen vor dem niedrigen Tischchen saß, deutete auf den freien Platz ihr gegenüber.
„Setze dich, bitte.“
Yukiko tat, wie ihr geheißen wurde; ihren Blick hielt sie gesenkt, darauf wartend, dass ihre Mutter wieder das Wort ergriff.
Das Mädchen hatte die hellbraunen Augen ihrer Mutter, doch kam ansonsten im Großen und Ganzen mehr nach seinem Vater. Sakuya war eine hochgewachsene, anmutige Frau. Ihr langes dunkelbraunes Haar war zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt, ein gerader Pony und einige lose Strähnen rahmten ihr Gesicht ein. Sie trug einen dunkelroten, zweilagigen Kimono, der mit weißen Blumenmotiven bestickt worden war, ihr Gesicht war nur dezent geschminkt. Genau wie Yukikos Vater stammte auch Sakuya aus einer angesehenen Familien, die ihre Heimat allerdings in einer anderen Provinz hatte.
Yukiko selbst kannte die mütterliche Verwandtschaft bestenfalls flüchtig, war der Kontakt schließlich nur sehr sporadisch.
„Deine Fortschritte des bisherigen Tages sind zufriedenstellend, nehme ich an?“, fragte Sakuya, während sie ihrer Tochter ein wenig Tee in den kleinen Porzellanbecher eingoss.
Das Mädchen nickte.
„Ja Mutter. Heute habe ich mich mit den aktuellen kaiserlichen Edikt befasst, das eine neue Regelung bezüglich der Zollsteuern der einzelnen Provinzen beinhaltet. Außerdem war die Rolle der Asami-Provinz während des zweiten großen Bürgerkriegs zu Zeiten von Kaiser Izayoi no Seien ein Thema meiner Studien...“
Sakuya wirkte zufrieden.
„Es ist von großer Bedeutung, sich sowohl über aktuelle als auch historische Ereignisse informiert zu sein. Lerne aus ihnen und versuche sie, zu deinem Vorteil zu nutzen.“
Yukiko lächelte artig, fragte sich jedoch noch immer, worauf ihre Mutter eigentlich hinauswollte; sie konnte sich nicht vorstellen, dass Sakuya aus ihrem gewohnten Rhythmus ausbrach, nur um mit ihrer Tochter über ihren Lernfortschritt zu sprechen – normalerweise tat sie das immer beim Abendessen.
Die ältere Frau nahm einen Schluck aus ihrer Teetasse. Yukiko nahm ihre eigene in die Hand, trank jedoch nicht aus ihr und betrachtete stattdessen nachdenklich die helle, bräunliche Flüssigkeit; sie mochte den bitteren Geschmack des grünen Tees nicht sonderlich. Die milderen Sorten waren ihr lieber, doch diese gehörten nicht gerade zu Sakuyas Favoriten...
Die Edeldame setzte ihren Becher schließlich ab und sah Yukiko direkt in die Augen.
„Nun denn, es gibt etwas, über das ich mit dir sprechen möchte.“
Die Tochter sah auf; Neugier, aber auch eine ungute Vorahnung machte sich in ihr breit.
Sakuya sprach weiter.
„Du bist nun schon 17 Jahre alt und in wenigen Monaten wirst du dein achtzehntes Lebensjahr erreichen. Dein Vater und ich haben lange diskutiert, doch letztendlich sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es nun endlich an der Zeit ist, einen Ehegatten für dich auszuwählen.“
Yukikos Magen zog sich zusammen. Diese Ankündigung kam nicht unerwartet, ganz im Gegenteil: Eigentlich war es verwunderlich, dass ihre Eltern so lange damit gewartet hatten, wurden die meisten Verlobungen in der gegenwärtigen Zeit zwischen dem sechzehnten und dem achtzehnten Lebensjahr geschlossen. Dennoch hatte das Mädchen gehofft, dass dieser Tag noch nicht so bald kommen würde...
Sie seufzte.
„Mutter, ist dies unbedingt notwendig? Die Zeiten, in denen eine Frau auf eine Heirat angewiesen ist, sind schon lange vorbei...“
Besonders wenn man bedachte, dass sogar Kaiserin Akiko, die vor gut 1000 Jahren geherrscht hatte, Zeit ihres Lebens unverheiratet geblieben ist. Dieser Fakt wurde allerdings sehr gerne unter den Teppich gekehrt.
Doch Sakuya fixierte sie eines strengen Blickes.
„Du weißt sehr wohl, dass es weniger darum, als um unseren gesellschaftlichen Ruf geht. Was würden die Verwandtschaft und die anderen Familien von uns denken, wenn wir unserer Tochter noch nicht einmal einen standesgemäßen Ehepartner bieten könnten?“
Selbstverständlich war dies die größte Sorgen ihrer Mutter: Das, was die anderen von ihr denken würden. In den höheren Gesellschaftsständen war das Bild, das nach außen abgegeben wurde, von großer Bedeutung, Tratscherei stand dort – genau wie überall – an der Tagesordnung. Und natürlich war jeder Mutter und jeder Vater darauf aus, dass ihr Sprößling einen in ihren Augen idealen Partner fanden und Ansehen erlangten.
Yukiko jedenfalls wusste, dass es keinen Wert hatte, mit ihrer Mutter darüber zu diskutieren; ihr Vater neigte noch eher dazu, die Meinung seiner Tochter zu unterstützen, doch zum einen war er momentan nicht da und zum einen konnte er sich sowieso nicht gegen seine Frau durchsetzen.
Dennoch missfiel ihr der Gedanke, widerstandslos eine aufgezwungene Verlobung hinzunehmen, ziemlich.
„Ich möchte nicht respektlos sein, Mutter, aber ich fühle mich noch zu jung für solch einen großen Schritt...“, begann sie vorsichtig.
Sakuya winkte ab.
„Eine Verlobung ist noch keine Hochzeit. Außerdem werden dich selbstverständlich angemessen auf diesen neuen Lebensabschnitt vorbereiten. Alles, was wir von dir verlangen, ist, dass du uns keine Schande bereitest.“
Schande.
Wie sehr Yukiko dieses Wort verabscheute... So gut wie alles, was nicht den Erwartungen der Gesellschaft entsprach, wurde heutzutage sofort als „Schande“ tituliert. Es war wahrlich ungerecht, da man manchmal einfach machtlos gegen diese Entwicklungen war...
Das Mädchen beschloss jedenfalls, fürs Erste einzulenken; später, wenn sich eine bessere Gelegenheit bot, würde sie ihre Bedenken nochmals ansprechen.
„...Schwebt Euch denn schon jemand vor, Mutter?“
Die Brünette nickte.
„Ja, dein Vater und ich haben uns schon mit anderen Familien in Verbindung gesetzt und uns über mögliche Kandidaten erkundigt; einer der Söhne des Amemiya-Klans scheint einen guten Eindruck zu machen. Ihr beiden seid zudem im gleichen Alter, weswegen wir eine Kontaktaufnahme in Erwägung ziehen sollten.“
Yukiko nickte schweigend. Die gesamte Situation erschien ihr noch immer ein wenig surreal, wie ein schlechter Scherz; es war ein wirklich unangenehmes Gefühl.
Sakuya jedenfalls schien mit sich selbst ziemlich zufrieden zu sein. Sie hob ihren Teebecher an und nippte erneut an ihm.
„Ich bin mir sicher, dass dies der richtige Weg ist, Yukiko“, meinte sie schließlich, die Tasse noch immer in der Hand haltend.
Ihr Tonfall klang nun geradezu beschwichtigend
„Ich war so alt wie du, als ich mich mit deinem Vater verlobte und zwanzig, als wir letztendlich heirateten. Zu Beginn war ich mir ebenfalls sehr unsicher, glaubte ich zu jener Zeit doch noch an die 'wahre Liebe'. Inzwischen weiß ich jedoch, dass meine Eltern die richtige Entscheidung getroffen haben und das Leben, welches ich nun führe, das bestmögliche ist.“
Wahrscheinlich sagte sie das nur, weil sie sich schon zu sehr an ihren Alltag gewöhnt hatte und sich nichts anderes mehr vorstellen konnte. An sich hatte Yukiko kein Problem damit, zu heiraten und eine Familie zu gründen, aber nicht so schnell und nicht mit jemanden, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie wollte zuerst noch über viele Dinge überhaupt erst klar werden, andere Orte bereisen, einen Partner finden, den sie wirklich liebte, mit dem sie sich ein solches Leben überhaupt erst vorstellen konnte.
Doch der Druck und die Erwartungen, all die gesellschaftlichen Normen, hatten hier, in Izayoi, schon immer einen sehr hohen Stellenwert eingenommen. Jeder, unabhängig seines Standes, war mit ihnen vertraut und gab Zeit seines Lebens sein bestes, um ihnen Genüge zu tun.
Wie die meisten Kinder wollte natürlich auch Yukiko ihre Familie stolz machen; es wäre für sie kaum zu ertragen, wenn sich ihre Eltern für sie schämen müssten.
Aber trotzdem, das Leben musste doch aus mehr als nur daraus bestehen, oder etwa nicht?