Die heutige Nacht war vollkommen sternenlos. Lediglich das Licht des Halbmondes schimmerte schwach durch die Wolkendecke, die den Himmel bedeckte.
Katsuya störte sich nicht daran, im Gegenteil: Er mochte die Dunkelheit. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, nach Einbruch der Nacht alleine durch den verlassenen Garten des Anwesens zu wandern, die Einsamkeit und Stille genießend.
Und nun saß er da, auf einem der großen, kühle Steine und blickte auf die stille Oberfläche des Teiches, der sich vor ihm erstreckte. Das einzige, das die Ruhe durchbrach, war das Zirpen der Insekten und der ferne Schrei eines Nachtvogels. Die Nacht war kühl, aber auf eine angenehme Art und Weise.
Katsuya verbrachte seine Zeit am liebsten alleine. Er mochte den Kontakt mit anderen Menschen nicht sonderlich. Yukiko stellte dabei eine der wenigen Ausnahmen dar, kannte er sie praktisch seit seiner Kindheit, doch selbst der Umgang mit ihr machte ihn nervös – was nicht nur durch den doch recht großen Standesunterschied bedingt war.
Es waren nicht die argwöhnischen Blicke oder die bissigen Bemerkungen der anderen Bediensteten, die ihn hauptsächlich belasteten, sondern die Dinge , die er sah.
Die Bilder und Szenen offenbarten sich ihm nur sehr unregelmäßig, unwillkürlich. Katsuya hatte nur eine bedingte Kontrolle über diese Fähigkeit; tatsächlich wusste er noch nicht einmal, wie sie überhaupt funktionierte. Er konnte zwar bis zu einem gewissen Grade Einfluss auf sie nehmen, doch wie weit dies war hing vor allem Dingen von seinen Mitmenschen ab.
Sie war schon immer da gewesen, zumindest solange er sich erinnern konnte. Als Kind hatte er geglaubt, dass diese Fähigkeit etwas vollkommen natürliches war, etwas, was jeder Mensch besaß, weswegen er sich daher nie etwas dabei gedacht hatte. Aber je älter er wurde, desto bewusster wurde ihm auch, dass es alles andere als „normal“ war, Visionen zu sehen.
Zumeist waren es nur Kleinigkeit, nichtige Begebenheiten aus dem Leben seiner Mitmenschen, die sich in naher Zukunft zutragen würden. Manchmal waren es allerdings auch Geschehnisse der Vergangenheit, welche sich ihm offenbarten – wobei es ihm oftmals nicht leicht fiel, das Vergangene vom Zukünftigen zu trennen. Meistens traten sie auf, wenn Katsuya in direkten Kontakt mit anderen trat und der andere in irgendeiner Art und Weise aufgewühlt, bedrückt oder in einer sonstigen Art und Weise emotional geladen war – ein Grund mehr, ihre Gesellschaft zu meiden.
Bisher waren Yukikos Eltern die einzigen, die um sein „Talent“ wussten. Die übrigen Bewohner des Anwesens gingen schon wegen seiner ungewöhnlichen Augenfarben äußerst argwöhnisch mit ihm um; wie würden sie also reagieren, wenn sie wüssten, dass Katsuya einer dieser „Unheilsbringer“ war? Obwohl seine Fähigkeit, anders als die der anderen Unglücklichen, niemandem ein körperliches Leid tun würde...
Er seufzte leise und sah auf.
Wie spät es inzwischen wohl schon war? Der Junge hatte noch nie ein sonderlich gutes Zeitgefühl gehabt...
Morgen würde wieder ein recht anstrengender Tag werden, weswegen er den Schlaf eigentlich brauchte.
Katsuya erhob sich mühevoll von seinem Sitzplatz; auch wenn er es nicht wirklich wollte, so sollte er allmählich zu dem Quartier, welches er sich mit zwei anderen Angestellten teilte, zurückkehren.
Er wollte sich gerade in Bewegung setzen, als er auf einmal ein Rascheln hörte. Der Schwarzhaarige erstarrte sofort.
Was war das? Ganz sicherlich nicht der Wind... Vielleicht ein Tier? Nein, dafür klangen die Schritte zu schwer...
Vorsichtig näherte er sich der Quelle des Geräusches. Katsuya spürte, wie er zusehends nervöser wurde; wahrscheinlich war dieses Gefühl übertrieben, war das Anwesen doch ziemlich gut bewacht und geschützt. Auf anderen Seite wäre dies aber nicht das erste Mal, dass es einen Zwischenfall gab; der letzte und bisher einzige lag zwar bereits sechs Jahre zurück, aber trotzdem...
So etwas wie absolute Sicherheit existierte einfach nicht.
Trotzdem, der Junge würde zuerst einmal die Lage ausspähen, ehe er die Wachen informierte. Dies war zwar sicherlich keine wirklich vernünftige Entscheidung, aber zum einen wollte Katsuya die Pferde nicht unnötig scheu machen und zum anderen gab es irgendetwas, das ihm sagte, dass von dieser Person, die durch den Garten streifte, keine Gefahr ausging... Er selbst trieb sich schließlich ebenfalls mitten in der Nacht im Freien herum, was auf einen Außenstehenden sicherlich nicht weniger verdächtig wirken mochte.
Der Schwarzhaarige blieb hinter einem der Bäume stehen und lugte vorsichtig nach vorne.
Dort, bei einem der Blumenbeete, stand eine Person. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, doch da es ziemlich dunkel war und Katsuya auch unter normalen Umständen sowieso keine sonderlich guten Augen hatte, wäre es ihm auch bei einer direkten Gegenüberstellung unmöglich gewesen, ihr Gesicht zu erkennen.
Sicher war jedoch, dass es eine Frau oder ein Mädchen war. Sie stand nun regungslos da, schien in die Ferne zu starren.
Katsuya, der eine leise Ahnung hatte, um wen es sich bei dieser Person handeln könnte, trat hinter dem Baum hervor. Er streifte einen der Büsche; das Rascheln ließ das Mädchen, welches seine Anwesenheit jetzt erst registrierte, zusammenzucken.
„W-Wer ist da?“
Sie wandte sich schnell zu ihm um. Eine kleine Laterne, welche sie in ihren Händen trug, warf ein schwaches Licht auf ihr Gesicht.
Katsuya, dessen Vermutung bestätigt wurde, senkte sofort seinen Blick und sah zu Boden. Die Anspannung hatte zwar nachgelassen, doch dafür machte sich ein anderes, irgendwie seltsames Gefühl in ihm breit.
Yukiko wirkte erleichtert.
„Du bist es bloß... Erschrecke mich doch nicht bitte so, Katsuya!“
„Entschuldigt bitte...“, murmelte er.
Es war mehr als nur ungewöhnlich, Yukiko um diese Uhrzeit außerhalb ihres Gemaches anzutreffen. Anders als er besaß sie die beneidenswerte Fähigkeit, abends problemlos ein- und bis zum Morgengrauen durchzuschlafen. Und überhaupt, wenn Sakuya oder Riho wüssten, dass sich das Mädchen nachts Freien herumtrieb... Zwar war dies lediglich ein Garten und kein einsamer, unheimlicher Wald, doch seit dem Vorfall von vor sechs Jahren waren die Eltern der jungen Adeligen sehr besorgt um das Wohl ihrer Tochter – beinahe ein bisher *zu* sehr. Und Riho war keinen Deut besser.
Katsuya fragte sich jedenfalls, ob etwas vorgefallen war.
Yukiko schenkte ihm ein Lächeln.
„Bist du nicht müde? Warum bist du denn um diese Zeit noch draußen?“
Das fragte genau die richtige...
Er schüttelte lediglich den Kopf.
„Aus keinem besonderen Grund... Was ist mit Euch? Wenn die Herrin wüsste, dass Ihr nicht in Eurem Quartier seid...“
Das Lächeln der jungen Frau erstarb. Sie seufzte und wandte sich von Katsuya ab.
„Es gibt einige Dinge, über die ich nachdenken möchte... Oder eher nachdenken muss. Außerdem habe ich es drinnen nicht mehr ausgehalten und wollte ein wenig Luft schnappen.“
Man brauchte kein hochentwickeltes Einfühlungsvermögen um zu erkennen, dass es etwas gab, das Yukiko sehr belastete. Es musste mit diesem Gespräch zu tun haben, welches sie am Nachmittag mit ihrer Mutter geführt hatte; Katsuya hatte es ja von Anfang an seltsam gefunden, dass Sakuya ihre Tochter außerhalb der gewohnten Zeit zu sich zitiert hatte. Wenn die Herrin etwas war, dann eine Liebhaberin von festgelegten Tagesrhythmen, die sich möglichst niemals änderten; jedwede Abweichung, so gering sie auch sein mochte, wurde gar nicht gerne gesehen.
Daher konnte er sich sehr gut vorstellen, dass diese Teestunde nicht wirklich angenehm gewesen war.
Katsuya zögerte; er würde Yukiko wirklich gerne fragen, was sie denn so sehr bedrückte, war sich jedoch unsicher, ob dies eine gute Idee war.
Als Bediensteter stand ihm das nicht zu; besonders in den höheren Gesellschaftskreisen war es gar nicht gerne gesehen, unaufgefordert das Wort ergreifen. Andererseits wusste er, dass sie ihn nicht nur als Angestellten, sondern auch als Freund ansah – zumindest hoffte er, dass sie es noch immer tat.
Es war jedenfalls alles anderes als schön, Yukiko so niedergeschlagen zu erleben. In diesem Moment war Katsuya irgendwie froh, ihr Gesicht nicht sehen zu müssen.
„Gibt es etwas, das ich für Euch tun könnte?“, fragte er.
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
„Ich fürchte nicht... Tatsächlich ist es etwas, das ich nicht vermeiden kann. Ich weiß nur noch nicht, was genau ich davon halten soll.“
Die Stille legte sich wieder über den nächtlichen Garten. Katsuya wusste nicht, was er darauf erwidern sollte und Yukiko machte offensichtlich keine Anstalten, ihre Sorgen näher auszuführen. Stattdessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die zahlreichen Blumen, die Rande des Steinweges wuchsen. Die junge Frau ging in die Hocke und streckte ihre Hand nach einem der Pflänzchen aus.
„Hikaru mochte Mondblumen am liebsten. Erinnerst du dich noch daran, Katsuya?“
Der Junge nickte stumm und betrachtete nun ebenfalls die weiße Blüte.
Die Region um Hino war eine der wenigen Gegenden, in der die zarten Mondblumen wuchsen. An sich waren sie nicht schöner als andere Blumen, doch es gab etwas, was sie besonders machte: Sie blühten nur nachts. Warum, wusste niemand so genau. Sicher war, dass sie im direkten Sonnenlicht sehr schnell eingingen und nur an kühlen, dunkleren Orten zu finden waren, bevorzugt im Schatten von Bäumen.
Er beobachtete Yukiko, die sanft über die schlanken Blütenblätter der Mondblume strich.
„Ich wünschte mir, er wäre nun hier... Er könnte mir sicherlich helfen, die richtige Entscheidung zu treffen, genau wie früher. Ich vermisse ihn so sehr...“
Sie brach ab.
Katsuya sah zum ersten Mal auf und schenkte Yukiko, die nun noch deprimierter als zuvor wirkte, ein Lächeln, das aufmunternd wirken sollte.
„Wo auch immer er nun sein mag, ich bin mir sicher, dass es ihm gut geht. Hätten sie ihm das Leben nehmen wollen, dann hätten sie es an jenem Tag getan.“
Als die junge Hausherrin nicht darauf erwiderte, spürte Katsuya, wie sich eine unangenehme Hitze in ihm breit machte; natürlich würde sie ein solch leerer und abgedroschener Spruch sie nicht aufheitern. Sie hatte ihn in der Vergangenheit schließlich schon so oft gehört...
Er hätte etwas anderes sagen sollen, aber der Junge konnte mit solchen Situationen nicht umgehen. Er wusste nie, was er sagen sollte, wie er seinen Gesprächspartner am besten beruhigen könnte. Dieses Problem hatte Riho mit Sicherheit nicht.
„Es tut mir Leid...“, murmelte er daher.
„Warum entschuldigst du dich? Es ist nicht deine Schuld...“
Nein, wahrscheinlich nicht. Trotzdem hatte Katsuya das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen.
Yukiko zog ihre Hand zurück und richtete sich ein wenig schwerfällig wirkend wieder auf. Sie wandte sich ihm zu, ihre Blicke trafen einen Moment lang Katsuyas -
„Dein Vater und ich haben lange diskutiert, doch letztendlich sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es nun endlich an der Zeit ist, einen Ehegatten für dich auszuwählen...“
„...Die Zeiten, in denen eine Frau auf eine Heirat angewiesen ist, sind schon lange vorbei...“
„... Einer der Söhne des Amemiya-Klans scheint einen guten Eindruck zu machen. Ihr beiden seid zudem im gleichen Alter, weswegen wir eine Kontaktaufnahme in Erwägung ziehen sollten..“
Der Junge schloss seine Augen und senkte – wie er es gewöhnlich tat – seinen Blick. Er konnte Sakuyas Stimme noch immer regelrecht hören, konnte das Unbehagen und den Unwillen, all die Gefühle, die Yukiko in diesem Moment empfunden hatte, so fühlen, als wären es seine eigenen gewesen.
Wie jedes Mal ergriff ein stechender Schmerz seine Augen; er kniff sie zusammen und hoffte, dass es schnell vorüber ging. Allerdings waren seine Augen momentan nicht seine Hauptsorge.
Man musste nicht das gesamte Gespräch kennen, um auf seinen Inhalt – und seine Auswirkungen – schließen zu können...
Es war nicht so, als wäre diese Offenbarung vollkommen unerwartet gekommen. Dass die Tochter der Asatsuyu-Familie keine nennenswerte Freiheit in der Wahl ihres Partners haben würde, war an sich absehbar gewesen, aber dennoch...
Katsuya hätte sich für Yukiko wirklich etwas anderes gewünscht. Kein Wunder, dass sie so niedergeschlagen war. Aber auch er selbst konnte das unangenehme Gefühl, welches sich langsam in ihm ausbreitete, nicht ignorieren.
Es gab nichts, was er tun konnte, um ihr zu helfen. Wenn Yukikos Eltern diese Entscheidung getroffen hatten, so konnte die Tochter sie ganz gewiss nicht mehr ändern – und Katsuya schon gar nicht.
Ja, Yukiko würde in nicht all zu ferner Zukunft einen Mann heiraten, den sie noch nicht einmal wirklich kannte und mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht liebte. Abhängig vom Rang ihres Gatten würde sie ihre Familie verlassen und sich einem ihr fremden Haushalt anschließen. In diesem Falle würde sie alleine sein, in einer ihr fremden Umgebung, fernab ihrer Familie und Freunde.
Für Yukiko, die doch eine sehr familiäre Person war, würde dies unerträglich sein. Und auch Katsuya wollte sich nicht ausmalen, wie es ohne seine Kindheitsfreundin für ihn weitergehen sollte. Ja, er war gerne alleine, aber er hasste die Einsamkeit. Beim Gedanken, erneut von jenen, die ihm wichtig waren, zurückgelassen zu werden, schnürte sich seine Kehle regelrecht zu.
Eigentlich seltsam, wenn man bedachte, dass er sich noch nicht einmal an seine Familie erinnern konnte.
Doch hier ging es nicht um ihn, sondern um Yukiko. Er wollte hoffen, dass der Tag ihrer Verlobung und der Hochzeit noch in weiter Zukunft lagen, doch wenn Katsuya ehrlich zu sich war, so glaubte er nicht daran – dafür kannte er Sakuya zu gut.
„Was hast du, Katsuya? Geht es dir nicht gut?“
Der plötzliche Klang der Stimme ließ ihn zusammenzucken.
Einen Moment lang hatte er Yukikos Anwesenheit regelrecht ausgeblendet...
Er schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme. Der Junge würde die junge Adelige wirklich gerne auf ihr Problem ansprechen, hielt sich jedoch davon ab; es würde mit Sicherheit nur unangenehme Fragen aufwerfen, würde er nun vollkommen unvermittelt damit anfangen. Und überhaupt, was sollte er schon sagen? Dass sie sich dem Willen ihrer Eltern widersetzen und stattdessen ihre eigenen Träume verwirklichen sollte? Das war Wunschdenken und das wusste er auch. Die einzige sichere Möglichkeit, einer arrangierten Ehe zu entkommen, wäre wegzulaufen und das würde Yukiko ihrer Familie ganz gewiss niemals antun. Überhaupt wäre diese „Lösung“ nur der Tausch eines Problems gegen einen ganzen Berg anderer.
Nicht selten verabscheute Katsuya seine eigene Macht- und Nutzlosigkeit. Alles, was er nun war und besaß, verdankte er der Asatsuyu-Familie; er wollte sich nicht ausmalen, wo er ohne Yukiterus Einsatz heute stünde. Er war nicht sonderlich talentiert oder stark, noch nicht einmal seine Gesundheit war optimal. Die einzige 'Fähigkeit', die er besaß, waren diese Visionen, die in seinem Alltag eher hinderlich als nützlich waren.
Ja, es gab nicht viel, das er aus einiger Kraft tun konnte. Trotzdem – und schwor sich Katsuya – würde er alles tun, um Yukiko zu unterstützen, ihr beizustehen.
Auf die Arrangements, die bereits getroffen wurden oder in Zukunft noch gemacht werden, konnte er zwar keinen Einfluss nehmen, aber er würde Yukiko dabei helfen, mit den Konsequenzen zu leben, ihr in ihrem neuen Leben zur Seite stehen.
Egal, was es kosten würde und was er dafür tun müsste – Katsuya würde sie nicht alleine gehen lassen.