Riho führte Yukiko und Katsuya durch eine enge, dunkle Passage. Yukiko hatte schon vor längerem jeglichen Sinn für Zeit und Orientierung verloren. Sie wusste nicht, wo im Anwesen sie momentan sein mochte, noch, ob dieser Pfad überhaupt in die Freiheit führen würde.
Aber an für sich war ihr das ziemlich gleichgültig. Yukikos Gedanken kreisten pausenlos um ihre Mutter, die Sorgen und die Unsicherheit wollten ihr keine Ruhe lassen. Wieso nur hatte Riho darauf bestanden, ohne Sakuya zu fliehen? Was sollte dieses ausweichende, eigenartige Verhalten?
Auch wenn sie sich noch immer weigerte, an diese Möglichkeit zu glauben, so ahnte ein Teil von Yukiko, dass ihrer Mutter etwas schreckliches zugestoßen sein musste. Und das fürchtete sie mehr als alles andere.
Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, spürte sie, wie ihr der kühle, nächtliche Wind ins Gesicht blies. Ihre nackten Füße berührten das feuchte Gras, in nicht allzu weiter Entfernung rauschte ein Fluss. Es war dunkel, auch wenn der ferne Horizont allmählich lichter zu werden schien und auf diese Weise die herannahende Morgendämmerung ankündigte.
Yukiko fröstelte; abgesehen von ihrem dünnen Nachtgewand trug sie nichts, das ihr auf irgendeiner Weise Wärme spenden könnte. Ein wenig desorientiert suchte sie Rihos Blick – das Kammerfräulein inspizierte die Umgebung stumm und aufmerksam.
„Verstehe...“, murmelte sie schließlich. „Der Fluchtweg hat uns also zum Fluss geführt. Unter normalen Umständen stünde hier wahrscheinlich auch ein Boot bereit, doch nun kann nichts derartiges sehen...“
Nun bemerkte auch Yukiko, der es endlich gelungen war, sich wieder einigermaßen zu fassen, dass sie und ihre Begleiter sich offenbar in einer Flusssenkung befanden. Das Amemiya-Anwesen baute sich – etwas erhöht – deutlich sichtbar in nicht gar zu weiter Distanz hinter den drei auf, den gedämpften, aber dennoch klar wahrnehmbaren Rufen zu urteilen, patrouillierten die feindlichen Wachsoldaten die nahe Umgebung.
Riho, die den noch immer vor sich hin dämmernden Katsuya stützte, deutete auf ein kleines, bewaldetes Gebiet, welches sich flussabwärts von ihnen erstreckte.
„Schauen wir zu, dass wir schleunigst Deckung finden“, wies sie ihre junge Herrin an. „Ich fürchte, dass es nicht gar zu lange dauern wird, ehe der Feind hierher aufrückt – bis dahin sollten wir auf alle Fälle verschwunden sein.“
Im ersten Moment sagte Yukiko nichts. Dann, geradezu mechanisch, blickte sie wieder zum Amemiya-Anwesen.
„...Mutter... Sie...“
Riho seufzte – es klang schwer, geradezu resignierend.
„Junge Herrin, es ist bereits zu spät dafür. Sobald wir in Sicherheit sind, werde ich Euch alles erklären.“
Yukiko wollte sich gegen die Entscheidung ihres Kammerfräulein wehren, wollte, jeglicher Vernunft und Logik zum Trotz ins Anwesen zurückstürmen und ihre Mutter suchen, finden. Aber das Mädchen hatte einfach nicht mehr die Kraft, noch weiterhin Widerstand zu leisten und zu versuchen, seinen Willen durchzusetzen, weswegen sie letztendlich wortlos nachgab – eine Entscheidung, für die Yukiko sich hasste.
Riho schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln und streckte ihre freie Hand nach der jungen Adeligen aus.
„Kommt, wir müssen nun wirklich Eile walten lassen!“
Mit einem abwesenden Nicken ergriff Yukiko die ihr dargebotene Hand und ließ sich von Riho, die ihre Schritte nun wieder spürbar beschleunigte, in Sicherheit führen.
„...Wird Katsuya wieder in Ordnung kommen?“, fragte sie dann mit tonloser Stimme.
Müde richtete sie ihren Blick auf ihren doch sehr mitgenommen wirkenden Bediensteten – selbst hier draußen, in der zwielichtartigen Dunkelheit, konnte sie sehen, wie angeschlagen er aussah.
„Natürlich wird er das“, entgegnete Riho beschwichtigend.
Yukiko jedoch schüttelte sachte ihren Kopf.
„...Weißt du, er war schon immer recht kränklich gewesen...“
Ja, Katsuya war – seltsamerweise allerdings besonders im Sommer – häufig erkältet, verletzte sich außergewöhnlich schnell und hatte zudem noch eine äußerst schlechte Wundheilung. Zwar hatte er sich zum Glück bisher noch nie etwas wirklich Ernstes zugezogen, doch im Gegensatz zu seiner jungen Herrin war er bedenklich fragil.
Deswegen war Yukikos Sorge – zumindest ihrer Meinung nach – mehr als berechtigt.
Riho für ihren Teil schien es allerdings etwas anders zu sehen.
„Ich fürchte, dass Ihr ihm zu wenig zutraut“, antwortete sie in einem geduldigen Tonfall. „Katsuya ist nicht so schwach, wie es nach außen hin scheinen mag.“
„Was ist ihm überhaupt widerfahren?“
Yukikos Stimme war nun leise, kaum noch hörbar.
Was mochte ihn nur in solch einem erbärmlichen Zustand gebracht haben? Das seltsame war, dass er an für sich keine sichtbaren, äußerlichen Verletzungen zu haben schien...
„Auf diese Frage habe ich bedauerlicherweise ebenfalls keine Antwort“, antwortete Riho lediglich. „Ich hoffe für ihn, dass er eine gute Erklärung für seinen... 'Ausfall' hat.“
Hauptsache, er kam wieder in Ordnung, alles andere war für Yukiko momentan eher zweitrangig.
Kurze Zeit später erreichten die drei auch schon den düsteren Wald. Der Wind brachte das Laub der Bäume hörbar zu rascheln, in der Luft lag der charakteristische Duft feuchten Holzes.
Der Boden war von dornigen, dichten Gestrüpp bedeckt; bei jedem Schritt kratzte sich Yukiko ihre Füße und Knöchel auf, unangenehm brennende Schnitte blieben zurück. Das Mädchen wusste nicht, wie lange es Riho wohl in die Dunkelheit des Waldes gefolgt sein mochte, doch letztendlich kam die kleine Gruppe hinter einer lichten, steinigen Anhöhe zum Stehen.
„Ich schätze, dass wir hier vorerst in Sicherheit sind“, verkündete Riho und lehnte Katsuya vorsichtig gegen einen der dicken, alten Bäume. „Wir sollten hier eine Weile ausharren und wieder zu Kräften kommen, ehe wir unseren Weg fortsetzen.“
Yukiko nickte stumm und ließ sich erschöpft neben Katsuya nieder. Sie mochte diesen Ort nicht sonderlich – hier, im Wald, war es nicht nur viel zu dunkel, sondern auch noch bitterkalt – der Umstand, dass sie viel zu luftig angezogen war, machte die Situation zudem nicht besser.
Wenn sie allerdings die Alternativen bedachte, so musste sie sich eingestehen, dass dies ein ziemliches Luxusproblem war. Ja, ihr war es – wenn auch nur mit sehr viel Glück und Hilfe – gelungen, diese irrwitzige Situation mehr oder weniger unbeschadet zu überstehen. Gewiss war die Gefahr noch nicht vollkommen gebannt, doch zumindest für den Moment war sie in Frei- und Sicherheit.
Dennoch konnte es Yukiko sich nicht gestatten, erleichtert zu sein.
„Riho? Was ist nun mit ihr? Wo ist meine Mutter?“
Die Dunkelheit verwehrte ihr die Sicht auf Rihos Gesichtszüge, doch alleine an der sich nun verändernden Körperhaltung ihres Kammerfräulein konnte Yukiko erkennen, dass diese offenbar mit sich kämpfte.
„Junge Herrin, ich... weiß nicht, wie ich es Euch am Besten sagen soll...“
In ihrer Stimme lag nun so etwas wie Verunsicherung – eine Regung, die Yukiko niemals mit ihrer Freundin in Verbindung gebracht hätte.
Dies allein hätte ihr eigentlich schon alles sagen sollen, doch ihr Verstand sperrte sich noch immer vollkommen gegen diese stetig wahrscheinlicher werdende Möglichkeit.
„Riho, bitte – sag' es mir einfach“, verlangte Yukiko erschöpft zu wissen.
Das Kammerfräulein zögerte, fasste sich dann jedoch endlich ein Herz und sprach das aus, vor dem die junge Adelige sich am meisten gefürchtet hatte:
„Eure Mutter, sie... ist tot.“
Yukiko spürte, wie ihr die Luft wegblieb, es ihr die Kehle zuschnürte, doch abgesehen von dem und diesem starken, unkontrollierbaren Zittern, welches nun langsam ihren Körper ergriff, empfand sie nichts als eine betäubende, absolute Leere. In diesem Moment war es ihr nicht möglich, einen klaren, zusammenhängenden Gedanken zu fassen geschweige denn die Worte Rihos vollständig zu prozessieren. Dann, wie in einer Trance, schüttelte Yukiko ihren Kopf.
„Nein... Das... das kann nicht sein... Mutter, sie...“
Sakuya konnte nicht tot sein, das war unmöglich. Jemand wie sie starb doch nicht einfach so! Yukikos Mutter war doch eine so starke, unnachgiebige Frau, die ganz gewiss niemals kampflos aufgegeben hätte – die nicht verloren hätte.
Riho musste sich irren, eine andere Erklärung konnte es dafür nicht geben – das versuchte Yukiko sich zumindest einzureden.
Das Mädchen stand schweigend da, darauf wartend, dass Riho ihren Irrtum eingestand oder die Möglichkeit, dass Sakuya nicht tot war, wenigstens in Betracht zog. Doch das sollte nicht geschehen.
„Junge Herrin, es tut mir so Leid... Ich habe es selbst gesehen, habe in ihren letzten Momenten sogar noch mit ihr gesprochen...“
Im Tonfall des Kammerfräuleins lag etwas Endgültiges, etwas, das keinen Raum für Zweifel lassen wollte. Langsam, geradezu bedächtig, trat sie näher und berührte behutsam Yukikos Schulter.
„Kannst... Kannst du es mir denn beweisen?“, entgegnete die junge Adelige fordernd, wobei ihre Stimme erstickend und wackelig klang. „W-Wie kannst du dir denn so sicher sein, dass sie... dass sie wirklich...“
Sie brach ab und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Ihre Augen begannen unangenehm zu brennen, der Klos, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, nahm geradezu erdrückende Ausmaße an.
Nein, solange sie keine Beweise hatte, wollte und konnte sie diese Behauptung nicht glauben! Genügte es denn nicht, dass ihr schon Hikaru weggenommen wurde? Ihr jetzt auch noch ihre Mutter zu entreißen, wäre einfach nur zu grausam...
„Junge Herrin, habe ich Euch denn jemals zuvor angelogen?“, fragte Riho mit leiser, geradezu vorwurfsvoller Stimme.
Dann griff sie wortlos in ihren Gürtel und wollte eine kleines Schmuckstück hervor, die sie Yukiko entgegenstreckte. Diese ließ ihre Hände sinken und starrte das Objekt, von dem sie nur Schemen ausmachen konnte, an, ehe sie es entgegennahm.
Nun stellte sie fest, dass es sich um eine goldene Haarnadel handelte. Ein einzelner blauer Stein war in der Mitte eingelassen worden, die Form und das Motiv erinnerte an eine Lotosblume.
Yukiko kannte dieses Ornament – Sakuya hatte es gerne zu besonderen Anlässen getragen. An für sich hätte das nichts zu bedeuten haben müssen, doch die Tatsache, dass die Haarnadel blutverschmiert war, ließ die Angelegenheit in einem deutlich düstereren Licht erscheinen.
„...Nein, das... das glaube ich nicht...“, murmelte Yukiko erneut, obwohl auch sie selbst allmählich begriff, dass es keinen Sinn mehr hatte, die Augen noch länger vor der Wahrheit zu verschließen.
Riho hatte tatsächlich nicht den geringsten Grund, sie anzulügen und Yukiko ihrerseits keinen Anlass, an den Worten ihrer engsten Vertrauten zu zweifeln. Die blutverschmierte Haarnadel alleine mochte zwar nun wirklich kein Beweis für Sakuyas Tod sein, doch Riho war diejenige gewesen, in deren Besitz sie sich nun befunden hatte – Riho, die ihrer Herrin in ihrem letzten Moment beigestanden hatte.
So schmerzhaft es auch sein mochte, die Realität war unveränderlich. Egal, wie sehr Yukiko sich weigerte, die Wahrheit zu akzeptieren, so würde sich dadurch nichts verändern.
Das Mädchen spürte, wie seine Knie weich wurden und nachgaben. Unsanft ließ sie sich auf den Boden fallen, den Blick noch immer starr auf die blutverschmierte Haarnadel gerichtet.
„...Warum...?“, war alles, was sie hervorbrachte.
Warum hatte ihre Mutter sterben müssen? Hätten die Lakaien der Amemiya-Familie sie nicht eigentlich lebend festsetzen müssen?
Wieso nur hatten sich die Dinge überhaupt so entwickelt? Wofür im Namen aller Himmelsgeister war ihre Mutter denn nun überhaupt gestorben?
Die Leere, die Yukiko bis jetzt erfüllt hatte, wurde mit einem Mal durch einen heftigen, kaum zu ertragenden Schmerz ersetzt. Nun setzten auch die Tränen ein, die ungehindert über ihre Wangen rollten. Das Mädchen schluchzte und presste die Haarnadel – das Memento an ihre Mutter – fest an sich.
Sie würde Sakuya nun niemals wieder sehen. Es gab so viele Dinge, die sie noch mit ihr hatte besprechen, regeln wollen – auch wenn Sakuya ihre Mutter gewesen war, so hatte doch immer diese gewisse Distanz zwischen ihnen geherrscht – aber nun war es dafür unwiderruflich zu spät. Und egal, wie schwierig ihre Beziehung auch gewesen sein mochte, so hatte Yukiko ihre Mutter dennoch aus ganzem Herzen geliebt.
Wie sollte es denn nun weitergehen?
„Junge Herrin...“
Rihos Stimme klang fern und leise, vermochte den Schleier, den Yukiko nun umgab, nur schwerlich zu durchdringen.
„Wie... Wieso haben sie das getan?“, brachte die junge Adelige mühsam hervor. „Wieso... musste Mutter sterben...?“
Sie hörte ein leises Rascheln, spürte, wie sich der Griff um ihre Schulter verstärkte – Riho hatte sie wohl zu ihr auf den Boden gekniet.
„Ich weiß es auch nicht“, räumte diese schließlich bedrückt ein. „Aber eines kann ich Euch versichern: Für dieses Verbrechen werden die Amemiya teuer zu stehen kommen.“
Yukiko wischte sich die Tränen aus den Augen – die allerdings beinahe sofort wieder neu aufquollen – und blickte auf.
Sprach Riho von Rache? Ja, natürlich, dies war der einzige logische Schritt, oder etwa nicht? Shougo und Tomoe hatten Yukiko Sakuya genommen und dafür mussten sie bezahlen.
Kalter Zorn flammte in ihr auf – wie konnten die Amemiya ihr so etwas nur antun? Tausende Gedanken schossen ihr nun ungeordnet durch den Kopf, und obwohl auch sie kaum greifbar waren, so verschafften sie ihr eine eigenartige Befriedigung.
„...Wirklich?“
Dieses Worte war das einzige, welches Yukiko letztendlich herausbrachte, obwohl es an für sich so viele andere Dinge gab, die sie stattdessen gerne gesagt hätte.
Riho nickte.
„Ja, selbstverständlich. Mit dieser Untat haben sie nicht nur Euch etwas unsägliches angetan, sondern auch eine Grenze überschritten, die sie nicht hätten verletzen sollen.“
Die junge Frau war Yukiko nun nahe genug, dass diese ihre Miene einigermaßen wahrnehmen konnte – in Rihos Gesicht lag nun ein sanftes, aufrichtiges Lächeln.
„Junge Herrin, als Tochter Eurer Mutter ist es Eure Pflicht, Vergeltung zu üben - für die verstorbene Herrin, für Euch und auch für Euren Herrn Vater.“
Yukiko, die sich von der gesamten Situation vollkommen überfordert fühlte, war kaum dazu in der Lage, den Worten ihrer Freundin wirklich zu folgen geschweige denn deren Bedeutung vollends zu begreifen. Ihr Schmerz, die Trauer, die Wut, all diese Gefühle, die gleichzeitig und ungefiltert auf sie einwirkten, veranschlagten ihr gesamtes Wesen.
„Meine... Pflicht...?“, wiederholte sie daher lediglich, ohne dabei die Schwere dieser Worte wirklich zu verinnerlichen.
Riho nickte erneut.
„Genau so ist es. Aber seid unbesorgt, junge Herrin – Ihr werdet diesen Pfad nicht alleine beschreiten müssen. Denn egal, was kommen mag – ich werde immer Euer Schatten sein.“
Yukiko schloss ihre Augen.
Hikaru war nicht mehr – er war ihr schon vor vielen Jahren genommen worden.
Nun war auch Sakuya nicht mehr – mit großer Wahrscheinlichkeit ist sie gestorben, ohne noch nicht einmal den Grund zu wissen.
Die einzigen Mitglieder ihrer nächsten Familie, die ihr nun noch geblieben sind, waren ihr Vater Yukiteru, Katsuya und Riho. Auch wenn sie es trotz allem niemals so wirklich hatte wahrhaben wollen, sie hatte Yukiko spätestens jetzt schmerzlichst begriffen, dass keiner von ihnen unantastbar war.
Ja, sie alle würden sterben und es gab nichts, was sie dagegen tun könnte – vorausgesetzt, sie blieb weiterhin so schwach und hilflos, wie sie es momentan war.
„R-Riho, ich...“
Yukiko schluchzte erneut, nahm dann jedoch all ihre Kräfte zusammen, um die Tränen zurückzukämpfen und so etwas wie Überzeugung in ihre Haltung einfließen zu lassen – der Erfolg war nur mäßig.
„...Ich... möchte niemanden mehr verlieren...“
Riho beugte sich noch ein Stückchen weiter zu Yukiko hin.
„Das werdet Ihr auch nicht“, wisperte sie dem Mädchen zu. „Solange Ihr mir gestattet, bei Euch zu bleiben, werde ich jeden Schaden von Euch abwenden, darauf habt Ihr mein Wort. Daher müsst Ihr euch nicht mit solchen Sorgen quälen...“
Yukiko war froh, Riho an ihrer Seite zu haben.
Wie hatte sie nur an ihrer Freundin zweifeln können? In der Zeit, die das Kammerfräulein mit Yukiko zusammen verbracht hatte, hatte sie sie immer unterstützt, egal, in welcher Art Situation sie sich befunden haben mochte.
Letzten Endes war Riho auch diejenige gewesen, die sie und Katsuya aus diesem unseligen Anwesen herausgeführt hatte. Wäre sie nicht gewesen, dann befände sich Yukiko mit ziemlicher Gewissheit nun in der Gefangenschaft der Amemiya-Familie.
Daher hatte sie Recht, nicht wahr? Solange Yukiko das tat, was Riho ihr riet, sollte alles gut werden...
„J-Junge H-Herrin...?“
Katsuyas zittrige, schwache Stimme durchschnitt die Stille, die zwischen den beiden Mädchen geherrscht hatte. Yukiko musste zu ihrer Schande gestehen, dass sie ihn bis gerade eben vollkommen vergessen hatte.
Ruckartig erhob sie sich vom Boden und eilte auf Katsuya zu, der noch immer an dem Platz saß, an dem Riho ihn abgesetzt hatte.
„Was ist geschehen?“, fragte Yukiko besorgt. „Ich habe mir wirkliche Sorgen um dich gemacht! Als ich dich so sah, da dachte ich...“
Ihre Augen begannen wieder zu brennen, als ihre Gedanken erneut zu ihrer Mutter wanderten.
Was wird Katsuya wohl sagen, sobald er davon erfuhr? Würde er ebenfalls auf... Rache aus sein?
Yukiko schniefte und wandte ihr Gesicht ab; sie wollte nicht, dass ihr Kindheitsfreund sie so sah. Allerdings schien dieser bereits bemerkt zu haben, dass etwas nicht stimmte.
„Was ist geschehen? W-Wieso weint Ihr?“, fragte er verunsichert. Auch wenn er sich offenbar bemühte, sich zusammenzureißen, so war es offensichtlich, dass auch er noch stark angeschlagen war. „Ich habe Euch sprechen gehört, aber konnte die Worte nicht genau verstehen. Bitte, ich...“
„Es gibt nichts, was du tun könntest“, fiel ihm Riho kühl ins Wort. „Daher wäre es am Besten, wenn du unsere Herrin nicht bedrängen würdest.“
Katsuya wirkte irritiert.
„'Bedrängen'? Aber ich-...“
„Mutter, sie... Ihr ist etwas schreckliches zugestoßen“, sagte Yukiko schließlich.
Es fiel ihr wirklich schwer, diese Worte auszusprechen, aber Katsuya hatte ein Recht darauf, die Wahrheit zu wissen, steckte er doch genauso tief wie sie selbst und Riho in der gesamten Sache drin.
„Etwas... zugestoßen...? Ist sie etwa...?“
Der Bedienstete brach ab und schüttelte fassungslos seinen Kopf.
„Es... tut mir so Leid, junge Herrin. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll...“
„Am Besten, du schweigst“, antwortete Riho an Yukikos Stelle.
Dann wandte sie sich wieder letzterer zu.
„Ihr solltet versuchen, etwas Ruhe zu finden“, riet sie ihr nun wieder mit sanfterer Stimme. „Ich werde Wache halten, also seid unbesorgt.“
„Nein, wir sollten uns abwechseln“, protestierte Yukiko, die erschöpfter war, als sie es sich eingestehen wollte – nicht machte ihr momentan mehr Angst als die Aussicht auf Schlaf. „Ich meine, du wirst doch gewiss ebenfalls müde sein, oder etwa nicht?“
„Euer Wohl geht vor, junge Herrin.“
Rihos Tonfall duldete keinen Widerspruch.
Yukiko, die keine Kraft mehr zum Streiten hatte, seufzte und gab nach. Sie wollte nicht schlafen, alles, nur das nicht, doch nach all den Dingen, die sie heute hatte durchmachen müssen, war sie vor allem emotional am Limit.
„Euch muss es kalt sein, oder?“, kam es dann von Katsuya, der offensichtlich Yukikos zittern bemerkt hatte.
Ohne eine Antwort abzuwarten streifte er sein Obergewand ab und hielt es dem frierenden Mädchen hin. Diese schüttelte den Kopf; sein Untergewand war gewiss nicht sonderlich dicker als ihr eigenes, weswegen dies lediglich eine Verlagerung des Problems war.
„Ich weiß die Geste zu schätzen, aber ich-“
„Bitte, tut es einfach“, fiel ihr Riho ins Wort. „Ihr könnt es Euch nicht leisten, nun auch noch krank zu werden.“
Katsuya an für sich auch nicht, doch Riho hatte mehr als einmal deutlich klargemacht, wo ihre Prioritäten lagen. Yukiko entschloss sich letzten Endes dazu, das ihr dargebotene Kleidungsstück zu akzeptieren.
„Vielen Dank...“
Es mochte zwar nicht viel sein, aber wenigstens war ihr nun ein klein wenig wärmer. Yukiko lehnte sich gegen den kühlen Baumstamm und rollte sich so sehr es ging ein.
Sie betete dafür, dass ihr Schlaf wenigstens in dieser Nacht traumlos bleiben würde.