Katsuya wurde von seiner Entführerin unsanft zu Boden gestoßen. Er setzte sich schwerfällig auf, auf seine Knie, und ließ seinen Blick verstohlen durch den Raum schweifen, in den ihn die Frau bugsiert hatte – der Ausstattung mit dem kleinen Regal, der Schreibfläche und dem zusammengerollten Futon nach zu urteilen handelte es sich um ein Schlafquartier.
Die brünette Frau verschloss die Türe hinter sich und zog den Schlüssel ab; erst dann wandte sie sich Katsuya, den sie zuvor gefesselt hatte, wieder zu.
Der Junge, der sofort und geradezu automatisch seinen Blick senkte, spürte, wie sie ihn kühl und prüfend musterte. Noch immer konnte er die scharfe Klinge an seinem Hals regelrecht spüren, obwohl das Messer bereits weggezogen worden war, und auch das Zittern und die beklemmende Furcht, die ihn erfasst hatten, waren einfach nicht abzuschütteln.
Was mochte diese Frau nun mit ihm, einem wertlosen Dienstboten, wohl vorhaben? Sie schien eine Verbündete der Amemiya-Familie sein, also würde sie ihn ganz gewiss dazu benutzen, Yukiko in die Falle zu locken... Aber wie wollte sie das bewerkstelligen?
Nun, wenn Katsuya so darüber nachdachte, wollte er es eigentlich gar nicht so genau zu wissen. Er hatte schon immer eine recht lebhafte Fantasie gehabt, weswegen es ihm nicht schwerfiel, sich entsprechende Szenarien auszumalen...
Wie sehr er doch hoffte, sich zu irren.
Katsuya schloss seine Augen und zwang sich, tief und gleichmäßig durchzuatmen.
Die Frau schien seine Furcht zu bemerken; sie schnaubte geradezu verächtlich.
„Wie ich schon sagte habe ich nicht vor, dir wehzutun – noch nicht. Und wenn du das tust, was ich von dir verlange, werde ich möglicherweise auch ganz darauf verzichten können.“
Sonderlich ermutigend klang dies trotzdem nicht.
Katsuya schüttelte den Kopf.
„...Was erhofft Ihr Euch von mir? Ich bin keine sonderlich wertvolle Geisel, wisst Ihr? Niemand gibt sonderlich viel auf das Wohl eines Dienstjungen...“
Nun runzelte die Frau ihre Stirn und schien kurz über seine Worte nachzudenken; diese Reaktion verwunderte Katsuya.
„Geisel? Oh, du sprichst von diesem Weib, Asatsuyu no Yukiko...“
Sie schüttelte den Kopf, der Ausdruck in ihren Augen wurde noch kälter und härter, als er es sowieso schon gewesen war.
„Zu ihr werde ich später noch kommen, keine Sorge, doch zuerst werde ich mich mit dir befassen.“
Der Junge blinzelte; wenn er nach seinen Visionen ging, so hegte diese Person einen ziemlichen Groll gegen die Asatsuyu-Familie, doch dafür schien sie es momentan mit der Verfolgung Yukikos oder Sakuyas nicht sonderlich eilig zu haben.
„Ihr arbeitet doch für die Herrin Amemiya, o...oder? Ist es daher nicht Eure Aufgabe, die junge Herrin und Ihre Herrin Mutter aufzuspüren und festzunehmen?“
Einen Moment lang starrte die Frau Katsuya mit steinerner Miene an. Dann, auf einmal, bildete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht, das ihre Augen nicht erreichte.
„Und daran merkt man, dass du nur das Ende unserer Unterhaltung belauscht hast, du einfältiger Junge. Ja, es ist wahr, dass ich auf gewisse Weise im Dienste der 'ehrenwerten' Amemiya Tomoe stehe, doch die Aufgaben eines Handlangers übernehme ich nicht; mehr brauchst du nicht zu wissen.“
Sie befand sich also auf einer anderen, einer eigenen Mission? Dann hatte Katsuya erst Recht nichts mit ihr zu schaffen! Wenn sie kein Interesse an Yukiko hatte, warum hielt sie ihn also fest?
„...Das alles hat dann gar nichts mit mir zu tun...“, murmelte Katsuya.
Er hatte eigentlich vor gehabt, dies mit ein wenig nachdrücklicher und energisch zu sagen, doch letztens Endes hatte er nicht mehr als einen erstickend klingenden Halbsatz herausgebracht.
Innerlich schalt er sich selbst für seine Feigheit.
„Oh, werden wir etwa aufmüpfig? Nun, ich hätte auch kein Problem damit, dich vorerst den Amemiya auszuliefern; tatsächlich könnte das langfristig vieles vereinfachen...“
Die Frau ging in die Hocke, sowohl ihr Lächeln als auch ihre Stimme nahmen viel zu süßliche Züge an. Sie suchte Katsuyas Blickkontakt, doch er ließ sich nicht darauf ein.
„Nun, aber zuerst möchte ich dir ein kleines, sehr offenes Geheimnis verraten: Der 'ehrenwerte' Amemiya-Klan mag sich nach außen hin kultiviert und reputabel geben, doch hinter der Fassade sind sie besonders im Umgang mit ihren Gegnern und jenen, die nicht ihrem Weltbild entsprechen, äußerst skrupellos. Und was denkst du würden sie mit dir, einem Akuma anstellen?“
Katsuya kniff seine Augen zu und schüttelte seinen Kopf, wahrscheinlich, um die verstörenden Vorstellungen, die er sich ausmalte, zu vertreiben. Das mitleidige Lächeln der Frau verriet ihm, dass sie seine anwachsende Panik und Beunruhigung zur Kenntnis nahm.
Katsuya gab sich beste Mühe, die verstörenden Gedanken zu vertreiben und atmete scharf ein.
„...Ich bin kein... 'Akuma'.“
Die Frau kicherte. Dann, vollkommen unerwartet, packte sie den Jungen am Arm; ihr Griff war dabei so fest, dass es schon beinahe schmerzte.
„Schau mich an“, forderte sie ihn mit gefühlloser Stimme auf.
Katsuya schüttelte erneut seinen Kopf, den Blick nach immer stur auf den Boden gerichtet.
Seine Weigerung beeindruckte seine Entführerin allerdings kaum.
„Ich kann dich auch dazu zwingen, weißt du?“
Katsuya, der an sich an sehr friedfertig war und übermäßigen Körperkontakt nicht leiden konnten, kam zu dem Schluss, dass er sich unnötige Unannehmlichkeiten sparen und ihrer Aufforderung daher einfach nachkommen sollte. Er kam ihrer Aufforderung widerwillig nach und sah auf.
Zu seiner Erleichterung blieb er wenigsten dieses Mal von weiteren Visionen verschont.
Regungslos hielt er dem eisigen Blick der Frau stand, bemühte sich, nicht zu blinzeln. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, ließ sie von ihm ab; beinahe sofort senkte Katsuya wieder seinen Kopf.
„Weißt du, woran ein Akuma sehr sicher erkennbar ist?“, fragte sie nach einer kurzen Pause.
Da Katsuya keine Anstalten machte, ihr zu antworten, übernahm sie das selbst.
„Seine Augen.“
„...Nur, weil sie eine ungewöhnliche Farbe haben, bedeutet das noch lange nicht, dass man dadurch weniger menschlich ist...“, entgegnete der Junge bitter.
Er war es so unendlich Leid, wegen eines einzigen, vollkommen unbedeutenden Merkmales ständig anders behandelt zu werden; überhaupt war ihm die Paranoia seiner Mitmenschen absolut unbegreiflich.
Zu Katsuyas Überraschung lachte die Frau leise.
„Denkst du ernsthaft, dass all dies nur an der Farbe liegt? Wenn, dann hast du wahrlich keine Ahnung...“
„Was wollt Ihr mir damit sagen?“
Die Brünette schüttelte amüsiert den Kopf.
„Sie nennen es den 'dämonischen Blick'. Hm, wie könnte man es denn am besten beschreiben? Er erzeugt eine kalte, geradezu betäubende Empfindung, Beklommenheit, ein Gefühl der Beeinflussung... Du bildest da selbstverständlich keine Ausnahme.“
Katsuya nahm diese Ausführung schweigend hin. War das, was sie ihm da gerade erzählt hatte, wirklich die Wahrheit? Wieso hatte ihm das niemals jemand gesagt?
Er fühlte sich so elendig, war frustriert.
Diese Frau hatte Recht – er hatte wirklich keine Ahnung. In Momenten wie diesen wurde dem Jungen erst wirklich bewusst, dass er trotz allem doch sehr behütet aufgewachsen war.
Sie schien sich an Katsuyas Missbehagen zu erfreuen und nutzte die Gelegenheit, um dieses nochmals zu verstärken.
„Aber selbstverständlich gibt es noch viele andere Gründe, warum die breite Masse deinesgleichen ablehnt. Nun sag', mit welchem Fluch wurdest du gestraft?“
Katsuya schwieg und schaute demonstrativ zur Seite; diese Person machte ihm zwar noch immer ein wenig Angst, aber das bedeutete für ihn noch lange nicht, dass er fügsam jeder ihrer Aufforderungen nachkam.
„Was wollt Ihr nun eigentlich von mir?“, fragte er stattdessen mit leiser Stimme.
„*Das* musst du momentan noch nicht wissen; tatsächlich werden wir erst noch herausfinden müssen, ob du überhaupt irgendeinen Nutzen haben wirst. Doch das soll nicht mein Problem sein – meine Aufgabe besteht lediglich darin, Wesen wie dich ausfindig zu machen und nicht ihren Wert zu beurteilen. Ich hätte allerdings niemals gedacht, dass ich so schnell eines aufspüren würde!“
Katsuya wurde eiskalt, als er letztendlich begriff, welcher Art Person er in die Hände gefallen war. Er spürte, wie das klamme, panische Gefühl zurückkehrte, das er so lange und mühevoll verdrängt hatte.
„Sie sind eine... Menschenhändlerin...“, murmelte er.
Die Frau schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln.
„Nun, das trifft es nicht vollkommen... Ich erfülle bloß meine Aufgaben und dabei ist es mir gleich, wie sie aussehen mögen. Und wenn meine Auftraggeber einen Akuma wollen, dann werde ich ihnen einen liefern.“
Als ob das für Katsuya irgendetwas ändern würde. Doch da sie nun von 'Auftraggebern' sprach... Meinte sie nun die Amemiyas oder hing es mit ihren anderen, nicht näher ausgeführten Zielen zusammen?
„...Warum sollten die... die ehrenwerten Hausherren so etwas begehren?“
Auch wenn Shougo und seine Mutter alles andere als 'ehrenwert' waren, so brachte es Katsuya nicht über sich, offen schlecht über sie zu sprechen; das ließ seine Erziehung einfach nicht zu.
„Wer sagt, dass diese Order von ihnen stammt?“
Katsuya konnte nicht anders, als aufzusehen; wer waren denn diese Menschen, mit denen sie zusammenarbeitete, die ihr diese Ziele gesetzt hatten?
„Aber wer - …?“
Sie seufzte.
„Du bist ziemlich neugierig, hm? Nun, ich habe es dir eigentlich vorhin schon gesagt... Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.“
Dann stieß sie ihn ohne Warnung grob um. Katsuya verlor sein Gleichgewicht und stürzte hart auf seine Seite. Der Aufprall war äußerst unangenehm; er hustete.
„So gerne ich mich weiterhin mit dir befasst hätte, bedauerlicherweise habe ich noch kurz etwas zu erledigen; wie du siehst, bin ich eine vielbeschäftigte Frau. Keine Sorge, die Wachen wurden darauf hingewiesen, dass mein Quartier für sie tabu ist; auch wenn es nicht viel wiegt, so hat mein Wort doch einen gewissen Wert. Tue dir also selbst einen Gefallen und warte still auf meine Rückkehr, verstanden?“
Zum wiederholten Male fragte sich Katsuya, was es mit dieser Frau eigentlich auf sich hatte; für wen arbeitete sie nun und noch wichtiger – was wollte diese Person, was wollten ihre Auftraggeber mit Akuma ?
Katsuya hatte sich noch nicht entscheiden, wer wohl das kleinere Übel war, sie oder die Amemiya.
„Wer seid Ihr?“, fragte er leise, während sich die Frau zum Gehen abwandte.
Sie blieb stehen und schaute auf ihn herab.
„Oh, du willst das Vorstellungsspiel spielen? Nun, ich weiß zwar nicht, was dir dieses Wissen bringen soll, doch wenn du unbedingt einen Namen haben möchtest... Du darfst mich Misato nennen.“
Misato also... Katsuya überlegte einen Moment lang, ob er sich der Höflichkeit halber ebenfalls vorstellen sollte, verwarf diese Überlegung allerdings rasch und schüttelte über sich selbst den Kopf; nun war wahrlich weder die Zeit noch der Ort für solche Dinge, besonders wenn er seine unglückliche Situation bedachte.
Für Misato war das Gespräch damit beendet; mit einem weiteren Strick, welchen sie aus einer hölzernen Kiste fischte, fesselte sie Katsuyas Beine, um eine mögliche Flucht noch mehr zu erschweren, verließ den Raum und verschloss die Türe wieder hinter sich.
Katsuya war nun alleine.
Die straffen Fesseln rieben seine Haut schmerzhaft auf, nur sehr mühevoll gelang es ihm, dem die Erschöpfung tief in den Knochen saß, sich wieder aufzusetzen.
Im Raum war es still und dunkel, nur einige ferne Rufe waren zu hören. Katsuya fragte sich, wo sich Yukiko nun befand und ob es ihr gut ging – nein, es musste er gut gehen, denn momentan würde er es nicht ertragen, an die Alternative zu denken.
Misato hatte ihm von der Skrupellosigkeit der Amemiya-Familie erzählt und er war geneigt, ihr zumindest das zu glauben. Doch anders als er war Yukiko noch immer ein Mitglied des einflussreichen Asatsuyu-Klans; sie würden es daher nicht wagen, ihr etwas anzutun, oder?
Aber ob es ihm nun gefiel oder nicht, Katsuya hatte momentan genügend eigene Probleme, um die er sich zuerst kümmern musste, ehe er es sich leisten konnte, sich mit dem Wohl seiner jungen Herrin zu befassen – angefangen mit dem misslichen Umstand, dass er so gut wie bewegungsunfähig war.
Doch eigentlich wollte sich Katsuya gar nicht mit seiner eigenen Zukunft auseinandersetzen; der Gedanke an Misatos Worte, der Umstand, dass sie praktisch Menschenhandel betrieb, machte ihm Magenschmerzen. Menschen, ob nun Akuma oder nicht, waren doch keine Gegenstände, über die ein anderer einfach so verfügen konnte, wie es ihm beliebte!
Aber die Welt war ungerecht, und das würde sie auch immer sein.
Mit einem Kopfschütteln versuchte Katsuya, seine dunklen Gedanken zumindest kurzzeitig zu vertreiben und sah sich stattdessen im Raum um, in der Hoffnung, irgendeinen hilfreichen Gegenstand zu entdecken.
Misato war nicht so leichtsinnig gewesen, irgendetwas Spitzes oder Scharfes offen herumliegen zu lassen. Das einzige, das ihm eventuell von Nutzen sein könnte, war die einzelne, kleine Kerze, die noch brannte – hatte Misato sie vergessen oder absichtlich angelassen? - , doch sie befand sich in einer Wandlaterne und entzog sich somit seines Zugriffs... Nun, wäre er klein wenig größer, dann könnte er sie sogar eventuell erreichen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass Katsuya einen spontanen Wachstumsschub erfuhr, war nun wirklich nicht gegeben.
Das Fehlen jeglicher Optionen trieb den Jungen wirklich zur Verzweiflung.
Er schloss erschöpft seine Augen und lehnte sich gegen die kühle Wand.
Er war vollkommen hilflos. Alles, was Katsuya nun tun konnte, war abzuwarten.
Warten... Aber worauf? Auf Misato? Nun, dann wäre eine Flucht auf alle Fälle unmöglich, denn ihr würde er ganz gewiss nicht entkommen können.
Auf Riho oder Yukiko? Er bezweifelte, dass sie ihn fanden, denn das wäre wirklich ein ziemlich arger Zufall.
Nein, Katsuya selbst war der einzige, der ihn retten konnte.
Er atmete tief durch, schlug dann seine Augen wieder auf und ließ seinen Blick nochmals durch den Raum schweifen. Diese Kerze wäre seine einziges mögliches Fluchtmittel...
Die Laterne hing an einem dünnen, in die Wand eingeschlagenen Eisenhaken. Ein Mann durchschnittlicher Größe konnte sie abhängen, indem er einfach seine Arme ausstreckte, Katsuya würde sich auf Zehenspitzen stellen müssen.
Allerdings konnte er seine Arme nicht heben, was die Sache stark erschwerte.
Sein Blick fiel auf die Holztruhe, aus der Misato den Strick geholt hatte – sie war verschlossen und daher keine Option. Der Wandschrank hingegen schien keine Verriegelung zu sein.
Katsuyas Verstand arbeitete auf Hochtouren; wenn er so etwas wie einen Stecken oder ein Stange hätte, dann könnte er mit etwas Glück die Laterne abnehmen. Zwar hatte er so etwas bisher nirgends im Raum entdecken können, doch möglicherweise befand sich einer im Schrank; zumindest setzte der Junge seine Hoffnungen darauf.
Vorsichtig versuchte er, seine Arme zu bewegen; sie waren zwar fest am Rücken fixiert, doch zumindest waren seinen Händen noch eine gewisse Freiheit gegönnt; es würde genügen, um etwas zu greifen.
Katsuya kroch angestrengt zum Schrank, benötige für die eigentlich sehr kurze Strecke eine gefühlte Ewigkeit. Als er sein Ziel endlich erreicht hatte, fühlte sich seine Körper noch viel verspannter und steifer an, als er es ohnehin schon tat; er ignorierte es.
Der Junge brachte sich, mit dem Rücken zum Schrank gewandt, wieder in eine kniende Position und tastete mühsam nach der Schiebetüre; als er sie endlich fand, schob er sie vorsichtig und so weit wie möglich zu Seite – zu seinem Glück klemmte sie nicht und war ziemlich gut beweglich – und ermöglichte ihm ein Blick auf den Inhalt. Etwas wackelig zwang er sich auf seine Füße und richtete sich auf.
Der größte Teil des Schrankes wurde von Bettzeug ausgefüllt. In den unteren Fächern befanden sich ein dünnes, schlichtes Buch, eine geschnitzte Holzschatulle, bei der es sich wahrscheinlich um eine Art Schmuckkästchen handelte und zwei oder drei Kleidungsstücke, die achtlos in hineingestopft worden waren.
Aber kein Anzeichen eines Steckens.
Das Glück war Katsuya wahrlich nicht hold, soviel war sicher.
Er ließ sich frustriert auf seine Knie zurückfallen. Was hatte er denn eigentlich erwartet? Das Leben war kein Roman, in dem es in brenzligen Situationen eine glückliche Folge an Zufällen gibt und am Ende alles wieder gut wird! Katsuya, der sich nicht mehr zu helfen wusste, würde wohl oder übel darauf hoffen müssen, doch noch von einem der anderen befreit zu werden...
Irgendwann – Katsuya wusste nicht, wieviel Zeit inzwischen wohl vergangen sein mochte – hörte er hektische, lärmende Schritte und nervöse Rufe draußen auf dem Flur.
Mit einem geistigen Schulterzucken schenkte er dem Tumult keine weitere Beobachtung mehr; wahrscheinlich handelte es sich lediglich um einige Wachsoldaten, die allmählich nervös wurden, weil sie noch immer keine Spur von Yukiko oder Sakuya hatten.
Dann wurde das Getrampel lauter, klang stürmischer und schneller. Für Katsuya, der sich nur auf seine akustischen Eindrücke verlassen konnte, wirkte es beinahe wie eine Verfolgungsjagd.
Eine Verfolgungsjagd...
Katsuya spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Wenn dem wirklich so, dann könnte es sich bei dem Gejagten also tatsächlich um Riho, Sakuya oder Yukiko handeln! Und obwohl er den ersteren beiden wirklich nichts Schlechtes wünschte, so hoffte er, dass die Person dort draußen einer von ihnen war und nicht seine junge Herrin...
Dann, nur wenige Sekunden später, hörte ein ohrenbetäubendes Knallen und Poltern aus dem Nebenraum. Danach herrschte eine kurzzeitige Stille, ehe die Wachen laut zu fluchen begangen und gegen etwas – wahrscheinlich einen hölzernen Gegenstand – hämmerten.
Was auch immer gerade eben vorgefallen sein mochte, die Verfolgungsjagd schien damit beendet worden zu sein und das Ergebnis fiel nicht zugunsten der Soldaten aus. Allerdings dauerte es noch eine Weile, ehe sie schließlich abzogen, wahrscheinlich, um Verstärkung zu holen.
Katsuya fragte sich wirklich, was sich dort draußen – und vor allem Dingen im Nebenzimmer – gerade eben abgespielt hatte. Unter Anstrengungen bewegte er sich zur angrenzenden Wand; wer auch immer auf der anderen Seite sein mochte, bei dieser Person handelte es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um ein Mitglied seines Haushaltes und daher musste er zumindest versuchen, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Da die Wände nicht sonderlich dick waren, sollte es sogar möglich sein, einigermaßen verständliche Gespräche zu führen.
Der Bedienstete hielt inne, horchte, um zu hören, was auf der anderen Seite vor sich ging...
Stille.
Nein, nicht vollkommen – Katsuya konnte ein leises Flüstern vernehmen. Es war zu unverständlich, um irgendwelche konkreten Worte ausmachen zu können, doch dem Klang der Stimme nach zu urteilen, handelte es sich um eine junge Frau oder ein Mädchen.
Und nicht nur das... Sie klang vertraut.
Katsuya zögerte; an sich war das, was er vorhatte, ein wenig leichtsinnig, da es die Aufmerksamkeit der Wachen auf ihn selbst lenken könnte.
Andererseits wäre dies eigentlich gar nicht so schlecht, falls es sich bei dem Mädchen im Nebenzimmer tatsächlich um Yukiko handeln sollte.
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf schob Katsuya seine Bedenken rasch beiseite, spannte seinen Körper an und ließ sich schwer gegen die Wand fallen.
Wie erhoffte sorgte das plötzliche, polternde Geräusch dafür, dass das Flüstern schlagartig verstummte. Sicherlich hatte sich das Mädchen erschrocken und war sich nun unsicher, wie es reagieren sollte. Katsuya beschloss, ihr diese Entscheidung abzunehmen.
„Hallo? Könnt Ihr mich hören?“, fragte er in einem leicht gedämpften, aber dennoch ausreichend lauten Tonfall.
Das Mädchen schien einen Moment lang mit sich zu zaudern.
„Bitte, antwortet mir, wenn Ihr das tut“, fügte Katsuya mit Nachdruck hinzu.
„J-Ja... Ja, ich höre dich...“, bekam er dann endlich zur Antwort.
Der Junge spürte, wie er von einer seltsamen Erleichterung erfüllt wurde; er versuchte das Gefühl zu unterdrücken, zumindest solange er noch keine Gewissheit hatte.
„Wie ist Eure Lage? Konntet Ihr Eure Verfolger abschütteln?“, fragte Katsuya, obwohl er die Antwort bereits erahnen konnte.
„E-Einige Regale sind umgestürzt und blockieren die Türe... Die Soldaten kommen für den Moment nicht herein, aber ich bin mir sicher, dass sich das bald ändern wird“, entgegnete sie vorsichtig.
Eine blockierte Türe, also... Das bedeutete dann wohl, dass das Mädchen zwar für einige Zeit in Sicherheit, zugleich aber auch im Raum gefangen war.
Katsuya sah seine Aussicht auf Rettung schwinden.
„Wisst Ihr, ich bin hier gefangen und habe keine Möglichkeit, zu entkommen...“, begann er langsam.
Er wollte dieser Person – Yukiko oder nicht – keine Umstände bereiten oder sie gar in Gefahr bringen, aber wenn sie ihm doch irgendwie helfen konnte...
„O-Oh... Das tut mir Leid... I-Ich weiß nicht, ob ich dir von großer Hilfe sein könnte, aber ich werde mich zumindest einmal umsehen. Außer...“
Mit einem Mal mischte sich ein deutlich hörbares Maß an Argwohn in ihre Stimme. Katsuya konnte ihr das kaum verübeln; woher sollte sie denn auch wissen, dass er ihr die Wahrheit erzählte?
„...Verzeiht. Ich gehöre zum Asatsuyu-Ha...“
„Katsuya!“
Dem Mädchen entglitt die Kontrolle über seine Lautstärke – Katsuya hoffte, dass sie mit diesem Aufschrei nicht das gesamte Haus auf sich aufmerksam gemacht hatte.
Dennoch, sie klang eindeutig erleichtert, geradezu glücklich... Daher konnte es sich wirklich nur um eine Person handeln.
„Junge Herrin...“
Er lächelte selig, obwohl er wusste, dass sie es nicht sehen konnte. Katsuya dankte allen Himmelsgeistern dafür, dass Yukiko Shougos Häschern entkommen konnte.
„Aber wieso bist du gefangen? Sie haben dir doch nichts angetan! Oder...?“, fragte das Mädchen besorgt.
Katsuya schüttelte den Kopf.
„Seid unbesorgt, junge Herrin, mir geht es gut... Und... Und Euch?“
Sie lachte leise; Katsuya kam nicht drumherum, die unterschwellige Müdigkeit, Abgeschlagenheit, zu bemerken.
„Ich glaube, ich bin noch nie zuvor soviel gerannt wie heute! Wahrlich, bisher ich hatte unbeschreibliches Glück gehabt...“
Yukiko verstummte. Als sie dann weitersprach, klang ihre Stimme belegt.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dich zu hören, Katsuya... Ich hatte solche Angst, dass ich dich nicht mehr finden würde, dass sie dich...“
Sie musste sich wirkliche Sorgen gemacht haben.
„Es kommt alles wieder in Ordnung“, versicherte er Yukiko sanft, wohlwissend, dass er selbst dieses Versprechen wohl kaum umsetzen konnte.
„Ja, das denke ich auch... Warte noch ein bisschen länger, in Ordnung? Ich werde auf jeden Fall einen Weg finden und dich befreien!“
Einerseits wäre es ihm lieb, wenn Yukiko sich mehr Gedanken um ihre eigene Sicherheit machte, doch auf der anderen Seite fürchtete er sich vor dem, was ihn erwarten würde, sollte er Misatos mysteriösen Auftraggebern in die Hände fallen.
Vielleicht war Katsuya doch nicht so glücklos, wie er bisher gedacht hatte.