In dieser Nacht konnte Yukiko nicht einschlafen. Dies war an für sich nichts Ungewöhnliches, hatte sie dieses Problem schließlich seit dem Tod ihrer Mutter. Wann immer sie sich zur Ruhe legen wollte, die Augen schloss, so drängten sich die Erinnerungen unangenehm prominent in ihr Bewusstsein. Zu Beginn waren es zumeist Erinnerungen an bessere Zeiten, an die unbeschwerten Tage ihrer Kindheit, die sie mit Hikaru und Katsuya verlebt hatte. Dann jedoch kam sehr rasch alles Schlechte, das ihr jemals widerfahren war, an die Oberfläche – das Verschwinden ihres Bruders, die Art und Weise, wie sich daraufhin ihr Alltagsleben verändert hatte, diese unheilvolle Ehe, in die ihre Mutter sie hatte drängen wollen...
Der Verrat, der an ihr und ihrer Familie begangen wurde und Sakuya den Tod gebracht hatte.
In Momenten wie diesen konnte sie sich nicht vorstellen, jemals wieder glücklich zu sein, nicht, wenn diese düsteren, erstickenden Gefühle sie gleich einem unüberwindbaren Strudel in die Tiefe zu ziehen drohten. Das einzige, das ihr dann noch Kraft verlieh, war der Gedanke daran, Amemiya Tomoe und Shougo ihre gerechte Strafe zuzuführen. In geradezu verstörenden Details malte sie sich in ihren Gedanken all die Dinge aus, die sie ihnen am liebsten antun würde, Hauptsache, diese schmerzhafte, klaffende Wunde, die ihre Seele davongetragen hatte, würde endlich ein wenig Linderung erfahren.
Der rationale Teil in ihr hieß dies alles andere als gut. Er wusste, dass Rache noch nie jemandem vom Tod zurückgebracht hatte, rügte sie für ihre sadistischen Phantasien. Meistens endete dies damit, dass sich Yukiko sogar noch zerrissener fühlte, als es ohnehin schon der Fall war. Tatsache war jedoch, dass ihre Gedanken endlos zu kreisen schienen, es ihr unmöglich machten, abzuschalten.
Mit einem gequälten Stöhnen zog sie sich ihre Bettdecke über den Kopf. Wie sehr sie sich doch danach sehnte, einfach mal eine Nacht lang durchschlafen zu können, ohne von diesen Albträumen und trüben Gedanken gequält zu werden! Gedämpft nahm sie das Prasseln der schweren Regentropfen, die auf das Dach trommelten, und das gespenstische Pfeifen des Windes, der durch die schlecht isolierten Holzwände in den Raum eindrang, wahr. Sie fröstelte, kuschelte sich ein wenig tiefer in ihren Futon. Sie war so schrecklich erschöpft...
Dann, auf einmal, spürte sie eine sanfte Berührung auf ihrem Rücken. Mit einem Ächzen schlug sie die Decke ein Stückchen zurück und richtete sich auf, wandte sich um. Neben ihr kniete Riho. Da es ziemlich dunkel war, konnte sie ihr Gesicht nur schemenhaft erkennen, aber das brauchte sie auch nicht, um zu wissen, dass ihre Freundin um sie besorgt war.
Das war sie schließlich immer.
„Könnt Ihr nicht schlafen?“, fragte Riho mit leiser Stimme.
Yukiko nickte.
„Ja, es fällt mir in letzter Zeit ein wenig schwer, zur Ruhe zu kommen...“
Dann seufzte sie und zuckte mit den Schultern.
„...Aber das ist nichts an für sich nichts Neues – ich meine, ich habe schon immer ziemliche Probleme mit dem Einschlafen gehabt!“
Dass dies eine Lüge war, wussten sie beide. Riho entschloss sich allerdings dazu, sie unkommentiert zu lassen. Stattdessen streckte sie ihre Hand aus und legte sie vorsichtig auf Yukikos Arm; das Mädchen glaubte, in der Dunkelheit ein sanftes Lächeln auf ihrem Gesicht erkennen zu können.
„Euch gehen gewiss viele Dinge durch den Kopf – mir geht es nicht anders. Ich weiß sehr wohl, dass es um einiges leichter gesagt als getan ist, aber es wäre sehr wichtig, zumindest ein klein wenig Schlaf zu finden; morgen steht uns wieder ein langer Tag bevor und Ihr könnt es Euch nicht leisten, gerade jetzt krank zu werden.“
Ja, selbstverständlich wäre es das, doch wie sollte sie das schaffen, wenn es so vieles gab, das sie beschäftigte? Yukiko schwieg einige Momente lang, ehe sie dann, langsam, zögerlich, zum Sprechen ansetzte.
„Wann immer ich alleine bin, dann kommen mir solche... Gedanken. Ich... kann an nichts anderes mehr denken, als an das, was ich...“
Sie biss sich auf die Unterlippe und senkte den Kopf.
„Ich hasse sie einfach, verstehst du das? I-Ich möchte es ihnen einfach nur heimzahlen, ihnen dieselben Schmerzen zufügen, die sie auch mir angetan haben und noch viel mehr... Heißt das, dass ich... genauso furchtbar bin wie sie?“
Auch dies war eine Frage, die ihr immer und immer wieder in den Sinn gekommen war, sie doch stärker beschäftigte, als ihr lieb war. Es war nicht so, als hätte sie Schuldgefühle oder etwas ähnliches, aber ein eigenartiger Nachgeschmack blieb dennoch zurück.
„Aber nicht doch! Ganz im Gegenteil, es ist vollkommen normal, dass Ihr auf diese Weise empfindet. Die Amemiya sind schreckliche Menschen, das kann jeder sehen.“
Yukiko spürte, wie Riho ihr behutsam das Haar aus dem Gesicht strich. Eine freundliche, geradezu liebevolle Geste, die ihr jetzt, in ihrer Verunsicherung und Niedergeschlagenheit, wirklich gut tat.
„Tatsächlich denke ich, dass es der richtige Weg wäre. Sie sind Eure Feinde und sollten für ihre Untaten bestraft werden, müssen erkennen, dass sie zu weit gegangen sind. Nicht nur, dass Ihr Euch hinterher besser fühlen und der Seele Eurer Mutter Frieden verschaffen würdet – oh nein: Auf diese Weise könntet Ihr verhindern, dass sie anderen dasselbe Leid zufügen, wie sie es Euch angetan haben.“
Ein kleines, beruhigtes Lächeln stahl sich auf Yukikos Gesicht; ihre Freundin schaffte es immer, sie von ihrer Verunsicherung, ihrem Zweifel, zu befreien. Sie war wahrlich ihre Stütze, diejenige, die sie stets aufbaute und davor bewahrte, von ihren Lasten erdrückt zu werden.
Riho war für sie wie die große, verständnisvolle Schwester, die sie niemals hatte. Nein, sie war kein Ersatz für Hikaru – das war unmöglich – aber zumindest etwas, was dem sehr nahe kam.
„...Wenn ich meine Rache jemals vollenden möchte, dann muss ich stärker werden“, murmelte Yukiko. „Ich muss lernen, zu kämpfen und mich zu verteidigen... I-Ich muss weitere Verbündete suchen u-und...“
Zu ihrer Überraschung schüttelte Riho, kaum hatte sie dies gehört, nachdrücklich den Kopf.
„Das ist nicht notwendig“, sagte sie bestimmend. „Ihr habt mich an meiner Seite und solange Ihr meinen Rat hört, ihn Euch zu Herzen nehmt, wird sich alles zum Besten entwickelt. Außerdem könnt Ihr Euch auch der Unterstützung der Ayasaki-Familie sicher sein; sie haben Eurem Klan die bedingungslose Treue geschworen und werden alles tun, was Ihr von ihnen verlangt. Je weniger Aufmerksamkeit wir auf uns ziehen, desto besser.“
Yukiko zögerte; sie war gewiss die letzte, die Rihos Kompetenzen anzweifelte, doch so, wie es für sie klang, schien ihr Kammerfräulein die Macht und den Einfluss der Amemiya fatal zu unterschätzen. Sie hatten immerhin eine gesamte Provinz unter sich, genossen den Schutz ihrer Soldaten und Verbündeten. Und was hatte Yukiko? Zwei Hausangestellten und, wenn sie Glück hatte, die Unterstützung eines kleinen Klans, der schon vor langer Zeit einen Großteil seiner einstigen Stärke eingebüßt hat. Sie war von ihrer Familie abgeschnitten, hatte momentan keinerlei Möglichkeiten, mit ihnen in Kontakt zu treten – wusste noch nicht einmal, in welcher Situation sich ihre Verwandten, ihr Vater, wohl befanden.
Was also mochte sich Riho wohl vorstellen?
Die junge Frau schien den Zweifel ihrer Herrin zu bemerken. Sie stieß einen langen, geradezu enttäuscht klingenden Seufzer aus. Riho legte den Kopf schief, legte ihre Hände auf Yukikos Arme.
„Junge Herrin, warum zweifelt ihr? Habt Ihr kein Vertrauen in mich?“
Das Mädchen schüttelte vehement den Kopf.
„Nein, selbstverständlich vertraue ich dir! Es ist nur so, dass...“
Sie unterbrach sich und schloss müde die Augen. Ja, wovor fürchtete sie sich überhaupt? Riho hatte ihr noch nie einen Grund geliefert, ihr zu misstrauen, war eine vernünftige, intelligente Person. Auch wenn Yukiko es momentan noch nicht verstehen mochte – ihr Kammerfräulein wusste gewiss, was sie tat, das tat sie schließlich immer.
„Du genießt mein volles Vertrauen“, wiederholte sie sich.
Riho nickte lächelnd.
„Und ich werde Euch gewiss nicht enttäuschen! Doch nun solltet ihr euch wieder hinlegen und versuchen, einzuschlafen.“
„Ja, wahrscheinlich hast du Recht...“
Und so schloss Yukiko ihre Augen und ließ sich wieder in ihr Kissen sinken. Sie hörte wie Riho, die noch immer neben ihr saß, leise ein Lied zu summen begann. Es war ein schönes, beruhigendes Lied, welches Yukiko bisher noch unbekannt gewesen war. Das Mädchen drehte sich auf die Seite, dem wohlklingenden Gesang lauschend. Es war seltsam, doch mit einem Male fühlte sie sich so viel ruhiger, entspannter.
„Was ist das für ein Lied?“, fragte sie schläfrig.
Riho antwortete ihr nicht sofort, sondern schwieg einige Sekunden lang andächtig.
„Eines aus früheren Zeiten“, sagte sie schließlich mit leiser Stimme. „Meine Schwester hat es mir beigebracht.“
Yukiko schlug überrascht die Augen auf.
„Du hast eine Schwester?“, fragte sie neugierig.
Dies war das erste Mal, das sie davon hörte! Allerdings gab Riho nur sehr wenig über sich preis, sprach nie über ihre Familie, ihre Vergangenheit. Yukiko hatte sie bisher auch niemals danach gefragt.
„Es ist lange her“, murmelte das Kammerfräulein, so, als wäre dies die Antwort auf alle Fragen.
Ob sie diese Schwester auf die ein oder andere Weise verloren hatte? Bestimmt, denn sonst hätte sie Yukiko doch gewiss von ihr erzählt oder sich in den letzten fünf Jahren zumindest einmal mit ihr getroffen. Seitdem sie ein Teil des Asatsuyu-Haushalts geworden war, war sie beinahe immer an Yukikos Seite gewesen. Die einzigen Male, an denen sie von ihrer jungen Herrin getrennt war, waren jene Tage gewesen, an denen sie Sakuya in die Stadt begleitete.
Worin auch immer die Gründe ihres Schweigens liegen mochte – Yukiko respektierte sie, obwohl sie zugegebenermaßen durchaus neugierig war. Doch da auch sie selbst sechs Jahre nach Hikarus Verschwinden enorme Probleme hatte, auch nur über ihn zu sprechen, konnte sie sich durchaus denken, wieso Riho bisher kein Wort über diese Schwester verloren hatte.
Sie schloss wieder ihre Augen und ließ sich von dem leisen, immer ferner werdenden Summen hinfort treiben.
Wenigstens dieses eine Mal wurde Yukikos Wunsch erhört – sie hatte endlich einmal wieder durchgeschlafen, tief und vor allem erfreulich traumlos. Zwar fühlte sie sich am nächsten Morgen noch immer ein wenig erschöpft, doch rein gemütsmäßig ging es ihr relativ gut. Dieses Gespräch mit Riho schien wahre Wunder bewirkt zu haben!
Nachdem sie sich gewaschen und angezogen hatte, wurde sie von Sayu zuallererst zum Wasserholen nach draußen geschickt. Die Gästezimmer und das Badehaus mussten dringend mal wieder vom Grund auf gereinigt werde und da dies für eine Person – sprich Katsuya – doch etwas viel wäre, hatte sich Yukiko großmütig dazu bereit erklärt, ihn dabei zu unterstützen. Sie hoffte nur, dass sie ihm am Ende nicht noch mehr Arbeit bescheren würde.
Mit dem großen Putzeimer in den Händen trat sie ins Freie. Der Duft des Regens, der in der vergangenen Nacht gefallen war, hing noch immer in der Luft, das Wetter war klar und erfrischend kühl. Die Strahlen der Morgensonne fielen sanft auf Yukiko herab, wärmten ihr Gesicht und ihre nackten Arme. Es sah so aus, als würde heute ein weiterer heller, freundlicher Tag werden.
Der kleine Bach, an dem Sayu immer ihr Wasser holte, befand sich auf der anderen Seite der Straße, direkt gegenüber des Wirtshauses. Auch wenn der Weg wirklich nicht weit war, so wusste Yukiko dass er ihr, sobald es den schweren Bottich zurückzutragen galt, wie eine Ewigkeit erscheinen würde.
„Einen guten Morgen, junge Dame!“
Der plötzliche Klang der unbekannten Stimme jagte Yukiko, die bis gerade ihren eigenen Gedanken nachgehangen hatte, doch einen rechten Schrecken ein, sodass ihr sogar beinahe der Bottich aus den Händen gefallen wäre. Nachdem sie ihre Fassung wiedererlangt hatte – was recht schnell ging – stellte sie den Eimer auf dem Boden ab und drehte sich um, in Richtung des Neuankömmlings.
Es handelte sich um einen Mann Anfang zwanzig. Er trug recht unauffällige, für Reise recht komfortable Kleidung, schien allerdings ohne Begleitung oder nennenswertem Gepäck unterwegs zu sein. Außerdem war er – zumindest Yukikos Meinung nach – recht hübsch, wenn auch nicht auf dieselbe Weise wie Shougo, der besonders durch seine distinguierte, aber dennoch äußerst maskuline Erscheinung auffiel. Der Fremde wirkte eher zierlich, geradezu puppenhaft, wie eines jener Schmuckstück, die man Zuhause in einer Vitrine ausstellte. Er hatte braune, recht helle Haare – ob seine Vorfahren aus dem Ausland stammten? - und braune Augen, deren Farbe allerdings stark ins rötliche gingen.
Yukiko spürte sofort, wie die innere Unruhe wieder aufzukeimen begann; gut, sie arbeitete in einer Herberge, weswegen es selbstverständlich war, dass der Kontakt mit Fremden unvermeidbar war, doch dieser junge Mann... Zwar wies nichts in seiner Erscheinung oder dem freundlichen Lächeln, welches er ihr schenkte, auf irgendeine böse Absicht hin, dennoch hatte sie, was ihn betraf, ein äußerst ungutes Gefühl.
Sie senkte den Blick, knete nervös ihre Hände.
„Den wünsche ich Ihnen ebenfalls...“, entgegnete sie leise. „Kann ich Ihnen helfen?“
Offenbar war ihm ihre Verunsicherung nicht entgangen, was allerdings kaum verwunderlich war.
„Ah, sei unbesorgt, junges Fräulein, ich möchte dir nichts Böses!“, sagte er beschwichtigend. „Tatsächlich möchte ich nach Amenomori, bin mir allerdings nicht vollkommen sicher, ob ich den richtigen Weg eingeschlagen habe...“
Amenomori war die Hauptstadt Hisagis. Normalerweise hatte Yukiko keinen sonderlich guten Orientierungssinn, doch da sie gerade erst gestern einen Blick in die alte Landkarte, die sie Sayus Lagerraum gefunden hatte, geworfen hatte, konnte sie ihm sogar Auskunft geben.
„Amenomori liegt weiter im Nordwesten“, erklärte sie zögerlich und deutete auf die Straße, in jene Richtung, aus der der Fremde wahrscheinlich gerade gekommen war. „Am besten Sie folgen der Straße. Nach einigen Kilometern sollten Sie dann eine große Kreuzung erreichen – sie ist beschildert, also müssen Sie lediglich den Anweisungen folgen. Allerdings werden Sie zu Fuß recht lange brauchen...“
Der Mann lächelte dankbar und verbeugte sich knapp.
„Vielen Dank für die Auskunft! Eigentlich hätte ich ja von selbst darauf kommen können, aber leider sind meine Augen nicht mehr die besten...“
Jetzt, da er es erwähnte, bemerkte es auch Yukiko – sein linkes Auge sah eigenartig trüb aus. Ob er auf ihm wohl blind war? Zumindest erschien es ihr so.
Sie erwiderte das Lächeln schüchtern.
„Nein, nichts zu danken – passen Sie auf sich auf, die Straßen sind dieser Tage sehr gefährlich!“
Mit diesen Worten bückte sie sich, um den Bottich wieder aufzuheben, in der Hoffnung, dass der Fremde verschwunden sein würde, bis sie sich wieder aufgerichtet hatte. Dieser schien es allerdings nicht sonderlich eilig zu haben, ganz im Gegenteil.
„Oh? Was haben wir denn dort?“
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er ebenfalls in die Knie ging und etwas vom Boden auflas. Was auch immer er gefunden haben mochte, es schien sich um etwas zu handeln, das klein genug war, um in seine ausgestreckte Handfläche zu passen. Mit sichtlichem Interesse musterte er den Gegenstand, tastete ihn vorsichtig ab.
Yukiko erkannte schnell, dass es sich um ein längliches, in der Sonne goldglänzendes Ding handelte – die Haarnadel ihrer Mutter. Hastig griff sie zuerst in ihren Obi und anschließend in die weiten Ärmel ihres Yukatas, jene Stelle, wo sie das Schmuckstück verstaut haben könnte – es war tatsächlich weg. Sie musste es unterwegs wohl verloren haben... Wahrscheinlich sollte sie in Zukunft besser auf Riho hören und es im Zimmer lassen, doch bisher hatte sie es nicht über sich bringen können, das Memento aus der Hand zu geben.
„A-Ah, das gehört mir!“, brach es aus ihr heraus. „I-Ich muss es fallen gelassen haben...“
„Tatsächlich?“, murmelte der Fremde, der die Haarnadel noch immer wie gebannt anstarrte. „Es ist ein sehr schönes Stück.“
Yukiko, die nervös ihre Unterarme umkrallte, nickte fahrig; allmählich war ihr wirklichunwohl.
„Es ist ein Erbstück von meiner M-... Großmutter“, erklärte sie hastig. „Sie hat bei reichen Herrschaften gearbeitet, die es ihr dann überlassen haben... Für ihre guten Dienste...“
Sie atmete aus und sah wieder zu Boden. Ob der Fremde ihr diese Lüge abnahm? Sie selbst würde es wahrscheinlich nicht tun. Der junge Mann wandte seinen Blick von dem Schmuckstück ab und richtete ihn auf Yukiko.
„Diese Herrschaften müssen wahrlich wohlhabend gewesen sein! Junges Fräulein, du solltest wirklich ein wenig sorgsamer mit deinen Besitztümer umgehen, besonders dann, wenn es sich um solch wertvolle Erinnerungsstücke handelt.“
Es war ja nicht so, als hätte sie die Haarnadel absichtlich fallen gelassen, ganz gewiss nicht.
„Das werde ich“, sicherte sie ihm dennoch zu. „Könnte ich sie nun bitte wieder bekommen?“
Sie sollte vorerst keine Antwort auf ihre Bitte bekommen. Stattdessen spürte sie, wie der Fremde sie aufmerksam, geradezu prüfend musterte; Yukiko für ihren Teil lief es in diesem Moment eiskalt den Rücken hinunter. Wusste er etwa, wer sie war, hegte er vielleicht zumindest eine entsprechende Ahnung? Dies wäre äußerst schlecht.
Der junge Mann öffnete schon den Mund, wollte gerade etwas erwidern, als eine weitere Person den Schauplatz betrat.
„Yuki, wo bleibst du denn so lange?“
Es handelte sich um Riho, die voll und ganz in die Rolle als ältere Schwester hineingeschlüpft war. Zwar war 'Yukiko' ein äußerst beliebter Mädchenname, doch dasselbe – wenn nicht sogar noch in größerem Ausmaß - konnte man auch von der kürzeren Version, 'Yuki' sagen, weswegen sich die drei darauf geeignet hatten, sie für die Dauer ihrer Scharade mit genau diesem anzusprechen.
„S-Schwester! Dieser Herr hat mich nach dem Weg nach Amenomori gefragt... Außerdem habe ich Großmutters Erbstück fallengelassen; er wollte es mir gerade zurückgeben“, erklärte das Mädchen, dem ein riesiger Stein vom Herzen fiel.
Riho würde bestimmt wissen, wie mit dieser Situation am besten umzugehen war! Das Kammerfräulein gesellte sich zu den beiden hinzu, stellte sich zwischen Yukiko und den Mann und fixierte letzteren mit einem freundlichen Blick; wer Riho allerdings gut genug kannte, der konnte einen unterschwelligen, herausfordernden Ausdruck in ihm erkennen.
„So, ist dem so? Nun, dann sollten wir ihm wohl für seine Ehrlichkeit danken!“
Im ersten Moment reagierte der junge Mann überhaupt nicht; stumm erwiderte er Rihos Blick, ehe dann seine Augen etwas verengte; erst jetzt nahm Yukiko so wirklich zur Kenntnis, wie leer und leblos sie doch aussahen. Sein Lächeln war keinen Moment lang von seinem Gesicht gewichen, im Gegenteil – es sah nun beinahe aufrichtig aus.
Er streckte seine Hand aus und bot Yukiko die Haarnadel dar. Das Mädchen trat vor und nahm sie ihm ohne zu zögern ab, umklammerte sie fest und hielt sie nah an ihren Körper.
„Vielen Dank...“, nuschelte sie kaum hörbar, ehe sie rasch wieder schutzsuchend hinter Riho stellte.
Der junge Mann zuckte lediglich mit den Schultern.
„Nichts zu danken. Nun denn, dann werde ich mal wieder meines Weges ziehen... Es war schön, mit euch gesprochen zu haben, die Damen.“
Er verbeugte sich nochmals zur Verabschiedung, wandten sich von den beiden Mädchen ab und folgte, ohne noch einmal zurückzuschauen, der langen Straße. Yukiko und Riho blieben noch einige Zeit wortlos stehen, solange, bis er endgültig aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
Nun, dies war eine wirklich eigenartige Begegnung gewesen! Das Mädchen hatte wahrlich keine Ahnung, was sie davon bloß halten sollte.
Auf jeden Fall wusste sie, dass sie froh war, dass er endlich gegangen war.
„...Ich fürchte, wir werden unsere Zelte hier in sehr naher Zukunft abbrechen müssen“, verkündete Riho beim Mittagessen.
Sayu war gerade damit beschäftigt, sich um einen neu angereisten Gast zu kümmern, wodurch die drei einigermaßen frei sprechen konnten. Katsuya stellte seine Reisschale ab und warf der jungen Frau einen fragenden Blick zu.
„Jetzt schon? Ich dachte, wir wollten wenigstens noch eine Woche bleiben...“
Riho legte den Kopf schief und seufzte.
„Die Situation hat sich bedauerlicherweise ein wenig geändert. Es ist zwar nur ein Bauchgefühl – und ich verlasse mich normalerweise nicht gerne auf bloße Ahnungen – aber ich fürchte, dass wir in Gefahr sein könnten...“
Während sie dies sagte, wirkte sie ehrlich besorgt – was doch sehr ungewöhnlich für sie war. Wie dem auch sei, nun war Katsuya wirklich hellhörig geworden.
„Was für eine Gefahr?“, hakte er nach.
Seine Neugier wurde eines kühlen Blickes gestraft, doch Riho ließ sich – zu seiner Verwunderung – tatsächlich zu einer Erklärung herab.
„Yuki und ich hatten eine Begegnung mit einer... nun, sonderbaren Person. Ich habe keine Beweise und er hat an für sich nicht sonderlich bedrohlich bewirkt, aber ich bin mir sicher, dass er gefährlich ist.“
Yukiko schauderte sichtlich.
„Das denke ich auch“, pflichtete sie der jungen Frau bei. „Ich weiß nicht warum, aber er hat mir ein wenig Angst gemacht.“
Eine eigenartige, potentiell bedrohliche Person, also. Wieso nur musste Katsuya geradezu reflexartig an Misato denken? Da es sich bei diesem Fremden wohl um einen Mann handelte, konnte er nicht sie sein, aber trotzdem...
„Könnte er ein Verbündeter oder Untergebener der Amemiya sein?“, fragte er daher nachdenklich.
Riho zuckte mit den Schultern.
„Möglich wäre es. In diesem Falle würde es mich zwar ein wenig verwundern, dass er Yuki nicht sofort zu entführen versucht hatte, doch ich könnte mir durchaus vorstellen, dass er dafür seine Gründe hat. Zu unserer Sicherheit sollten wir stets vom schlimmstmöglichen Fall ausgehen.“
Ob diese Person nun zu den Amemiya gehörte oder nicht: Spätestens jetzt wusste er, wo sich Yukiko – sollte er sie tatsächlich als diese erkannt haben – momentan aufhielt und dies war Katsuyas Meinung nach ein gewaltiges Problem. Das Mädchen teilte seine Ansicht.
„...Wenn wir noch länger hierbleiben, dann könnten wir Sayu in Gefahr bringen – wenn wir das durch unsere bloße Anwesenheit nicht schon getan haben“, sagte sie unglücklich. „Auch wenn ich noch sehr gerne etwas bleiben würde, so sehe ich es genauso wie Riho.“
Diese nickte zufrieden.
„Schön, dass du mir zustimmst. Und überhaupt, je eher wir Kaishin erreichen, desto besser – die Ayasaki haben viel mehr Möglichkeiten, für unsere Sicherheit zu garantieren, als wir selbst es jemals könnten.“
Doch bis sie diesen scheinbar sicheren Hafen erreichen würde, standen ihnen gewiss noch einige Schwierigkeiten bevor.
„Wann werden wir also aufbrechen?“, erkundigte er sich vorsichtig.
Riho legte nachdenklich den Kopf in den Nacken.
„Spätestens morgen. Ich werde heute Abend allerdings mit Sayu sprechen – wenn wir Glück haben, kann ich uns etwas Verpflegung und Ausrüstung herausschlagen.“
„Apropos Sayu – da fällt mir ein, dass ich ihr versprochen hatte, schon einmal einige Dinge für das Abendessen vorzubereiten!“, verkündete Yukiko sichtlich erschrocken.
Sie stellte ihr leeres Geschirr auf einem Holztablett ab und erhob sich hastig von ihrem Sitzkissen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren verließ sie den kleinen Raum, der als Sayus Privatbereich diente. Selbstverständlich ließ Yukiko die Tür offenstehen – das war etwas, das sie immer tat. Sakuya hatte sie dafür stets gerügt und eine Zeit lang hatte es tatsächlich so ausgehen, als wäre es ihr gelungen, ihrer Tochter diese schlechte Angewohnheit auszutreiben.
Seit der Flucht vom Amemiya-Anwesen war sie allerdings in dieses alte Verhaltensmuster zurückgefallen.
Riho seufzte.
„Sie lernt es wohl nie...“
Sie bewegte sich zur Tür, um diese zuzuschieben. Katsuya hingegen starrte verunsichert auf die halbleere Reisschale, die vor ihm stand. In der vergangenen Nacht hatte er etwas mitbekommen, das ihn doch äußerst beunruhigte. Riho und Yukiko schienen zwar gedacht zu haben, dass er schon fest geschlafen hätte, aber dem war nicht so gewesen, ganz im Gegenteil – er hatte so gut wie jedes Wort ihres Gesprächs mitangehört. Dass letztere noch immer an ihren Rachephantasien festhielt, überraschte ihn nicht im Geringsten, doch der Umstand, dass das Kammerfräulein sie in ihren Plänen sogar noch zu bestärken, anzuspornen schien, war seiner Meinung nach recht bedenklich.
Katsuya war sich bewusst, dass in der Gesellschaft, in der er lebte, die Blutrache noch immer ein weit verbreitetes Konzept war, besonders in Fällen wie jener, dem Yukiko zu Opfer gefallen war. Allerdings glaubte er kaum, dass die blutige Vergeltung, die das Mädchen zu planen schien, ihr in irgendeiner Art und Weise Frieden bringen würde, ganz im Gegenteil – besonders jetzt, da sie sich in solch einem labilen Zustand befand, würde sie nur noch tiefer in die Dunkelheit stürzen. Sie würde sich letzten Endes bloß zum Ziel machen, niemals den so bitter nötigen Frieden finden.
Nicht, dass Katsuya die Amemiya ungeschoren davon kommen lassen wollte – oh nein, auch sie sollten ihre gerechte Strafe erhalten. Aber nicht durch Yukikos Hand. Das, was die Amemiya zu verantworten hatten, war letztendlich ein Mord, der, sobald im Land wieder Frieden eingekehrt war, durch das kaiserliche Gesetz bestraft werden sollte. Oder, wenn dies nicht möglich, durch ein anderes Mitglied der Asatsuyu-Familie, Hauptsache, Yukiko bürdete sich nicht noch mehr auf.
„Was? Hast du etwas zu sagen?“
Riho schien bemerkt zu haben, dass ihm etwas durch den Kopf zu gehen schien; sie fixierte ihn mit einem ungehaltenen, geradezu herausfordernden Blick.
Eigentlich wollte Katsuya mit ihr nicht darüber sprechen, doch er hatte das drängende Gefühl, es tun zu müssen. Deswegen nahm er seinen Mut zusammen und setzte zu einer Antwort an.
„...Warum lässt du sie nicht zur Ruhe kommen?“, fragte er mit leiser Stimme. „Sie hätte es verdient, ein wenig Frieden zu finden, aber du befeuerst sie auch noch in ihren Rachegelüsten!“
Riho starrte ihn kalt an. Dann seufzte sie und verzerrte ihr Gesicht zu einem abfälligen Lächeln.
„Du begreifst es wohl nicht, oder? Solange dieses Weib und ihr Sohn leben, wird Yuki niemals Frieden finden! Siehst du denn nicht, dass dies momentan das einzige ist, das ihr noch Kraft zum Weitermachen gibt?“
„Vielleicht“, räumte er widerstrebend ein. „Aber das Problem ist, dass du sie so offensichtlich beeinflusst. Wäre es nicht besser, zuerst Zuflucht in Senrei zu suchen? Wenn diese Menschen wirklich unsere Verbündeten sind, dann werden sie uns beistehen und der jungen Herrin dabei helfen, zur Ruhe zu kommen. W-Wenn sie etwas Distanz zu diesem schrecklichen Abend gewonnen hat und vernünftig darüber nachdenken kann, dann -...“
„Dann was?“
Riho schnaubte.
„Glaubst du ernsthaft, dass sich ihre Meinung ändern wird? Nein, gewiss nicht! Sie wird daran festhalten, egal, was wir sagen. Warum also möchtest du ihr das Leben noch schwerer machen?“
Selbstverständlich nicht, doch darum ging es momentan auch überhaupt nicht.
„...Riho, was beabsichtigst du damit?“, entgegnete er mit gezwungen ruhiger Stimme.
„Eigentlich habe ich keinen Grund dazu, mich vor dir zu rechtfertigen, ganz im Gegenteil“, bekam er ebenso kühl zur Antwort. „Aber andererseits habe ist es nichts, das ich geheim halten müsste: Alles, was ich tue, ist nur zu Yukis Besten, nicht mehr und nicht weniger. Auch wenn du in deiner Paranoia es vielleicht nicht wahrhaben möchtest – ich habe kein übergeordnetes Motiv , oder wie auch immer man es nennen mag.“
Dann beugte sie Riho vor, näher zu Katsuya hin. Auf ihrem Gesicht hatte sich wieder dieses beunruhigende, kalte Lächeln breitgemacht; unruhig wich er ihrem Blick aus.
„Doch da wir schon gerade beim Thema sind, würde ich dir gerne etwas sagen: Solange sie mich hat, braucht sie dich nicht. Du bist uns kaum mehr als eine Last, auf die wir getrost verzichten können. Glaub' mir, hätte ich die Möglichkeit gehabt, so hätte ich dich schon längst irgendwo zurückgelassen, doch das kann ich Yuki nicht antun, zumindest noch nicht.“
Katsuya hatte natürlich gewusst, dass Riho ihn nicht leiden konnte, doch er hätte nicht gedacht, dass es so schlimm war. Gut, er selbst war von ihr ebenfalls nicht sonderlich angetan, doch gerade jetzt, da sich die Dinge so sehr zum Schlechteren gewandt hatten, wollte er gewiss keinen Streit vom Zaun brechen. Wäre es daher nicht besser, diese lächerlichen Streitigkeiten zu begraben und stattdessen lieber zusammenzuarbeiten?
Er schüttelte den Kopf.
„Riho, was habe ich dir eigentlich getan, dass du mich so sehr hasst?“
Die junge Frau hob die Augenbrauen.
„'Hassen', sagst du? Ich glaube, du überschätzt dich ein wenig - so starke Gefühle hege ich ganz gewiss nicht für dich, das bist du mir nicht wert. Und da Yuki leider noch immer so sehr an dir zu hängen scheint, bin ich gewillt, deine Anwesenheit zu dulden – zumindest so lange wie notwendig. Doch solltest du weiterhin versuchen, dich zwischen uns zu drängen, könnte es durchaus sein, dass ich meine guten Vorsätze vergesse.“
Nun war Katsuya derjenige, der die Stirn runzelte; betrachtete Riho ihn etwa als eine Art Konkurrent? Was auch immer sie ihm damit sagen wollte, eine Kleinigkeit schien sie vergessen zu haben – nämlich dass sie diejenige war, die offenbar ihr Bestes gab, ihn in den Hintergrund zu drängen. Er schwieg, unsicher, was er daraufhin noch erwidern sollte.
Sie würde ohnehin auf ihrem Standpunkt beharren. Sicher war jedoch, dass er sie im Auge behalten, dafür sorgen würde, dass sich Yukiko nicht noch weiter in ihrem Hass und ihrer Trauer verlor. Tatsächlich hatte er bereits mit dem Gedanken gespielt, das Mädchen auf Rihos kaum verhohlenen Manipulationen anzusprechen, hatte sich allerdings dazu entschlossen, für den Moment davon abzusehen – so, wie sie derzeit war, würde dies nur ein Keil zwischen Yukiko und Katsuya treiben und das wollte er unter keinen Umständen riskieren.
Oh nein, was auch immer Riho ausgeheckt haben mochte – er würde sich von ihr gewiss nicht einfach so vertreiben lassen, so viel stand fest.