Yukiko musterte missmutig den Brief, der von einem der Kammermädchen auf dem niedrigen Beistelltischchen ihres Zimmers platziert worden war. Sie wusste, dass sie ihn früher oder später lesen musste, aber dennoch wollte sie wenigstens das noch so weit wie möglich aufschieben; mehr als die üblichen Höflichkeiten und Lobhudeleien würde er ohnehin nicht beinhalten.
Sakuya hatte bei der Auswahl eines potentiellen Verlobten nicht lange gezögert und Yukiko schon nach relativ kurzer Zeit einen – ihrer meiner Meinung vielversprechenden – Kandidaten vorgezeigt.
Yukikos Mutter war schon seit langer Zeit mit Tomoe Amemiya, ein Mitglied der verwaltenden Familie von Hisagi, befreundet. Wie zuvor bereits angedroht hatte sich Sakuya mit ihrer Freundin in Verbindung gesetzt und Shougo, den mittleren von Tomoes drei Söhnen, als Favoriten auserkoren. Soweit Yukiko wusste war er knapp 19 – soviel zu 'im gleichen Alter'! - und schon seit längerem auf der Suche nach einer Verlobten.
Letztendlich hatte es damit geendet, dass Yukiko trotz Protest eine Art Vorstellungsbrief an ihn hatte schicken müssen, auf den sie nun eine Antwort erhalten hatte. Insgeheim hoffte die junge Frau ja, dass Shougo ihr eine Absage erteilt hatte, aber sie war noch nie eine sonderliche Optimistin gewesen.
Riho, die ihrer jungen Herrin die Haare bürstete, seufzte.
„Warum nehmt Ihr Euch nicht ein Herz und werft zumindest einen raschen Blick in den Brief? Ihr könnt mir nicht weismachen, dass Ihr nicht doch irgendwie neugierig seid!“
Yukiko zuckte die Schultern. Ihre Neugier hielt sich an sich in Grenzen, aber sie wusste, dass sich Riho brennend für den Inhalt interessierte.
„Wieso? Es genügt doch, wenn ich ihn mit Mutter zusammen durchlese...“
Das Kammerfräulein wirkte nicht gerade erfreut über diese Antwort, beließ das Thema dann jedoch auf sich beruhen. Stattdessen entschloss sie sich dazu, Yukiko den neusten Klatsch mitzuteilen.
„Wo wir es gerade von Eurer Mutter haben... Wusstet Ihr, dass sie für heute Besuch erwartet?“
„Das ist doch nichts wirklich ungewöhnliches...“, entgegnete die junge Adelige mit gespielten Desinteresse.
Insgeheim ärgerte sie sich jedoch darüber, dass Riho mehr über die Geschäfte ihrer Mutter wusste als sie selbst.
„Das mag sein, aber anscheinend handelt es sich dabei um hohen Besuch aus Sumeragi!“
Yukiko sah auf - *das* war tatsächlich ungewöhnlich.
Sumeragi war die größte Provinz des Kaiserreiches. Damals, in den Zeiten des Reichsgründung, waren die Regentinnen von Sumeragi diejenigen gewesen, die sich stärksten gegen die Einigung gewehrt hatten – zumindest bis es Izayoi no Akiko gelungen war, sie von ihrem Zweck zu überzeugen. Wie genau ihr das gelungen war, war allerdings bis zum heutigen Tage unklar und die Quelle vieler verschiedener Legenden. Jedenfalls gab es selbst danach des Öfteren Konflikte zwischen der Kaiserfamilie und Sumeragi, besonders in Fragen des Einflusses und des Stimmrechtes.
Anders als die anderen Provinzen wurde Sumeragi nicht von einer Familie sondern von Vertreterinnen der neun mächtigsten Klans regiert, die jeweils eine Repräsentantin bestimmten. Soweit Yukiko wusste, spielte auch die Hohepriesterin eine wichtige Rolle – allerdings hatte sie um deren genauer Bedeutung keine wirkliche Ahnung.
Aber das nun eine allem Anschein nach höhere Abgeordnete Sakuya besuchte, war wahrlich wunderlich, besonders in Anbetracht dessen, dass Yukikos Familie keine allzu wichtige Stellung im Asatsuyu-Klan einnahm.
„Wirklich? Was könnte sie nur wollen?“
Riho zuckte die Schultern.
„Wer weiß das schon? Aber Eure Mutter hatte schon seit jeher ein wahrlich weitreichendes Netz von Freunden und Kontakten...“
Auch in dieser Hinsicht hatte Riho recht. Yukiko ärgerte sich oft darüber, dass nicht auch sie das Charisma und die Aufgeschlossenheit ihrer Mutter geerbt hatte.
Das Kammerfräulein griff in die kleine Holzschatulle, die neben ihr stand, und holte eine mit einem Blumenornament und kleinen roten Edelsteinen verzierte Haarnadel heraus, welche sie ihr sorgsam in den Haarknoten steckte. Dann erhob sie sich von dem Kissen, auf dem sie bis eben gesessen hatte, und schenkte ihrer Herrin in strahlendes Lächeln.
„Nun denn, Ihr wärt soweit fertig. Wollt Ihr Euch zum Speisesaal begeben?“
Yukiko, die inzwischen Hunger hatte, nickte und stand ebenfalls auf. Doch bevor sie ihre Kammer verließ, warf sie noch – der Gewohnheit halber – einen kurzen Blick aus dem offenstehenden Fenster.
„Ich glaube, dass heute noch ein Gewitter aufzieht...“, murmelte sie mehr zu sich selbst als an Riho gerichtet.
Nach dem Frühstück wollte sich Yukiko – so wie sie es jeden Tag tat – zum Unterricht begeben. Anders als die Wochen zuvor war heute ein ziemlich düsterer, geradezu kalter Tag. Es nieselte leicht, ein kühler Wind pfiff durch die offenen Gänge. Die junge Frau ärgerte sich darüber, dass sie nichts wärmeres angezogen hatte und beschloss, schnell in ihr Zimmer zurückzueilen und sich dort wenigstens einen Überwurf zu holen. Das Anwesen war leider nicht sonderlich gut isoliert und da die Heizperiode noch nicht begonnen hatte, konnte es an Tagen wie diesen sehr schnell ziemlich kalt werden.
Als Yukiko gerade in den Flügel, in dem sich ihr Zimmer befand, abbiegen wollte, hörte sie auf einmal eine Stimme, die ihr nicht bekannt war. Sie blieb stehen und spähte um die Ecke, mit der Absicht, die Quelle ausfindig zu machen.
Im Korridor, der zum Empfangsbereich führte, erblickte sie eine ihr fremde Frau, die sich mit Sakuya unterhielt. Die Fremde schien ein wenig jünger als Yukikos Mutter zu sein. Sie trug einen relativ schlichten, aber dennoch recht schönen Kimono, ihr aschbraunes Haar hatte sie zu einem schlichten Zopf zusammengebunden. Konnte dies die Besucherin sein, von der Riho vorhin gesprochen hatte?
Yukiko, die eigentlich in Eile war, zuckte geistig mit der Schulter und wollte eigentlich ihr ursprüngliches Vorhaben endlich in die Tat umsetzen, als Sakuya die Anwesenheit ihrer Tochter bemerkte. Sie forderte ihre Tochter mit einer Geste auf, sich zu ihr und der Fremden hinzugesellen – was Yukiko ein wenig verwunderte, wurde sie von Sakuya normalerweise nie in diese Art Angelegenheit miteinbezogen. Artig tat sie, wie ihr geheißen wurde, trat nach vorne und verbeugte sich vor der Fremden.
„Dies hier ist meine Tochter, Yukiko“, wurde das Mädchen von Sakuya vorgestellt.
Die Fremde verbeugte sich ebenfalls, wenn auch weniger tief.
„Sehr erfreut. Mein Name ist Kyuuryou Mai. Wie schön, dass ich dich endlich kennenlernen darf. Deine Mutter hat mir schon einiges von dir erzählt.“
Die Frau – Mai – schenkte Yukiko ein Lächeln, welches allerdings nicht wirklich aufrichtig wirkte. Das Mädchen wusste nicht genau, warum, aber irgendwie löste Mai ein gewisses Unbehagen in ihr aus.
Dennoch versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen, und erwiderte das Lächeln.
„Tatsächlich? Das ehrt mich.“
Dabei fragte sie sich, was genau ihre Mutter wohl so über sie erzählt hatte; sie konnte sich nicht vorstellen, dass Sakuya zu der Sorte gehörte, die mit ihren Kindern angab.
Letztere räusperte sich und leitete damit das Ende der ausgetauschten Höflichkeiten ein.
„Nun denn, die ehrenwerte Frau Kyuuryou und ich haben noch einiges zu besprechen. Yukiko, mir wurde mitgeteilt, dass du eine Antwort auf deinen Brief erhalten hast – wir werden uns heute Abend darüber ausführlich unterhalten.“
Yukiko nickte mit einem aufgesetzten Lächeln und verbeugte sich nochmals vor ihrer Mutter und Mai, die sich zum Empfangszimmer begaben. Als die beiden außer Sichtweite waren, seufzte sie ein wenig genervter als beabsichtigt; eigentlich hatte sie gehofft gehabt, den Brief noch eine Weile länger vor ihrer Mutter verbergen zu können, aber das konnte sie nun vergessen. Die junge Adelige wandte sich um, danach bestrebt, nun endlich etwas Wärmeres zum Anziehen zu holen und danach zum Unterricht zu gehen, und schritt den kurzen Korridor hinab.
Sie erblickte Katsuya, der von seiner Ecke aus allem Anschein nach das an sich recht uninteressante Gespräch mitverfolgt zu haben schien. Yukiko blieb stehen, als sie seinen geradezu unnatürlich wirkenden, abwesenden Blick bemerkte.
„Ist mir dir alles in Ordnung?“
Einen Moment lang erhielt sie keine Antwort, noch nicht einmal eine Reaktion, die darauf hinweisen könnte, dass er ihre Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Erst, als sie mit ihrer Hand vor seinem Gesicht wedelte, schreckte er regelrecht auf und sah sich verwirrt um. An sich war es nicht ungewöhnlich, dass sich Katsuya gelegentlich seltsam verhielt, doch diese Apathie, die er gerade eben an den Tag gelegt hatte, machte ihr ein wenig Sorgen.
„Was hast du?“, fragte sie.
Der Junge wich – wie immer – ihrem Blick aus; es gelang ihm allerdings nicht, seine Verwirrung vollkommen zu verbergen.
„Ich... weiß es nicht...“, entgegnete er.
Yukiko runzelte die Stirn.
„Wie kannst du das denn nicht wissen? Hast du irgendetwas seltsames gesehen oder gehört? So betreten, wie du gerade eben gewirkt hast, muss doch etwas vorgefallen sein...“
Katsuya schüttelte lediglich den Kopf.
„Glaubt mir bitte, ich habe wirklich keine Ahnung. Auf einmal habe ich mich irgendwie so... seltsam gefühlt. Allerdings kann ich es nicht genau einordnen...“
Er seufzte und wandte sich zum Gehen ab.
„Es hat sicherlich nichts zu bedeuten. Bitte, macht lasst Euch nicht von mir aufhalten...“
Mit diesen Worten verschwand er.
Yukiko sah ihm noch kurz hinterher, ehe sie ebenfalls ihres Weges zog. Wie sehr sie es hasste, dass ihr niemals jemand sagen wollte, was nun eigentlich Sache war...
Nach dem Abendessen setzten sich Yukiko und Sakuya zusammen in das Arbeitszimmer der letzteren, um den Inhalt des Briefes zu besprechen. Wie erwartet war er eine Aneinanderreihung von Ehrbekundungen und Schmeicheleien, die letztendlich mit einer persönlichen Einladung auf das Anwesen der Amemiya-Familie abschloss – womit sich auch Yukikos Hoffnung auf eine höfliche Abfuhr in Luft aufgelöst hatten. Selbstverständlich könnte sie sich bei diesem Besuch noch immer darum bemühen, einen möglichst schlechten Eindruck zu hinterlassen, doch diese Idee verwarf sie schnell, da das nicht nur auf sie selbst, sondern auch auf ihre Familie zurückfallen würde – der Zorn ihrer Mutter war etwas, was sie nun wirklich nicht auf sich ziehen wollte.
Und selbst wenn, ein weiterer Bewerber wäre mit Sicherheit schnell gefunden.
Sakuya für ihren Teil wirkte ziemlich zufrieden.
„Eine wahrlich erfreuliche Antwort; eine sofortige Einladung ist nicht selbstverständlich. Selbstverständlich werden wir sie annehmen und ihr schnellstmöglich nachkommen.“
Die Frau faltete das Schreiben sorgfältig zusammen und platzierte es achtsam auf dem Tisch.
„Ich möchte, dass du gleich Morgen eine Zusage verfasst; vergiss auf keinen Fall, deine Freude ausreichend zu bekunden.“
Yukiko nickte missmutig.
Sie hatte wirklich keine sonderlich große Lust, einen ihr wildfremden Mann zu besuchen, der dazu auch noch irgendwo in Hisagi lebte, was ein ganzes Stück weit von Asami entfernt lag. Doch wenn diese Verlobung wirklich zustande kam – woran Yukiko eigentlich kaum zweifelte – würde sie ihre Heimat möglicherweise sowieso verlassen müssen... Besser also, sie gewann zumindest einmal einen groben Eindruck.
„Dein Vater wird wirklich erfreut sein! Der Amemiya-Klan ist sehr respektable und verfügt auch über einen gewissen Einfluss; unserer Stellung in der Familie wird es mit Sicherheit zugute kommen, wenn wir eine so profitable Verbindung knüpfen.“
Selbstverständlich ging es wie immer *darum* - um das, was der Rest der Asatsuyu-Familie denken könnte. In einem so weit verzweigtem Klan gab es natürlich auch immer gewisse Rangeleien um die persönliche Stellung und Einfluss, jeder war darauf aus, eine möglichst große Entscheidungsgewalt zu besitzen und seinen eigenen Stempel zu hinterlassen – wie sehr Yukiko das hasste.
Dennoch zwang sie sich zu einem halbherzigen Lächeln.
„Das ist natürlich auch in meinem Interesse, Mutter.“
Sakuya nickte wohlwollend.
„Was anderes würden wir auch gar nicht erwarten. Du bist unser einziges Kind, also obliegt es dir, uns Ehre zu bereiten.“
Yukiko senkte den Blick. Es war zwar schon sechs Jahre her und sie selbst glaubte auch nicht mehr daran, dass er noch am Leben war, aber es tat dennoch immer wieder weh, wenn ihre Mutter so tat, als hätte ihr älterer Sohn niemals existiert. Wahrscheinlich war es ihre Art und Weise, um mit diesem Verlust umzugehen, aber in den Augen der jungen Adelstochter bedeutete dies trotzdem nicht, dass es in Ordnung war.
„Macht Euch deswegen keine Sorgen, Mutter...“, murmelte sie.
Dann erhob sich Yukiko und verbeugte sich vor Sakuya.
„Mit Eurer Erlaubnis würde ich mich gerne in mein Quartier zurückziehen.“
Die ältere Frau nickte.
„Ich wünsche dir eine gute Nacht.“
Yukiko wandte sich ab und wollte gerade die Türe aufschieben, um den Raum zu verlassen, als ihr noch etwas einfiel.
„Da wäre noch etwas, was mich interessieren würde...“
Sie drehte sich wieder zu ihrer Mutter um, die das Mädchen abwartend ansah.
„Stelle deine Frage.“
„Diese Frau heute Morgen... Kyuuryou Mai... Wer genau ist sie?“
Sakuya blinzelte und schwieg einen Moment lang. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit von ihrer Tochter ab und schenkte sie stattdessen einem Buch, welches vor ihr auf ihrem Tisch lag.
„Eigentlich bin ich dir über meine Besucher keine Rechenschaft schuldig.“
Yukiko senkte ihren Kopf. Was hatte sie auch erwartet? Sakuya sprach mit ihr nie über ihre Geschäfte.
„... Aber wenn es dich tatsächlich interessiert: Sie ist eine alte Freundin von mir, die momentan einige Erledigungen in Asami zu tätigen hat.“
Und mit diesen Worten war das Thema für sie beenden. Yukiko verbeugte sich nochmals vor ihrer Mutter und sah dann zu, dass sie das Zimmer rasch verließ.
Eigentlich hatte sie keinen Grund, die Antwort Sakuyas anzuzweifeln, aber irgendwie überzeugte sie sie nicht so wirklich – was möglicherweise auch einfach mit der Abneigung zutun hatte, die sie sofort für Mai entwickelt hatte. Yukiko konnte es sich nicht wirklich erklären, aber sie hatte einfach das Gefühl, dass mit dieser Frau etwas nicht stimmte.
Aber wahrscheinlich interpretierte sie auch einfach zu viel in diese triviale Sache hinein.