Letztendlich entschied sich Riho doch dazu, einen kurzen Zwischenstopp im – mehr oder weniger – nahegelegenen Dorf einzulegen. Der Weg nach Senrei würde sich als lang und ganz gewiss nicht sonderlich einfach gestalten, weswegen es närrisch wäre, sich ohne Verpflegung oder Informationen dorthin aufzumachen. Allerdings war sich Riho der Risiken, die dieser Besuch mit sich bringen könnte, durchaus bewusst, besonders dann, wenn man Yukikos momentanes Erscheinungsbild betrachtete – zumal Katsuyas Anwesenheit ohnehin alles andere als erwünscht wäre, holte sich schließlich niemand gerne einen Akuma ins Dorf.
Letztendlich lief es also darauf hinaus, dass Yukiko und Katsuya am Waldrand unweit der Ortschaft zurückblieben, während sich Riho um alle notwendigen Besorgungen kümmerte. Wie sie das ohne Geld anzustellen gedachte, war letzterem momentan noch schleierhaft, doch wie er sie kannte, würde sie sich gewiss etwas einfallen lassen.
Und so saß Katsuya im hohen Gras und spielte gelangweilt an einigen Halmen herum, während Yukiko apathisch gegen einen Baum lehnte. Ihren starren, geradezu leblosen Blick hielt sie unablässig auf die goldene Haarnadel ihrer Mutter fixiert, ihre Augen waren gerötet, die Haut kränklich blass.
Ihre Stimmung hatte innerhalb der letzten Stunden stark geschwankt; wann immer sie mit Riho gesprochen hatte, hatte sie ein wenig wacher und lebhafter gewirkt, doch ein Großteil der Zeit war ihr Verhalten ziemlich abwesend gewesen, sie hatte so gewirkt, als wäre sie in einer Trance gefangen.
Es war unverkennbar, dass Sakuyas Tod sie sehr mitgenommen hatte und das bereitete Katsuya ungemeine Sorgen. Immer wieder warf er ihr verstohlene Seitenblicke zu, beinahe so, als wollte er sichergehen, dass seine junge Herrin nicht auch noch das Atmen einstellte. Wahrscheinlich sollte er versuchen, sie abzulenken.
„Das Wetter heute ist wunderschön, denkt Ihr das nicht auch?“, begann er daher mit einem übertrieben fröhlichen Tonfall. „Wir haben wirkliches Glück, dass es so angenehm warm und trocken ist, denn ansonsten wäre dieser lange Fußmarsch gewiss eine ungemeine Qual gewesen!“
Yukiko hob noch nicht einmal ihren Kopf; sie nickte kaum merklich, doch damit hatte es sich auch schon. Wahrscheinlich war es keine sonderliche einfallsreiche Idee gewesen, ausgerechnet über das Wetter zu sprechen.
Katsuya unterdrückte ein Seufzen und rupfte unruhig einen Grashalm aus. Was konnte er nur tun, um sie aus diesem Zustand zu bekommen? Es tat ihm jedenfalls in der Seele weh, sie so zu sehen... Andererseits war der Verlust der eigenen Mutter nichts, das man einfach so wegstecken konnte; es würde sehr, sehr lange dauern, ehe diese Wunde verheilt war und selbst dann würden die hässlichen Narben gewiss auf ewig zurückbleiben. Und das, nachdem Yukiko den Verlust ihres Bruders endlich einigermaßen verwunden hatte...
Allerdings gab es einen Teil in Katsuya, der das Dahinscheiden seiner Herrin nicht sonderlich bedauerte. Er hasste sich für diese Gefühle, das tat er wirklich, doch anders als ihr Gatte war Sakuya nie sonderlich gut zu Katsuya gewesen. Yukiteru war nur sehr selten Zuhause, weswegen eigentlich alle alltäglichen Geschäften in den Händen seiner Frau lagen – was selbstverständlich auch alles, was den Angestelltenstab betraf, mit einschloss. Sakuya hat nur zu gut gewusst, dass Katsuya in praktisch jedem Belangen auf ihre Gnade angewiesen war, und das hatte sie ihn auch oft genug spüren lassen.
Doch nun war sie tot und ihre Tochter drohte daran zu zerbrechen.
Dann hörte er auf einmal die schwache Stimme Yukikos.
„Katsuya...“, murmelte sie kraftlos.
Er wandte sich, nun den Funken einer Hoffnung verspürend, rasch zu ihr um; es war schon einmal ein guter Anfang, dass sie das Wort endlich an ihn richtete!
„Ja, junge Herrin?“
Das Mädchen zögerte; sie schloss ihre Augen und ließ den Kopf sinken.
„Was... Wie hast du dich damals gefühlt?“
Katsuya blinzelte.
„Verzeiht, aber wovon sprecht Ihr?“
„Deine Eltern... sie sind doch auch... weg. Was... Was hast du also empfunden?“
An für sich sollte ihn diese Frage kaum überraschen. Schweigend wandte er seinen Blick von Yukiko ab und richtete ihn auf den blauen, weiten Himmel. Einige kleine Wolken zogen an ihm vorbei, hin und wieder waren in der Ferne auch Vögel zu sehen.
„Ich erinnere mich nicht daran“, antwortete er schließlich nachdenklich. „Doch wann immer an meine Eltern denke – oder es zumindest versuche – spüre ich überhaupt nichts. Ich meine, ich weiß ja noch nicht einmal, ob sie wirklich tot sind oder mich lediglich ausgesetzt haben...“
Yukiko schüttelte vehement mit den Kopf.
„Das hätten sie dir bestimmt nicht angetan... D-Du bist eine gute Person, warum also...?“
Daraufhin konnte sich Katsuya ein bitteres Lächeln nicht verkneifen; selbstverständlich wusste auch sie, welche mögliche Gründe für solch eine Entscheidung ausschlaggebend sein könnten, und das waren nicht gerade wenige. So, als wäre dies Antwort genug, legte er seine Hand auf das linke Auge.
„Deswegen, zum Beispiel. Gerade für viele ärmere Familien wäre dies zumindest Grund genug. Wie gesagt, ich habe keinerlei Erinnerungen an sie oder die Zeit, bevor Euer Vater mich in Euren Haushalt aufgenommen hat. Wie könnte ich also um etwas trauern, das ich nie gekannt habe? Ihr seid alles, was ich habe und brauche...“
Nun schwieg auch Yukiko einige Momente lang. Dann, mit leiser, vollkommen monotoner Stimme, ergriff sie schließlich wieder das Wort.
„...Dann möchte auch ich mich am liebsten auch nicht mehr erinnern. Nichts denken, nichts fühlen...“
Sie atmete scharf ein und biss sich auf die Unterlippe.
„Wann immer ich an sie denke, tut es einfach so weh, so, als würde ich sterben. I-Ich will das nicht mehr...“
Katsuya wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Selbstverständlich nicht, woher denn auch? Yukikos Gedanken kreisten unablässig um ihren Verlust und nichts, was er sagte oder tat würde daran etwas ändern können. Sie war in einem Teufelskreis der Verzweiflung gefangen.
Doch es gab noch etwas anderes, das ihm ziemliche Sorgen bereitete: Ihre Rachegelüste. Er konnte sie vollkommen nachvollziehen, dies war keine Frage, doch er war sich wirklich nicht sicher, ob dies tatsächlich der richtige Weg sein würde. Weitere Tote würden Sakuya gewiss nicht mehr lebendig machen und ob eine derartige Tat Yukikos Seelenheil zuträglich wäre, war auch mehr als fraglich. Katsuya für seinen Teil hegte jedenfalls seine Zweifel daran. Andererseits war es wahrscheinlich, dass er anders empfinden würde, wäre seine junge Herrin diejenige gewesen, die in dieser Nacht ihr Leben verloren hätte.
Noch als er darüber nachdachte, wie er sie wohl ein wenig beruhigen könnte, fiel sein Blick auf eine filigrane, hölzerne Statuette, die Yukiko vorne, am Gürtel ihres Yukatas befestigt hatte. Wie gebannt starrte er auf das Figürchen, das einen Menschen mit Flügeln darzustellen schien. War es eine Art Tengu oder gar ein Himmelsgeist? Katsuya wollte schon seine Hand ausstrecken, um nach ihr zu greifen, als er sich dann im letzten Moment noch davon abhielt; da Yukiko die Statuette direkt an ihrem Körper trug, sollte er dies wahrscheinlich besser nicht tun.
„Junge Herrin, was habt Ihr dort?“, fragte er stattdessen, den Gegenstand noch immer anstarrend.
Die Angesprochene hob müde den Kopf. Mit einer kraftlosen Bewegung griff sie in ihren Gürtel und holte die Figur hervor.
„Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich sie eingesteckt habe...“, bemerkte sie mit leiser Stimme, in der allerdings eine gewisse Verwirrung mitschwang. „Sie stand auf einem kleinen Hausaltar...“
Katsuya hatte ihr nicht zugehörte; er konnte es sich zwar nicht erklären, aber irgendetwas an dieser Statuette übte eine ungemeine Faszination auf ihn aus. Dieses Ding, es schien ihn regelrecht zu rufen.
„Junge Herrin, würdet Ihr... dürfte ich sie kurz haben?“, fragte er ohne weiter darüber nachzudenken.
Yukiko, die offenbar keinen Grund hatte, ihm diese Bitte auszuschlagen, streckte sie ihm entgegen. Katsuya stand auf, kniete sich neben seiner jungen Herrin ins Gras und nahm die dargebotene Figur ohne zu zögern an.
Kaum hatte er die Holzfigur berührt, spürte er, wie ihn von seinem Arm ausgehend ein scharfer, spitzer Schmerz durchfuhr. Er schien sich direkt in seinen Kopf zu bohren, drang bis in seine Augen vor.
Was danach geschah, konnte er sich nicht erklären. Er sah etwas, doch das, was sich ihm darbot, war anders als die Vision, die er sonst zu Gesicht bekam. Tatsächlich war er sich nicht sicher, ob es nicht doch die Realität war, so klar und greifbar war es.
Der Himmel erstrahlte in einer intensiven, blutroten Farbe. Sie erinnerte entfernt an jene, die man von der Dämmerung kannte, war allerdings viel stechender, bedrohlicher, als es ein gewöhnlicher Sonnenuntergang jemals sein könnte. Die Wolken waren langgezogen und dunkel, die Sonne wirkte wie eine pechschwarze, pulsierende verzerrte Masse. Dieser Anblick allein brachte Katsuya schon zum Schaudern, doch das war noch nicht einmal das Schlimmste:
Alles um ihn herum schien tot zu sein. Die einst saftige, bunte Wiese lag nun brach und vertrocknet dar, die kräftigen Bäume, die bis gerade eben ihre vollen, grünen Kronen getragen haben, waren vollkommen dürr und vertrocknet. Eine unnatürliche, geisterhafte Stille lag über der Gegend, kein Tier, Vogel oder Insekt schien hier noch zu leben. Katsuya wurde von einem starken Zittern erfasst. Der eigenartige Schmerz, der ihn zuvor durchfahren hatte, war abgeebbt und wurde stattdessen nun durch eine markerschütternde, tiefsitzende Furcht ersetzt.
Was sah er dort nur? Das konnte doch nicht wirklich die wahre Welt sein, oder? Nein, das war absolut unmöglich!
Sein Atem ging schnell und unregelmäßig, der kalte Schweiß brach aus. Dann, langsam, drehte er seinen Kopf in die Richtung, wo sich Yukiko befinden sollte...
„...Katsuya? Was ist... was ist hier los?“
Mit einem Schlag löste sich das groteske Bild im Nichts auf. Das Leben kehrte zurück, die Blumen blühten so, als wäre es nie anders gewesen und auch der Himmel leuchtete wieder in einem freundlichen, kräftigen Blau. Das einzige, was ihm von dieser grässlichen Erfahrung geblieben war, war ein zermürbendes, stechendes Pochen in seinem Kopf und ein eiskaltes Gefühl der Angst.
„D-Die Figur...“, hörte er Yukiko dann geradezu schockiert murmeln.
Endlich gelang es ihm, sich wieder zu rühren. Er senkte seinen Blick, ließ ihn auf seine Hände schweifen, in denen er eigentlich die Statuette halten sollte – wobei er rasch fassungslos feststellte, dass diese nicht mehr dort war. Nein, das stimmte nicht so ganz: Sie war noch dort, wenn auch nicht mehr als Holzfigur erkennbar.
Sie war zu einem Häufchen Asche reduziert worden.
Erschrocken zog Katsuya seine Hände zurück, wobei die feinen, dunklen Körner leise ins Gras rieselten. Im Laufe seines zugegebenermaßen kurzen Lebens hatte er schon einiges erlebt, aber das hatte gewiss nicht dazugehört!
„W-Was ist geschehen?“, wollte er erschüttert wissen.
„Ich weiß es auch nicht“, gab Yukiko tonlos zur Antwort. „Ich habe dir die Figur gegeben und irgendwie war dann alles ganz... ganz seltsam. Und dann ist... das hier passiert. Katsuya, du schienst einige Momente einfach nicht... da gewesen zu sein.“
Der Junge spürte, wie ihm das Herz bis zur Kehle schlug; abwesend legte er seine Hand auf die Brust, so, als würde hoffte er auf diese Weise das viel zu starke Pochen eindämmen zu können.
„Junge Herrin, habt ihr es gesehen?“, fragte er, ohne auf ihre Worte einzugehen.
Er hatte noch immer ernste Schwierigkeiten, das gerade Gesehene zu verarbeiten.
„Abgesehen von dir und deinem eigenartigen Verhalten?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Das war alles, was es zu sehen gab.“
Normalerweise hätte Katsuya sie gewiss nicht in all diese Dinge eingeweiht, doch momentan stand er viel zu sehr neben der Spur, um überhaupt noch über die Konsequenzen nachdenken zu können. Er schaute ihr geradezu flehentlich in die Augen, in der Hoffnung, dass sie ihm Glauben schenken würde.
„Aber der Himmel und die Sonne! S-Sie waren so... unwirklich. Und alles andere war tot! Junge Herrin, Ihr versteht es doch, oder? Es war grauenvoll...“
Yukiko erwiderte seinen Blick, wobei in ihren Augen eine Mischung aus vollkommener Verwirrung und tiefster Sorge lag. Nun, eines seiner Ziele hatte Katsuya damit wohl tatsächlich erreicht – das Mädchen war zumindest kurzzeitig von ihren Problemen abgelenkt.
Dann jedoch veränderte sich Yukikos Ausdruck schlagartig; er wurde vollkommen starr und unleserlich, so, als wäre ihr auf einmal ein äußerst unangenehmer Gedanke gekommen. Ihr Blick wanderte zu dem Aschehäufchen, welches bis vor Kurzem eine Statuette gewesen war, ehe sie dann wieder aufsah. Nur wenige Augenblicke später kehrte allerdings schon wieder ihre Fassung zurück und es gelang Yukiko, sich zu einem Lächeln zu zwingen. Es war offensichtlich, dass dies ziemlicher Anstrengung bedarf und gewiss nicht von Herzen kam, aber sie gab dennoch ihr Bestes.
„Ich bin wahrlich selbstsüchtig, nicht wahr? Bisher scheine ich überhaupt nicht bedacht zu haben, dass ich nicht die einzige bin, die vollkommen erschöpft ist...“
Sichtlich unsicher streckte sie ihre Hand aus und strich Katsuya, der verstört neben ihr kauerte, behutsam und vorsichtig durchs Haar. Dieser zuckte angesichts der unerwarteten Berührung zusammen; als sie noch Kinder gewesen waren, hatte Yukiko dies immer getan, wenn er aus welchen Gründen auch immer verängstigt oder sichtlich nervös gewesen war.
„Wenn man sehr müde ist, kommt es manchmal vor, dass der Verstand einem Streiche spielt. Du solltest dich ein wenig ausruhen.“
Das konnte doch unmöglich ihr Ernst sein, oder? Katsuya schüttelte jedenfalls vehement den Kopf.
„Verzeiht, junge Herrin, aber selbst wenn dem so wäre, so ist an Schlaf momentan wahrlich nicht zu denken! Glaubt' mir, ich bin nicht erschöpft, ich -“
Er unterbrach sich. Yukiko hatte diese Dinge also tatsächlich nicht gesehen, was nur eine Erklärung zuließ: Es hatte mit seinen unseligen Fähigkeiten zu tun. Doch wie war es ihm nur gelungen, diese Figur in Staub zu verwandeln? Das war ein wahrliches Rätsel.
Aber was noch verwirrender war, war der Umstand, dass Yukiko diesem Vorkommnis nach dem ersten Schock offenbar keinerlei weitere Beachtung schenkte. Lag dies daran, weil sie es nicht tun wollte? Sie konnte doch unmöglich so tun, als wäre diese Statuette nicht zu einem Häufchen Staub reduziert worden!
Wie dem auch sei, wahrscheinlich wäre es am besten, einfach mitzuspielen. Wenn Katsuya nun so darüber nachdachte, war er tatsächlich äußerst erschöpft. Die gestrige Flucht hat ihn ungemein geschlaucht und nach allem, was Yukiko widerfahren war, war an Ruhe ganz und gar nicht zu denken gewesen. Doch jetzt, da sich die Lage zumindest für den Moment recht friedlich darstellten, wäre es sicherlich kein Schaden, sich ein paar Minuten Schlaf zu gönnen.
Daher legte er sich ins warme, trockene Gras.
„Ihr habt wahrscheinlich Recht, junge Herrin“, sagte er leise.
Sein Blick wanderte wieder zum Himmel, beobachtete das Vorbeiziehen der Wolken. Was hatte er eigentlich nur gedacht? Selbstverständlich war diese unheimliche, leblose Welt, die er gerade gesehen hatte, nicht real gewesen. Egal, wie echt es gewirkt und sich angefühlt haben mochte, letztendlich war es kaum mehr als eine weitere Vision gewesen – wenn auch eine, die er nicht zu interpretieren vermochte.
„Katsuya, erinnerst du dich noch an unseren Ausflug nach Senrei?“, fragte Yukiko auf einmal.
Er nickte kaum merklich.
„Es ist lange her, nicht wahr? Euer Bruder war zu jener Zeit... er war ebenfalls dabei gewesen, wenn ich mich nicht vollkommen irre.“
Das Mädchen lehnte sich wieder gegen den Baum und schloss ihre Augen; ein kleines, wenn auch äußerst schwermütiges Lächeln bildete sich auf ihren Lippen.
„Ja, genau – Mutter, Vater, Hikaru, du und ich, wir alle waren gemeinsam dort. In Kaishin, um genau zu sein, diese schöne Region direkt am Meer. Die Ayasaki haben dort auch ihr Anwesen... Ich erinnere mich auch nicht mehr sonderlich gut an sie, aber sie waren sehr nette Gastgeber. Vielleicht... werden sie mir sogar helfen...“
Das würden sie gewiss tun, daran zweifelte Katsuya kaum – die Frage war nur, wofür genau Yukiko letztendlich ihre Hilfe wollte. Aber auch er erinnerte sich noch vage an die Ayasaki-Familie, beziehungsweise an die beiden Mitglieder, mit denen er damals hauptsächlich zu tun gehabt hatte. Akiko war das Oberhaupt des Klans, eine sehr strenge, allerdings auch äußerst rechtschaffene ältere Dame. Normalerweise lebte sie in der Hauptstadt, war aber aufgrund des Besuchs der Asatsuyu-Familie extra angereist, um die Gäste in Empfang nehmen zu können. Ihre älteste Tochter Minami war diejenige, der das Anwesen in Kaishin gehörte und Yukiko hoffentlich ihren Beistand gewähren würde.
„Junge Herrin, es wird gewiss alles wieder in Ordnung kommen“, sagte Katsuya beschwichtigend. „Mir ist durchaus bewusst, dass es momentan ganz und gar nicht so wirken mag, aber ich bin mir sicher, dass sich die Dinge zu Eurem Vorteil fügen werden. Bisher habt Ihr schließlich jeder Widrigkeit getrotzt, nicht wahr?“
Das Mädchen gab ihm keine Antwort. Es war kaum verwunderlich, dass sie seinen Worten keinen Glauben schenkte – wie sollte sie auch, so kurze Zeit nach diesen furchtbaren Ereignissen? Aber Katsuya würde alles in seiner Macht stehende tun, um ihr beizustehen, ihr ihre Lasten wenigstens ein klein wenig zu erleichtern, sie zu schützen. Er war sich bewusst, dass es nicht sonderlich viel gab, das er tun konnte, doch das würde ihn gewiss nicht davon abhalten, es dennoch mit all seiner Kraft zu versuchen.
Das war er Yukiko schuldig. Und selbst wenn er es nicht wäre...
Ein fernes Rascheln riss die beiden aus ihren mehr oder minder trüben Gedanken. Katsuya richtete sich rasch auf und schaute sich nervös um. Es sollte allerdings nicht lange dauern, ehe er die sich nähernde Person entdeckte:
Es handelte sich um Riho.
Auch Yukiko war nun regelrecht aufgesprungen und eilte ihrem Kammerfräulein einige Schritte entgegen.
„Riho, du bist zurück!“, bemerkte sie freudig.
Das ältere Mädchen antwortete ihr mit einem Lächeln.
„Verzeiht bitte, junge Herrin. Ich habe versucht, mich zu beeilen, aber es sieht so aus, als hätte ich trotz allem eine ganze Weile gebraucht...“
Als sie dann Katsuya bemerkte, nahm ihr Gesicht rasch einen kühlen, ablehnenden Ausdruck an, so, wie es immer der Fall war, wenn sie ihm begegnete.
„Nun, da unsere Herrin unverletzt ist, kann ich davon ausgehen, dass du ausnahmsweise eine einigermaßen akzeptable Arbeit geleistet hast. Allerdings hoffe ich, dass du kein Lob erwartet.“
Der Junge wich ihrem eisigen Blick auf und sah zu Boden. Als ob er auf Rihos Anerkennung angewiesen wäre... Sowieso fragte er sich de Öfteren, was Yukiko eigentlich in dieser Frau sah. Zu ihr war Riho zwar immer sehr freundlich, wenn nicht geradezu widerlich liebenswürdig, aber zum Großteil der Belegschaft war sie unerträglich. Nein, das stimmte nicht so ganz: Katsuya gegenüber verhielt sie sich äußerst unfreundlich, den Rest des Angestelltenstabs ignorierte sie in der Regel. Woher diese tiefgreifenden Abneigung ihm gegenüber wohl stammte, konnte er sich wahrlich nicht erklären; er jedenfalls war sich keiner Schuld bewusst.
Und eifersüchtig war er sowieso nicht, warum denn auch? Yukiko wusste, dass sie sich immer auf ihn verlassen konnte und daran würde auch Riho nichts ändern können.
„Was hast du herausgefunden, Riho?“, fragte das jüngere Mädchen neugierig.
Die Angesprochene eiste ihren Blick von Katsuya los und richtete ihn wieder auf sie.
„So einiges. Momentan handelt es sich zwar hauptsächlich noch um unbestätigte Gerüchte, aber sie verbreiten sich schnell... Erinnert Ihr Euch, dass ich gestern Nacht einen Vorfall in der Kaiserstadt erwähnte?“
Yukiko nickte. Katsuya, der immerhin eine Unterhaltung zwischen Tomoe, Shougo und Shougo belauscht, in der es offenbar um so etwas in der Art gegangen war – zumindest hatte es den Kaiser, seinen Thronfolger und die herrschenden Klans betroffen.
„Die Details sickern zwar nur sehr langsam durch, doch offenbar wurde vor einigen Tagen der Großteil der kaiserlichen Familie ermordet – Izayoi no Hirotsugu inklusive.“
Nachdem sie dies gehörte, zeichnete sich heilloses Entsetzen in Yukikos Gesicht ab; sie schüttelte ungläubig ihren Kopf.
„Der Kaiser? Nein, das kann doch nicht sein... Er ist eine heiliger Mann, niemand würde es wagen, ihm etwas anzutun!“
Offensichtlich ja doch. Es stimmte allerdings, dass der Kaiser eine unglaublich hohe Stellung genoss – den Überlieferungen zufolge sollen die Mitglieder der kaiserliche Familie, allesamt Nachkommen von Izayoi no Akiko, von den Himmelsgeistern selbst gesegnet und auserwählt worden sein. Wer einem der ihren ein Leid tut, soll auf ewig den Zorn dieser himmlischen Wesen auf sich ziehen. Katsuya selbst glaubte zwar nicht so wirklich daran, der Großteil der Bevölkerung allerdings schon.
Riho seufzte.
„Es ist leider wahr und das ist noch nicht einmal alles: Es stehen Vermutungen im Raum, dass einer der überlebenden Geschwister Izayoi no Hirotsugus hinter diesem Angriff stecken soll.“
Nun, das war sogar äußerst wahrscheinlich – Streitigkeiten um den Thron gab es schon immer und wird es auch immer geben.
„Du meine Güte, wenn das wahr ist, dann...“
Yukiko unterbrach sich und massierte sich die Schläfe.
„...Dann werden uns wahrlich katastrophale Zeiten bevorstehen, nicht wahr?“
Riho nickte.
„Davon ist leider auszugehen. In einem Falle wie diesem sollte normalerweise der Beraterstab solange, bis die Nachfolge geklärt ist, die Regierungsarbeit übernehmen. Allerdings sind sie ein zerstrittener Haufen, sodass ich ernste Zweifel daran hege, dass sie auch nur eine einzige Einigung erzielen könnten...“
Katsuya, der sich bisher aufs Zuhören beschränkt hatte, ging mit einem Male ein Licht auf. Wenn er sich richtig erinnerte – wobei er allerdings wahrlich kein Experte war - , so hatte jede der großen Familien einen Vertreter im kaiserlichen Rat. Normalerweise würde das erstgeborene Kind oder nächstältester Bruder oder Schwester des amtierenden Kaisers nach dessen Abtreten die Herrschaft übernehmen, doch in einer Situation wie der diesen, in der besagter Thronfolger des Mordes bezichtigt werden könnte, oblag es dem Rat, die Frage um die Nachfolge zu klären.
Selbstverständlich hatte jede Familie ihren Favoriten, sodass Streitigkeiten und Machtkämpfe vorprogrammiert waren. In dem Gespräch, welches Katsuya belauscht hatte, schien es jedenfalls darum gegangen zu sein...
„...Die Amemiya wollten Euren Vater zur Kooperation zwingen“, sagte er nachdenklich.
Yukiko warf ihm einen verwirrten Blick zu, während Riho skeptisch die Stirn runzelte.
„Meinen Vater? Aber das macht doch keinen Sinn!“, widersprach Erstere. „Er ist ein Verwalter, kein Mitglied des kaiserlichen Rates!“
„Dem muss ich allerdings zustimmen“, pflichtete ihr Riho argwöhnisch bei. „Es ist mir ja schleierhaft, wie du zu dieser Annahme kommst, aber das Wort unseres Herrn hat innerhalb der Asatsuyu-Familie kein sonderlich großes Gewicht. Er kann Vorschläge machen, mehr nicht. Und überhaupt, selbst wenn die Amemiya ein Mitglied in ihrer Gewalt hätten, so würde sich der Klan niemals von ihnen erpressen lassen; vorher würde er ihnen den offenen Krieg erklären.“
Katsuya, der sich nun wieder wie ein unwissendes Kind fühlte, seufzte. Es traf gewiss zu, dass seine Vermutung ziemliche Lücken aufwies, aber trotzdem, er wusste, was er gehört hatte.
„Das ist mir selbstverständlich bewusst. Ich habe nur gehört, wie die Herrin Amemiya und ihr Sohn gestern Nacht darüber gesprochen haben...“
„Dann hast du gewiss etwas falsch verstanden“, bekam er wohlwollend zur Antwort. „Bei deinen beschränkten geistigen Kapazitäten würde mich das jedenfalls nicht sonderlich verwundern.“
Ehe Katsuya etwas auf diese gehässige Bemerkung erwidern konnte, kam Yukiko ihm zuvor; sie schüttelte müde den Kopf.
„Bitte, Streiten bringt uns auch nicht weiter“, sagte sie mit matter Stimme. „Es ist... es ist einfach viel zu viel geschehen und offen gesagt habe ich keine Ahnung, was ich überhaupt noch denken soll.“
Daraufhin setzte Riho wieder ihr liebliches, verständnisvolles Lächeln auf.
„Ja, das kann ich mir zu vorstellen. Tatsächlich solltet Ihr Euch auf alle Fälle ausruhen, ehe wir ins Richtung Senrei aufmachen.“
Katsuya hob die Augenbrauen.
„Und wo? Wir sind noch immer im Gebiet der Amemiya – oh, und Geld haben wir auch keines.“
Er wurde mehr oder weniger ignoriert.
„Ich habe mich im Dorf nach Proviant und Ausrüstung erkundigt. Da unsere finanziellen Mittel äußerst... spärlich sind, konnte ich nichts wirklich Brauchbares herausschlagen. Allerdings hat man mir gesagt, dass sich in etwas Entfernung eine kleine Herberge befinden soll, die öfters nach Aushilfen suche. Meiner Meinung nach sollten wir es dort einmal versuchen – wenn wir Glück haben, können wir sogar ein Zimmer für uns herausschlagen!“
An für sich ein guter Vorschlag, doch dieses Mal war Katsuya derjenige, der den Skeptiker spielte.
„...Du hast mir nicht zugehört, oder? In einer Herberge treffen wir früher oder später doch zwangsläufig auf feindliche Soldaten!“
Riho musterte ihn abfällig.
„Ja, dich würden sie gewiss sofort erkennen. Vielleicht bin ich ja wahrlich ein wenig optimistisch, doch wenn wir – also die junge Herrin und meine Wenigkeit – uns einigermaßen bäuerlich kleiden und gebärden, so sollten wir nicht auffallen. Du müsstest dir dafür schon die Augen ausstechen oder so... Wonach genau werden die Wachen denn auch suchen? Schwarzhaarige Mädchen gibt es in diesem Lande schließlich Zuhauf.“
Sobald sich Yukiko etwas bescheidener kleidet, sollte sie rein optisch tatsächlich nicht sonderlich herausstechen. Gegen das Verhalten, welches ihr von klein auf anerzogen worden war und die Tatsache, dass sie in Sachen körperlicher Arbeit keinerlei Erfahrungen aufzuweisen hatte, war auf diese Weise allerdings nicht viel auszurichten.
Andererseits musste sich Katsuya eingestehen, dass er keinen besseren Vorschlag hatte. Wenn die kleine Gruppe Senrei erreichten wollte, so würde sie Geld und Proviant brauchen, und das möglichst rasch.
„Wir... würden nicht allzu lange bleiben, oder?“, erkundigte er sich zögerlich.
Riho zuckte mit den Schultern.
„Solange wie notwendig. Ah, und keine Sorge – sollten tatsächlich Lakaien der Amemiya auftauchen, so werden wir selbstverständlich sofort die Flucht ergreifen; es ist ja nicht so, als hätte ich vor, meinen Kopf vollkommen auszuschalten und mir ein schönes Leben zu machen, obschon du mir in dieser Hinsicht ein glänzendes Vorbild wärst. Aber offen gesagt hege ich ohnehin so meine Zweifel daran, dass wir aktuell ihre Hauptsorge darstellen; im Dorf hat sich bezüglich einer Fahndung nach uns jedenfalls noch nichts herumgesprochen.“
Dies war in der Tat etwas seltsam, aber Katsuya war noch nie jemand gewesen, der sich gerne auf sein Glück oder irgendwelche Vermutungen verließ.
„Ich denke, dass wir Rihos Vorschlag umsetzen sollten“, meldete sich nun auch Yukiko wieder zu Wort. „Ich vertraue auf ihr Urteil und wenn sie denkt, dass dies der richtige Weg ist, so glaube ich ihr.“
Mit dieser Antwort hatte Katsuya schon gerechnet. Seiner Meinung nach setzte das Mädchen ein etwas zu großes Vertrauen in ihr Kammerfräulein, doch es stand ihm nicht zu, ihre Entscheidungen in Frage zu stellen. Außerdem hatte er nun wenigstens etwas, auf das er sich konzentrieren könnte und was ihn hoffentlich von diesem eigenartigen Vorfall mit der Statuette ablenken würde... Wobei er sich fürs Erste ohnehin dazu entschlossen hatte, so zu tun, als wäre es niemals geschehen, tat Yukiko schließlich genau dasselbe.
Katsuya bemühte sich darum, sich sein Unbehagen nicht allzu sehr anmerken zu lassen und nickte stattdessen mit gezwungen neutraler Miene.
„Wenn dies Euer Willen ist, junge Herrin, so habe ich dem nichts entgegenzusetzen.“