Letztendlich stellte sich heraus, dass die 'nahegelegene' Herberge etwa einen halben Tagesmarsch vom Dorf entfernt war. An für sich war das auch kein sonderliches Problem – je weiter Yukiko vom Amemiya-Anwesen weg kam, desto besser – aber nach einer Weile litt sie sowohl unter recht schweren Beinen, als auch dem Protest ihrer Füße.
Das andere Problem war, dass sie nun viel zu viel Zeit zum Grübeln hatte. Das, was dort auf dieser Wiese geschehen war... Hätte sie es nicht mit ihren eigenen Augen gesehen, so hätte sie es niemals geglaubt. Die Statuette, sie war einfach zu Staub zerfallen, kaum hatte Katsuya sie berührt.
Plötzlich, vollkommen unvermittelt. Das – zusammen mit dem geradezu verstörten Verhalten, welches er danach an den Tag gelegt hatte – wäre an für sich schon unheimlich genug gewesen, doch das, was sie wahrlich beunruhigte, war erst mit einer kleinen Verzögerung aufgetreten: Yukiko hatte, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, das weißgekleidete, maskierte Wesen gesehen, welches ihr letzte Nacht während ihrer Flucht begegnet war. Es war direkt hinter Katsuya gestanden, wie ein bedrohlicher, unheilverkündender Schatten, der nur darauf lauerte, zuzuschlagen.
Bis zu jenem Moment hatte sie insgeheim die vage Hoffnung gehegt, dass dieses erste Aufeinandertreffen kaum mehr als eine Wahnvorstellung gewesen war, etwas, das sie sich in ihrer Panik, in ihrer heillosen Angst, zusammenphantasiert hatte. Spätestens jetzt musste sie sich allerdings mit der Tatsache arrangieren, dass dies die Realität war. Es... Er war kein Produkt ihres trüben, von Hass und Trauer zerfressenen Verstandes. Was auch immer er letzten Endes nun für ein Wesen sein mochte, ob Dämon, Himmelsgeist oder auch bloß eine verlorene Seele, eines stand fest: Er würde an dem 'Versprechen', welches er ihr in jener Nacht gegeben hatte, festhalten, bei ihr bleiben und sie begleiten.
Das hatte er ihr nämlich gesagt. Nein, nicht in Form von Worte, aber das war auch nicht unbedingt notwendig.
Das Mädchen seufzte leise und umklammerte ihren Oberkörper; ob sie allmählich nicht doch einfach verrückt wurde? Wenn sie so darüber nachdachte, so musste sie sich nämlich durchaus eingestehen, dass ihre Gedankengänge alles andere als normal klangen. Bestimmt hatten der Verrat der Amemiya, diese verstörende Konfrontation mit Misato und der Tod ihrer Mutter sie um ihren Verstand gebracht...
Andererseits schien auch Katsuya irgendetwas gesehen zu haben, auch wenn sich Yukiko aus dem, was er vor sich hingestammelt hatte, keinen wirklichen Reim machen konnte.
Sie hoffte nur, dass das maskierte Geisterwesen ihm kein Leid tun würde.
„Seht nur, junge Herrin! Das dort vorne ist mit Sicherheit die Herberge, von der die Dorfbewohner gesprochen hatte“, verkündete Riho und zog damit Yukikos Aufmerksamkeit auf sich.
Das Kammerfräulein deutete lächelnd auf ein unscheinbares Holzhäuschen, welches am Ende der Straße, am Randes eines weiteren Waldes, errichtet worden war. Es lag sehr abgelegen, weit und breit war kein Dorf, keine Siedlung zu sehen. Andererseits war Hisagi ohnehin eine relativ dünn besiedelte und sehr ländlich geprägte Provinz, in denen es nur wenige nennenswerte Städte, dafür aber umso mehr verstreute Bauernhöfe und Weiler gab. Auch auf dem Weg selbst waren der kleinen Gruppe nur wenigen Reisende begegnet, zumeist Bauern, die ihre Felder bewirtschafteten oder mit ihren Karren zum nächsten Marktplatz unterwegs waren. Hin und wieder traf sie auch auf einige wenige, umherziehende Soldaten, die ihr allerdings kaum Beachtung zollten, was Yukiko doch etwas verwunderte; gut möglich, dass die Befehle der Amemiya noch nicht alle Einheiten erreicht hatten. Aber wie denn auch? Seit ihrer Flucht war schließlich noch nicht einmal ein ganzer Tag vergangen...
Die kleine Herberge machte einen bescheidenen, jedoch recht gepflegten Eindruck. Das Gebäude war zweistöckig, das Dach mit Holzziegeln bedeckt. Yukiko konnte eine Art Hinterhof erkennen, über den ein weiterer, noch kleinerer Anbau angeschlossen war – wahrscheinlich das Badehaus.
Sie selbst war noch nie in einem derartigen Gasthof gewesen. Wenn sie und ihre Familie tatsächlich einmal eine mehrtägige Ausfahrt unternommen hatten, dann hatten sie die Nächte zumeist in hochklassigen Herbergen oder bei wohlhabenden Freunden beziehungsweise Verwandten verbracht.
Doch dies war momentan wahrlich mehr als nur zweitrangig.
Die Eingangstüre des Gasthauses war aufgeschoben, ein kleiner Pfad aus Pflasterstein verband es mit der staubigen Straße. Eine Frau mittleren Alters, die die Ärmel ihres schlichten, blauen Yukatas zurückgebunden, kniete dort, ihr Haar wurde von einem lose gebundenen Kopftuch verborgen.
Offenbar war sie gerade dabei, einen Großputz durchzuführen; vor ihr stand ein mit schmutzigen Wasser gefüllter Holzeimer, in dem sie einen nassen Lappen auswrang. Als sie Yukiko, Riho und Katsuya bemerkte, die langsam auf sie zukamen, richtete sie sich aus und klopfte sich rasch den Staub aus der Kleidung. Sie lächelte freundlich und verbeugte sich zur Begrüßung.
„Willkommen, die Herrschaften! Ich wünsche euch einen wunderschönen Tag!“
Die drei erwiderten die Geste, ehe Riho mit einem liebenswürdigen Lächeln das Wort ergriff.
„Ihnen ebenfalls einen guten Tag. Sind Sie die Besitzerin dieses Hauses?“
Sie nickte.
„Ja, das bin ich in der Tat. Seid ihr an einem Zimmer interessiert?“
Riho und Yukiko, die ein wenig schüchtern hinter ihrem Kammerfräulein stand, tauschten sich rasche Blicke aus. Erstere wandte sich dann wieder der Wirtin zu.
„Uns wurde gesagt, dass es in der Gegend einige Herbergen gebe, die auf der Suche nach Aushilfen sind. Verzeihen Sie mir bitte diese Direktheit, aber hätten sie unter Umständen ebenfalls Bedarf? Wir würden Ihnen sehr gerne unsere Arbeitskraft zur Verfügung stellen.“
Die Frau lächelte noch immer, doch in ihrem Blick spiegelte sich eine gewisse Skepsis wider. Yukiko bemerkte, wie sie die Gruppe verstohlen, aber aufmerksam unter die Lupe nahm. Sie selbst ertappte sich dabei, wie sie Anstalten machte, sich hinter Riho zu verstecken, während Katsuya krampfhaft zu Boden starrte. Nun, Yukiko konnte der Wirtsfrau ihren Argwohn kaum verübeln – die drei gaben ein wahrlich erbärmliches Bild ab.
Das wusste selbstverständlich auch Riho. Sie seufzte, ihr Lächeln nahm einen geradezu trübsinnigen Zug an.
„Wissen Sie, wir möchte uns Ihnen wirklich nicht aufdrängen, aber es ist so, dass wir uns in einer ziemlichen Notlage befinden. Unser Hof wurde vor zwei Tagen von Banditen überfallen. Wir – meine beiden jüngeren Geschwister und ich – sind gerade noch so mit dem Leben davon gekommen, aber das ist auch das einzige, was uns geblieben ist. Ansonsten haben wir wahrlich alles verloren...“
Sie verstummte und schloss ihre Augen. Während sie der Wirtin diese Lüge auftischte, schaffte sie es tatsächlich, ihre Stimme ungemein belegt, am Boden zerstört klingen zu lassen. Doch vielleicht waren diese Gefühle sogar echt – auch wenn Riho nach außen hin immer so ruhig und gefasst wirkte, so mussten die Ereignisse der vergangenen Nacht sie gewiss ebenfalls sehr mitgenommen haben.
Yukiko biss sich auf die Unterlippe und kniff die Augen zusammen; nein, niemand, der kein herzloses Monster war, könnte so etwas vollkommen unberührt überstehen.
Ob Riho nun gespielt hatte oder nicht, ihre kleine Darbietung ließ die Skepsis der Wirtin zumindest ein klein wenig dahinschwinden, machte Mitleid Platz.
„Ein Überfall, also? Davon hört man in letzter Zeit leider sehr oft... Das tut mir ungemein Leid für euch.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Manchmal frage ich mich wirklich, was nur aus diesem Land wird... Wie dem auch sei, selbst ein Blinder könnte sehen, dass ihr drei sehr viel mitgemacht habt!“
Riho nickte traurig.
„Es geschah mitten in der Nacht... Meine arme, kleine Schwester hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, sich etwas Richtiges anzuziehen...“
Einige Momente lang befürchtete Yukiko, dass Riho mit ihrem herzzerreißenden Blick und ihrer zittrigen, tränennahen Tonfall vielleicht ein wenig zu dick aufgetragen hatte, doch dem war nicht der Fall, ganz im Gegenteil – sie schien die Wirtin tatsächlich für sich gewonnen zu haben.
Sie musterte die drei mitfühlend.
„Nun, wie ihr seht, führe ich nur ein kleines, bescheidenes Haus, aber es ist wahr, dass die Arbeit für eine Person allein manchmal etwas viel werden kann. Versteht mich bitte nicht falsch, ich kann euch nichts auf Dauer bieten, doch für einige Tage dürft ihr mir gerne aushelfen.“
Dann lächelte sie wieder. „Ich habe noch ein altes Zimmer, das ihr drei solange bewohnen könnt. Ihr sagtet ja, dass ihr Geschwister seid, also sollte es kein Problem darstellen...“
Unter normalen Umständen würde sich Yukiko so fühlen, als würde sie die Güte dieser Frau ausnutzen – wüsste sie die Wahrheit, so würde sie die Gruppe gewiss nicht bei sich beherbergen. Fürs Erste war sie allerdings gewillt, Rihos Lügen Glauben zu schenken, nahm das Risiko auf sich, drei vollkommen Fremden all diese Zugeständnisse zu machen. Doch dies waren keine normalen Umstände, weswegen sie Riho für ihre Darbietung in Gedanken applaudierte.
Sie hoffte wirklich, dass ihre Anwesenheit der Wirtin keine Schwierigkeiten bringen würde. Selbstverständlich immer vorausgesetzt, sie steckte mit den Amemiya nicht unter einer Decke. Andererseits sollte sich Yukiko wahrlich nicht von ihrer Paranoia überwältigen lassen, so schwer es ihr auch fallen mochte.
Riho, die ungemein erleichtert wirkte, bot eine tiefe Verbeugung dar.
„Wir danken Ihnen aus ganzem Herzen! Wir werden Ihnen Ihre Güte niemals vergessen und unser Bestes geben, Sie nicht zu enttäuschen.“
Die Frau hob abwehrend die Hand und schüttelte – nun ein wenig verlegend wirkend – den Kopf.
„Nein, es ist in Ordnung. Aber bitte, kommt' hinein und trinkt einen Tee mit mir! Es gibt noch einiges, über das wir sprechen sollten.“
Mit diesen Worten trat sie beiseite und bedeutete den drein, einzutreten. Yukiko, in der wieder die altbekannte Unruhe aufgekommen war, berührte Riho am Ärmel, doch diese schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
„Es wird nun alles wieder gut“, sagte sie leise. „Ich bin mir sicher, dass sie keine bösen Absichten hegt.“
Das Mädchen nickte nervös und folgte ihrer Freundin. Dabei warf sie Katsuya, der sich nach Kräften bemüht hatte, sich möglichst im Hintergrund zu halten, einen raschen Blick zu. Auch er setzte sich zögerlich in Bewegung, den Kopf hielt er gesenkt. Das Haar fiel ihm ins Gesicht, verbargen die ihm so verhassten Augen.
Die Wirtin schien ihm bisher noch keine sonderliche Aufmerksamkeit gezollt zu haben, denn sonst hätte sie mit Sicherheit auf seine Besonderheit reagiert – das taten sie schließlich alle.
Yukiko für ihren Teil hoffte jedenfalls, dass Riho Recht behalten würde.
Die nächsten beiden Tage gestalteten sich relativ ruhig. Sollten die Amemiya tatsächlich nach Yukiko suchen, so waren sie bisher noch nicht sonderlich weit gekommen – niemand war gekommen, um nach ihr zu fragen, nichts bezüglich einer Fahndung oder eines Kopfgeldes war durchgedrungen.
Man konnte nur hoffen, dass es so blieb und es sich dabei nicht lediglich um die Ruhe vor dem Sturm handelte. Riho jedenfalls wollte nicht, dass Yukiko oder Katsuya in direkten Kontakt mit den Herbergsgästen kamen. Erstere half der Wirtin – Sayu – daher in der Küche aus, während der Junge zum Putzen abkommandiert worden war.
Für Yukiko, die ihr Leben lang nie hatte im Haushalt helfen müssen, tat sich damit eine vollkommen neue Welt auf. Sayu gegenüber hatte sie behauptet, lediglich zwei linke Hände und keinerlei Talent für Küchenarbeit zu haben – wobei sie sich wahrlich nicht sicher war, ob die Frau ihr diese Ausrede vollkommen abnahm – doch unter deren strenger Anleitung machte sie langsam, aber sicher Fortschritte. Tatsächlich machte ihr die Arbeit in der Küche sogar Spaß, zumindest um einiges mehr als der Kunst- und Musikunterricht, der ihr Zuhause aufgezwungen worden war.
Im Großen und Ganzen war Sayu wirklich gut zu den vermeintlichen Geschwistern. Der Lohn, den sie für die Arbeit erhielten, war zwar kaum nennenswert, aber dafür hatten sie einen Schlafplatz, Kleidung und etwas zu essen. Es war ein bescheidenes Leben, welches einen vollkommen Kontrast zu dem Luxus, in dem Yukiko bisher geschwelgt hatte, bildete, aber dies störte das Mädchen nicht wirklich, ganz im Gegenteil – sie war um die Arbeit mehr als nur froh. Dadurch, dass sie praktisch den gesamten Tag über beschäftigt war, blieb ihr nämlich kaum Zeit zum Nachdenken.
Nicht, dass Sakuya sie nicht trotzdem in ihren Träumen heimsuchte oder gar ihr Groll auf die Amemiya deswegen geringer wurde.
Am Abend des zweiten Tages saß sie am Rande des Waldes, der sich hinter der Herberge erstreckte, und beobachtete den Sonnenuntergang. Die wenigen Gäste, die sich in Sayus Haus eingefunden hatten, waren momentan versorgt, weswegen diese Yukiko eine kurze Pause gewährt hatte. Und so saß sie also unter einem der großen Laubbäume und betrachtete den roten Himmel, der allmählich dunkler wurde. Einige Sterne waren bereits am Zenit zu sehen, die Nacht brach rasch an. Der abendliche Wind war kühl, doch das nahm Yukiko kaum wahr. Gedankenverloren starrte sie auf den fernen Horizont, versuchte vergeblich, die düsteren Erinnerungen, die sich in ihr Bewusstsein zu drängen versuchten, beiseite zu schieben.
Wenigstens hatte sich dieses Wesen mit der unheimlichen Maske nicht mehr gezeigt. Es hatte nicht mehr zu ihr gesprochen oder gar seine Anwesenheit kund getan und darum war sie sehr froh.
Sie zog ihre Beine näher an ihren Körper und stützte ihren Kopf auf den Knien ab. Yukiko schloss ihre Augen und atmete tief durch. Zwar wusste sie noch immer nicht genau, ob das Wesen real oder lediglich ein Teil ihrer Phantasie war – sicher war nur, dass keine der beiden Optionen wünschenswert war.
Vielleicht sollte sie bei Gelegenheit mit Riho darüber sprechen. Ihr Kammerfräulein – nein, ihre liebste Freundin, würde sie gewiss ernst nehmen, ihre Sorgen nicht als Hirngespinste abtun. Sie würde bestimmt wissen, was zu tun war und wie sie mit diesen bizarren Vorfällen umzugehen hatte.
Schließlich hatte Riho für alles einen passenden Rat parat.
Theoretisch könnte sie selbstverständlich auch Katsuya um seine Meinung fragen, doch wie sie ihn kannte, würde er es nicht wagen, seine ehrliche Meinung abzugeben. Nein, er würde etwas sagen, von dem er glaubte, dass es Yukiko zufriedenstellte, nicht mehr und nicht weniger. Wie sehr sie sich doch wünschte, dass er sein festgefahrenes Standesdenken endlich ablegen könnte...
Ihr Atem wurde langsamer, ruhiger.
Wie lange würden sie wohl noch hier, in dieser friedlichen, kleinen Herberge, bleiben können? Gewiss nicht mehr gar so lang, war die Reise nach Senrei schließlich eine lange und beschwerliche. Auch die Meldung vom Tod des Kaisers erreichte langsam, aber sicher auch die entlegeneren Orte. Selbstverständlich war es das Hauptthema unter den Gästen – nun, da der Thron leer war, war auch die Zukunft mehr als nur ungewiss. Die Gerüchte bezüglich des Hinscheidens des Regenten waren vielfältig und divers, doch eines hatten sie alle gemeinsam: Jemand hatte nachgeholfen und dabei einen beträchtlichen Teil der kaiserlichen Familie mit in die andere Welt gesandt. Noch waren kaum öffentliche Bekanntmachungen abgegeben worden, doch es war kein Geheimnis, dass es hinter den Kulissen gefährlich brodelte.
Nur die Zeit würde zeigen, welchen Kurs diese Geschichte letztendlich einschlug. Yukiko für ihren Teil wagte es momentan nicht, zu viele Gedanken an die Zukunft zu verschwenden; es fiel ihr schon schwer genug, mit der Gegenwart zurecht zu kommen.
„Junge Herrin, dürfte ich mich zu Euch setzen?“
Yukiko öffnete die Augen und sah auf. Vor ihr stand Katsuya, der sie mit einem warmen, wenn auch etwas schüchternen Lächeln beachte.
Das Mädchen seufzte.
„Versuche es bitte nochmal.“
Er wirkte verwirrt.
„...W-Wie bitte?“
„Hast du vergessen, dass ich momentan nicht mehr deine 'Herrin' bin?“
Auch wenn es letztendlich nur eine Scharade war, so waren sie in der Zeit, die sie in dieser Herberge verbringen sollte, eine Familie – etwas, als das Yukiko ihre beiden Begleiter ohnehin betrachtete. Auch wenn sie es nicht anders kannte oder gewohnt war, so gab es Zeiten, in denen sie dieses respektvolle, geradezu unterwürfige Verhalten, welches die Angestellten und besonders Katsuya ihr gegenüber an den Tag legte, wahrlich Leid.
Und gerade jetzt, in diesen düsteren Zeiten, waren es keine Bediensteten, die sie sich wünschte.
„O-Oh, richtig... N-Nun, 'Schwester', ist der Platz neben E- dir noch frei?“
Yukiko versuchte gar nicht erst, ihr Kichern zu unterdrücken. Dann nickte sie.
„Selbstverständlich! Setze dich nur.“
Katsuya schien dieser ungewohnte Umgangston zwar nicht sonderlich zu behagen, aber dem Mädchen erschien es beinahe so, als würde auch ihm die Situation ein gewisses Vergnügen bereiten. Er kniete sich neben ihr ins Gras, wobei ihm einige Haarsträhnen ins Gesicht fielen.
Yukiko runzelte die Stirn.
„Es ist zwar nur meine Meinung, aber denkst du nicht, dass es allmählich mal wieder an der Zeit wäre, die Haare ein wenig zu kürzen? Manchmal verwundert es mich wirklich, dass du überhaupt noch etwas sieht.“
Dies war etwas, das sie tatsächlich schon vor Längerem aufgefallen war; bisher war sie lediglich noch nicht dazu gekommen, es anzusprechen.
Er senkte den Blick.
„Naja, gibt es nicht sehr viele Männer, die ihre Haare länger tragen?“
Ja, in der Regel allerdings zusammengebunden, als Pferdeschwanz oder Haarknoten - wobei seine bei Weitem noch nicht so lange waren, um so etwas möglich zu machen - und nicht so, dass das gesamte Sichtfeld verdeckt wurde,. Und an für sich kannte Yukiko ihren Begleiter inzwischen schon lange und gut genug um zu wissen, dass er ein unordentliches Erscheinungsbild normalerweise nicht ausstehen konnte – etwas, das ihm zweifelsohne nicht zuletzt von der perfektionistischen Sakuya eingebläut worden war.
Nein, wahrscheinlich ging es ihm lediglich darum, sich verstecken zu können.
Yukiko seufzte.
„Eigentlich möchte ich dir wirklich keine Vorschriften machen, aber offen gesagt ziehe ich es vor, meinem Gesprächspartner ins Gesicht sehen zu können...“
„V-Verzeih, bitte...“
„Nichts für ungut.“
Daraufhin verfielen die beiden in Schweigen. Ein wenig verstohlen beobachtete Yukiko Katsuya, der mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck die untergehende Sonne betrachtete. Vielleicht bildete sie es sich ja auch bloß ein, doch irgendwie hatte sie in diesem Moment das Gefühl, dass ihn die intensive Abendröte regelrecht beunruhigte.
Nachdenklich wandte sie ihren Blick ab. Vielleicht sollte sie ihn wirklich nochmal fragen, was er vor zwei Tagen, auf dieser Wiese, nun eigentlich zu sehen geglaubt hatte. Zwar war es für ihn durchaus normal, eine gewisse Unruhe und Nervosität an den Tag zu legen, aber nicht in diesem Ausmaß...
Was, wenn ihm die weiße Gestalt ebenfalls erschienen war?
„Katsuya, ich möchte dich gerne etwas fragen.“
Er blinzelte schnell, ehe er ihr das Gesicht zuwandte und sie ermutigend anlächelte.
„Selbstverständlich. Um was geht es?“
Yukiko schluckte und strich sich rasch durchs Haar.
„Du erinnerst dich doch gewiss noch daran, wie die Holzfigur zu Asche zerfallen ist, oder?“
Sein Lächeln fror regelrecht ein. Ja, natürlich erinnerte er sich daran; wie könnte man so etwas auch nur vergessen? Zwar gab er ihr keine Antwort, doch Yukiko sprach dennoch weiter.
„Ich würde gerne wissen, was du an jenem Tag gesehen hast.“
Katsuya drehte den Kopf wieder zur Seite, wich damit ihrem geradezu drängenden Blick aus. Als er dann erneut das Wort ergriff, klang seine Stimme zwar freundlich, wenngleich auch eigenartig tonlos, regelrecht furchtsam.
„Hast du es nicht selbst gesagt? Mein Verstand muss mir einen Streich gespielt haben, nicht mehr und nicht weniger. Warum also noch Gedanken auf einen derartig trivialen Zwischenfall verschwenden?“
Was bereitete ihm nur solch eine Angst, dass er nicht darüber sprechen wollte? Yukiko rückte ein klein wenig näher, suchte geradezu flehentlich seinen Blick.
„Bitte, ich möchte es wirklich wissen! Frag' mich nicht, warum, aber ich habe das Gefühl, dass es wichtig sein könnte.“
Dann zwang sie sich zu einem beruhigenden Lächeln.
„Egal, was es auch sein mag – ich werde dich gewiss nicht für verrückt halten, das verspreche ich dir.“
Katsuya zögerte.
„Ich... Ich bin kein Akuma, wirklich nicht. I-Ich weiß, es wird sehr seltsam klingen, aber ich bin weder verrückt noch... eigenartig, das musst du mir bitte glauben!“
Sie nickte, auch wenn sie sich insgeheim frage, wer es war, den er davon überzeugen wollte – Yukiko oder doch eher sich selbst? Nicht, dass es letztendlich vom maßgeblicher Bedeutung war; sie für ihren Teil hatte inzwischen begriffen, dass man kein Akuma sein musste, um eigenartige Dinge sehen zu können.
„Ja, ich glaube dir.“
Ihn schienen zwar noch immer so seine Zweifel zu plagen, doch letztendlich nickte er. Sein Blick schweifte wieder in die Ferne, hin zum roten Horizont.
„Offen gesagt weiß ich nicht, wie ich es am besten beschreiben könnte... „
„Versuche es einfach.“
Katsuya atmete hörbar aus, ehe er dann die Augen schloss. In seinem Gesicht lag ein ungemein erschöpfter, hoffnungsloser Ausdruck.
„...Ich glaube, ich habe das Ende der Welt gesehen.“
Ja, das klang in der Tat sehr seltsam. Yukiko für ihren Teil wusste im ersten Moment nicht, was sie sagen sollte und begnügte sich daher damit, ihn fassungslos anzustarren.
Katsuya schien ohnehin keine Antwort erwartet zu haben. Mit ruhiger, aber dennoch leicht zittriger Stimme sprach er weiter.
„Alles um mich herum war tot. Die Bäume, das Gras, die Blumen, alles. Die Sonne war dunkel und kalt, der Himmel wie in Blut getaucht. Es war... still, so still, dass ich das Rauschen meines eigenen Bluts hören konnte. Und du...“
Das, was sie da hörte, beunruhigte sie zutiefst. Nur mit Mühe konnte sie sich davon abhalten, Katsuya am Arm zu packen.
„Was? Was war mit mir?“
Doch er blieb stumm. Stattdessen hob er seine Hände, die nun ebenfalls von einem feinen Zittern erfasst worden waren und starrte sie mit leeren, abwesenden Augen an.
„Ich habe lange darüber nachgedacht“, erwiderte er dann, nach einer gefühlten Ewigkeit. „Es ist die einzige Deutung, zu der ich kommen konnte. Es muss das Ende der Welt gewesen sein! An solch einem Ort kann einfach nichts mehr existieren...“
Entgegen allem, was sie ihm zuvor noch gesagt hatte, fiel es Yukiko ungemein schwer, seiner Erzählung Glauben zu schenken. Sie konnte es sich einfach nicht vorstellen, das war ihr absolut unmöglich. Aber egal, wie glaubwürdig oder auch nicht seine Worte letztendlich sein mochten, so konnte sie nun zumindest voll und ganz verstehen, warum er sich so sehr fürchtete.
Eine Frage stand allerdings noch immer offen im Raum.
„Katsuya, was war denn nun mit mir?“
Zu ihrer Frustration schüttelte er den Kopf.
„Es tut mir Leid, aber das kann ich nicht sagen. Ich... finde weder Worte dafür, noch kann ich mir ein Bild davon machen. Aber ich weiß, dass es... schrecklich war...“
„Verstehe...“, murmelte sie leise, obwohl sie inzwischen gar nichts mehr verstand.
Katsuya glaubte, den Weltuntergang gesehen zu haben, während ihr das maskierte Wesen erschienen war. Zwar hoffte sie, dass ihr Bediensteter lediglich einem kurzen Tagtraum anheim gefallen war, doch einmal angenommen, er behielt tatsächlich Recht – bedeutete das dann, dass eine Verbindung zwischen diesen beiden Ereignissen bestand? Doch welche? Würde das Wesen etwa das Ende der Welt bringen, den Untergang abwenden? Und warum unterschieden sich diese beiden 'Visionen' so grundlegend voneinander?
Yukiko hatte auf all diese Fragen keine Antwort, wusste noch nicht einmal, was sie überhaupt denken sollte. Wahrscheinlich überstieg dies einfach ihren Verstand...
Sie legte ihren Kopf wieder auf ihre Knie und schloss die Augen. Selbst wenn dies ein Blick in die Zukunft gewesen war, was sollte sie, ein einfach Mensch, dagegen denn schon ausrichten können? Die Aufgabe, ihr eigenes Leben wieder in geregelte Bahnen zu bringen, erschien ihr im Moment ja schon wie ein Ding der Unmöglichkeit, wie also sollte sie in derartigen Dimensionen denken können?
Nein, Yukiko war keine Heldin, keine Kriegerin und gewiss auch keine auserwählte Heilige. Momentan war sie kaum mehr als ein verzweifeltes Mädchen, welches vor den Scherben seiner Existenz und am Rande de Wahnsinns stand.