Am nächsten Tag, gleich am Vormittag, setzte die kleine Gruppe ihr Vorhaben in die Tat um. Glücklicherweise hatte Riho bereits die nötigen Arrangements getroffen; Sayu für ihren Teil hatte bezüglich der für sie doch recht unerwarteten Ankündigung überrascht – und bis zu einem gewissen Grade auch enttäuscht – reagiert, letztendlich jedoch keine weiteren Fragen gestellt und die Lüge, die Riho ihr als Erklärung aufgetischt hatte, geschluckt. Tatsächlich gab sie den drei auch etwas Verpflegung mit – einige alte Kleider, die sie nicht mehr brauchte, eine Landkarte und ein wenig zu essen. Yukiko war ihr für ihre Güte wahrlich dankbar; es widerstrebte ihr, jetzt schon zu gehen, doch sie konnte und wollte einen längeren Aufenthalt in der Herberge nicht verantworten.
Und so machten sie sich auf die Weiterreise. Zu Fuß würden sie voraussichtlich – die Pausen nicht mit eingerechnet – wahrscheinlich zwei bis drei Tage brauchen, ehe sie die Grenze zu Senrei erreichen. Dies war eine doch ziemlich weite Strecke, weswegen Yukiko darauf hoffte, irgendwo eine Mitfahrgelegenheit finden zu können; gerade auf den größeren Straßen herrschte doch ein recht reger Kutschverkehr, weswegen die Wahrscheinlichkeit, dass sich einer der reisenden Händler oder Bauern erbarmte und sie ein Stück weit mitnahm, durchaus gegeben war.
Soviel Glück sollten sie heute allerdings nicht haben, was gewiss nicht zuletzt daran lag, dass Riho die Hauptverkehrsrouten für den Moment weitestgehend meiden wollte. Und so wanderten sie stundenlang durch die verlassenen Felder, weiten, trostlosen Wiesen und düsteren Waldgebiete Hisagis. Von einigen kleinen Bauernhöfen einmal abgesehen konnten sie auch dieses Mal unterwegs keine größeren Ortschaften entdecken. Dies war schade, denn an für sich wollte Yukiko die Nacht nur ungern im Freien verbringen. Von der Ungemütlichkeit des nackten Bodens einmal abgesehen war es relativ gefährlich, nach Einbruch der Dunkelheit durch die Gegend zu streifen – zu hoch war die Wahrscheinlichkeit, auf Banditen oder wilde Tiere zu stoßen.
Es war bereits später Nachmittag, als sich die Gruppe dazu entschloss, endlich eine bitter notwendige Pause einzulegen. Sie hatten den Rand eines kleinen, aber dichten Waldes erreicht, durch den ein schmaler Pfad führte. Yukiko, der die Beine wehtaten und die das Gefühl hatte, keinen weiteren Schritt mehr tun zu können, ließ sich mit einem Ächzen auf einem umgestürzten, halb verrotteten Baumstamm nieder. Rasch befreite sie sich von ihren Schuhen, gestattete ihren geschundenen Füßen ein wenig Freiraum.
„... Ich fühle mich wahrlich wie erschlagen“, murmelte sie. „Wie weit müssen wir heute denn eigentlich noch gehen?“
Riho, die auf einem großen Stein saß, griff in den Stoffbeutel, den sie von Sayu bekommen hatte und holte die Landkarte hervor. Sie faltete sie auf und studierte sie mit konzentrierter Miene.
„Vielleicht irre ich mich, aber ich glaube, dass wir ungefähr hier sein müssten“, sagte sie und deutete auf einen der eingezeichneten Wälder. „Die nächst größere Stadt ist Hiyama, doch so, wie es aussieht, ist es bis dorthin noch ein ziemliches Stückchen.“
Mit einem Schulterzucken legte sie die Karte beiseite.
„Wenn wir bis zum Abend keine Herberge oder Person gefunden haben, die dazu gewillt wäre, uns Unterschlupf zu gewähren, so werden wir die Nacht wohl oder übel unter freiem Himmel verbringen müssen.“
Yukiko verzog wenig begeistert das Gesicht und auch Katsuya schien diese Aussicht nicht gerade glücklich zu machen; er senkte den Blick und strich sich durchs Haar.
„Ist das wirklich eine sonderlich gute Idee? Dem bin ich mir offen gesagt nicht so sicher...“
Riho legte den Kopf schief, die Miene wurde kühl und abweisend.
„Tatsächlich? Und was denkst du, sollen wir stattdessen tun? Uns rasch ein kleines Häuschen bauen?“
Katsuyas Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Nein, selbstverständlich nicht...“
„Siehst du? Glaub' mir, mir gefällt es auch nicht, aber welche Wahl bleibt uns schon? Wir beiden werden Nachtwache halten müssen – und auf das beste hoffen.“
Dann zuckte Riho erneut mit den Schultern.
„Andererseits sollten wir dies auch aus der anderen Perspektive betrachten: Wenn wir draußen kampieren, schonen wir unseren ohnehin viel zu leichten Geldbeutel und ziehen – wenn wir die nötige Vorsicht walten lassen – weniger Aufmerksamkeit auf uns.“
Yukiko seufzte; ja, wenn man es so sah, dann konnte man darin gewiss nicht nur Nachteile finden, doch diese Aussicht bereitete ihr dennoch Unbehagen. Sie glaubte ohnehin nicht, draußen sonderlich viel Schlaf finden zu können – was in ihrem Falle 'überhaupt keinen' bedeutete.
Allerdings würde weder Jammern noch Schimpfen irgendetwas daran ändern, weswegen Yukiko ihre Meinung für sich behielt. Stattdessen deutete sie auf den Stoffbeutel.
„Riho, wärst du bitte so gut, mir etwas zu essen herauszugeben? Ich habe allmählich wirklichen Hunger.“
Was noch eine recht milde Formulierung war; tatsächlich hatten die drei seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Yukiko wusste zwar nicht, wie es den anderen erging, doch sie fühlte sich inzwischen so, als hätte ihr Magen inzwischen schon begonnen, sich selbst zu verdauen.
„Selbstverständlich, junge Herrin.“
Riho holte ein kleines Holzkästchen hervor, welches sie – zusammen mit einem Paar Stäbchen – dem Mädchen reichte. Dieses öffnete es und fand darin Reis und eingelegtes Gemüse vor. Es war wahrlich kein opulentes Mahl, aber es schmeckte Yukiko recht gut und machte einigermaßen satt. Allerdings sehnte sie sich wirklich danach, mal wieder Geflügel oder Wild essen zu können... Erst jetzt, da sie fernab der Heimat war, in einfachen Verhältnissen lebte, wurde sie sich erst wirklich bewusst, in für einen Luxus sie Zuhause geschwelgt hatte.
„Doch eines muss ich sagen – von allen Provinzen, die ich bisher besucht habe, ist Hisagi eine der desolatesten“, merkte Riho an, die sich ebenfalls etwas zu essen genommen hatte.
Yukiko blickte auf; nun war sie wirklich hellhörig geworden.
„Wirklich? Wo bist du denn sonst noch überall gewesen?“, hakte sie neugierig nach.
Das Kammerfräulein ließ seine Essstäbchen sinken und legte nachdenklich den Kopf in den Nacken.
„Nun, eigentlich haben sich meine Aufenthalte hauptsächlich auf kurze Durchreisen beschränkt, doch wenn man es so sehen möchte, habe ich zumindest jede der neun Hauptprovinzen besucht“, begann sie. „Man merkt wirklich, wo die Interessen des Kaisers und seiner Berater liegen und diese betreffen gewiss nicht die kleineren, vom Kern entfernteren Ländereien. Hisagi allerdings hat ohnehin nicht viel zu bieten, was einer Investition wert wäre – es gibt kaum Rohstoffe, der Boden ist nicht sonderlich fruchtbar und auch die Infrastruktur gibt nicht viel her.“
Es stimmte, Hisagi war tatsächlich eine der ärmeren Provinzen. Die Amemiya-Familie hatte es zwar – auf welche Weise auch immer – geschafft, sich im kaiserlichen Hof einige Freunde zu machen und damit ihren Einfluss bis zu einem gewissen Grade auszubauen, doch am geringen Stellenwert ihres Verwaltungsgebiets vermochte dies nicht sonderlich viel zu ändern. Allerdings hatte Yukiko momentan kein sonderliches Interesse daran, sich über diese Themen großartig Gedanken zu machen.
„Wo hat es dir denn bisher am besten gefallen?“, wollte sie stattdessen wissen.
„In Asami ist es sehr schön – die weiten, blühenden Wiesen und die zerklüfteten Klippen sind wahrlich atemberaubend“, antwortete sie mit einem gedankenverlorenen Lächeln. „Die prächtigste Stadt im Land ist allerdings auf jeden Fall Izanami... Es ist eine wahrliche Schande, dass Ihr sie bisher noch nie gesehen habt. Wusstet Ihr, dass es im kaiserlichen Palast einen künstlichen See mit wunderbaren Seerosen gibt? Man sagt sich, dass Izayoi no Akiko diejenige gewesen sei, die ihn damals angelegt habe...“
Riho schloss die Augen, so, als befände sie sich gerade in ihrer eigenen Welt.
„Ein kleiner Wasserfall speist ihn; angeblich fließt er seit tausend Jahre ununterbrochen, wobei niemand weiß, woher er kommt oder wie er funktioniert – es ist so, als würde der Geist der Kaiserin diesem Ort innewohnen. Andererseits gibt es so viele Erzählungen über Izayoi no Akiko, nicht wahr?“
Yukiko stopfte sich ein Stückchen Rettich in den Mund und kaute nachdenklich. Ja, das klang wahrlich faszinierend. Sie hatte schon immer so gerne einmal nach Izanami gewollt, doch das konnte sie sich vorerst wohl abschminken. Ob die Kaiserstadt wohl bereits im Chaos versunken sein mochte, die ersten blutigen Konflikte ausgebrochen waren?
Ob es nun wirklich bald zu einem Bürgerkrieg kommen würde? Dies war momentan eine ihrer größten Ängste, denn dann würde wahrlich alles vor die Hunde gehen.
Aber daran wollte sie noch nicht einmal denken. Yukiko wandte sich zu Katsuya um, der bisher schweigend sein Mahl genossen hatte.
„Katsuya, ist alles in Ordnung mit dir? Du bist so still...“
Er blickte auf, schien allerdings an ihr vorbeizuschauen; er nickte.
„Ja, selbstverständlich. Ich... bin nur ein wenig müde. Und außerdem wüsste ich nicht, was ich zu diesem Thema sagen sollte...“
Und obwohl er noch ein vages, beschwichtigendes Lächeln nachsetzte, konnte sich Yukiko dem Eindruck nicht erwehren, dass ihn irgendetwas belastete. Doch ehe sie die Gelegenheit hatte, nachzuhaken, stellte er sein Holzkästchen beiseite und erhob sich vom Boden.
„Wenn Ihr gestattet, so würde ich gerne den Wald ein wenig auskundschaften“, begann er zögerlich. „Mir ist vorhin aufgefallen dass wir nicht mehr sonderlich viel Wasser haben und deswegen... nun, wenn wir Glück haben, befindet sich in der Nähe ein Bach oder eine kleine Quelle – zumindest meinte ich, vorhin etwas in die Richtung gerochen zu haben...“
Yukiko runzelte die Stirn; hatte er etwa einen so guten Geruchssinn? Sie jedenfalls hatte nichts wahrgenommen...
„Katsuya, ich weiß nicht, ob ich das sonderlich gut finde – meiner Meinung nach sollten wir besser zusammenbleiben. Außerdem gehen wir doch nachher ohnehin zusammen durch den Wald...“
Sie verstummte, als Riho die Hand hob. Sie schüttelte den Kopf, wobei sie eigenartig zufrieden wirkte.
„Verzeiht, aber ich persönlich halte das für eine gute Idee. Auf diese Weise können wir uns schon einmal einen groben Überblick über die Umgebung verschaffen – so wird die Wahrscheinlichkeit, eine unangenehme Überraschung zu erleben, schon einmal ein klein wenig verringert.“
Yukiko knete unruhig ihre Hände.
„Trotzdem...“
„Und überhaupt, es ist gewiss kein Schaden, wenn Katsuya sich zur Abwechslung einmal nützlich macht.“
So hätte sie es gewiss nicht ausgedrückt. Aber andererseits schien Riho nicht allzu besorgt sein; würde sie eine Gefahr in seinem Vorhaben sehen, dann würde sie ihn gewiss davon abhalten. Auch wenn sie Katsuya nicht sonderlich mochte, so war sich Yukiko dennoch vollkommen sicher, dass Riho ihn nicht einfach ins Verderben rennen ließ – auch wenn sie zuweilen etwas gehässig werden konnte, eine hartherzige oder bösartige Person war sie gewiss nicht.
Das Mädchen gab sich also mit einem Seufzen geschlagen.
„Also gut... Versprich mir aber, dass du in der Nähe bleibst, ja?“
Er verbeugte sich knapp.
„Gewiss, junge Herrin...“
Die gesamte Zeit über hatte er ihren stechenden, durchdringenden Blick auf sich gespürt. Yukiko schien es nicht bemerkt zu haben – bei allem, was Rihos schlechtere Seiten betraf, war sie praktisch blind – doch für ihn war es offensichtlich gewesen. Aber vielleicht wurde Katsuya allmählich paranoid.
Rihos Worte, ihre kaum verhohlene Drohung, hatten ihn stärker beunruhigt, als zuzugeben er bereit wäre. Er konnte sich des unangenehmen Gefühls nicht erwehren, dass sie etwas plante und worum es sich auch handeln mochte – letztendlich würde es nur seinem Nachteil dienen. Wahrscheinlich war sein Entschluss, alleine die nahe Umgebung zu erkunden, als ein Zeichen der Schwäche, des Nachgebens zu werten, doch das war es nicht. Katsuya brauchte lediglich einige Momente für sich, weg von Riho und ihrer unangenehmen Art. Wenn er sich doch nur Yukiko anvertrauen könnte, aber selbst wenn er all seine anderen Bedenken diesbezüglich beiseite schob, so war es zur Zeit schier ein Ding der Unmöglichkeit, sie alleine anzutreffen, wich ihr Kammerfräulein ihr doch praktisch keinen Moment von der Seite.
Und das mit dem Wasser war auch keine Lüge gewesen. Katsuya für seinen Teil hatte inzwischen durchaus ein wenig Durst, zusammen mit dem Bedürfnis, sich nach einem langen Tag des Wanderns zumindest grob zu waschen. Mit trüber Miene folgte er dem schmalen Weg, der ihn direkt in den Wald hineinführte. Mit der Zeit wurde er vager, schlechter sichtbar, bis er schließlich vollkommen verschwunden war. Der Boden war dicht bewachsen, mit trockenem Laub und dornigem Gewächs bedeckt, dicke, alte Wurzeln ragten hinaus, schufen zahlreiche Stolperfallen. Die Laubbäume waren hoch, ihre Kronen so dicht, dass nur sehr wenig Licht hindurchzudringen vermochte. Dieser Wald war alt, sehr alt und war im Laufe seines Lebens gewiss Schauplatz vielerlei Ereignisse gewesen. Katsuya lauschte dem Zirpen der Insekten, dem fernen Singen der Vögel, dem Krächzen einiger Krähen. Einerseits war dieser Wald auf seine Weise äußerst schön, doch auf der anderen Seite...
Nun, er hatte etwas sehr Eigenartiges an sich, das er noch nicht so recht einzuordnen vermochte. Trotzdem, Wälder mochte er sehr gerne, hatte er schon immer getan. Sie lösten ein vertrautes Gefühl in ihm aus, etwas, das einer Nostalgie ähnelte. Ob er damals, in seiner früheren Kindheit, oft in ihnen gespielt hatte? Das war gut möglich.
Katsuya kämpfte sich durch das Dickicht, kletterte auf einen Baumstumpf. Er glaubte in der Tat, ein leises Plätschern zu hören, ein zarter Wasserduft lag in der Luft; das Bächlein schien sich ganz in der Nähe zu befinden. Er wollte gerade von dem maroden Baumstamm hinabsteigen, als er es auf einmal hinter sich Rascheln hörte. Katsuya erstarrte sofort - das klang nicht so, als wäre es vom Wind verursacht worden. Handelte es sich vielleicht um Tier? Wenn ja, dann war es hoffentlich kein Wildschwein, denn denen traute er wahrlich nicht über den Weg...
Er atmete tief durch, nahm seinen Mut zusammen und drehte sich langsam, vorsichtig um. Einige Momente lang glaubte, sein Herz würde aussetzen, doch glücklicherweise gewann er rasch seine Fassung wieder.
Hinter ihm stand tatsächlich etwas – nein, nicht 'etwas', sondern jemand. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht, trug einen einfachen, hellen Yukata. Das lange, schwarze Haar fiel ihr offen über die Schultern, bedeckte ihren Rücken. Allerdings wirkte es, genau wie ihre Kleidung, unordentlich, schmutzig, so, als hätte es sich im dreckigen Unterholz verheddert, als wäre sie vor Kurzem gestürzt. Sie stand vollkommen stumm da, schien in die Ferne zu starren.
Katsuya wusste noch nicht genau, wie er wohl reagieren sollte. Wäre es weise, auf sie zuzugehen, sie anzusprechen? Er kannte diese Person nicht, konnte sich nicht sicher sein, ob sie nicht zum Feind gehörte... Andererseits sah sie, zumindest soweit er es beurteilen konnte, wie ein einfaches Dorfmädchen aus, nicht wie jemand, der eine ernsthafte Bedrohung darstellen könnte.
Doch das Aussehen konnte täuschen.
Letztlich siegte jedoch die Neugier. Und überhaupt, wenn sie tatsächlich von einem der nahegelegenen Höfen stammte, so könnte sie ihm gewiss Auskunft über die Gegend geben. Katsuya räusperte sich und ging auf das Mädchen zu. Wie jedes Mal, wenn er mit einer fremden Person zu sprechen gedachte, legte er sich die Worte in Gedanken zurecht, sagte dann allerdings – und das war auch nicht ungewöhnlich – doch nicht das, was er eigentlich geplant hatte.
„E-Entschuldige bitte die Störung... Wir... Ich sind auf der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit und... ich wollte fragen, ob es hier in der Nähe irgendetwas in der Richtung gibt...“
Katsuya brach ab und seufzte innerlich; wieso nur geriet er andauernd ins Stottern? Dieses Mädchen musste ihn nun wirklich für einen Narren halten.
Allerdings reagierte sie im ersten Moment überhaupt nicht, blieb weiterhin vollkommen still stehen. Katsuya senkte den Kopf und strich sich verlegen durchs Haar. Hatte sie ihn überhaupt wahrgenommen oder ignorierte sie ihn absichtlich? Er öffnete gerade den Mund, um nochmals das Wort zu ergreifen, als sich das Mädchen dann tatsächlich zu rühren schien. Sie hob ihre Arme, umklammerte ihren Körper, so, als würde sie versuchen, sich selbst zu umarmen. Sie legte langsam den Kopf in den Nacken, schaute nach oben, in den vom dichten, grünen Blätterwerk verdeckten Himmel.
„Der Wald... tief unter den Felsen...“, murmelte sie mit dünner, tonloser Stimme.
Katsuya blickte verwirrt auf. Was bedeutete das? Wieso 'Felsen'?
„Wie bitte?“
Das Mädchen reagierte nicht sofort. Katsuya hörte ihren schweren, rasselnden Atem, sah, wie ihr gesamter Körper feingliedrig zitterte.
„In der Tiefe... Weit, weit unten, in Schmutz und Wasser... Vor allem Augen verborgen...“
Allmählich klangen ihre Worte doch ein wenig besorgniserregend – nein, nicht nur das: Es war unheimlich. Was war mit diesem Mädchen denn nur los? Hatte sie sich den Kopf gestoßen oder etwas Schreckliches mitansehen müssen? Worin auch immer die Ursache liegen mochte, Tatsache war, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war und wahrscheinlich – gewiss – Hilfe brauchte. Daher gab er sich einen Ruck und näherte sich ihr noch weiter.
„Geht... es dir gut? Bist du irgendwo verletzt?“
Kaum hatte er dies gesagt, zuckte sie zusammen, so plötzlich, heftig, um Katsuya erschrocken zum Stillstand zu bringen. Mit einer ungelenkten, abgehackten Bewegung ließ sie ihren Kopf sinken, drehte sich dann, so, als hätte sie seine Anwesenheit erst jetzt vollends zur Kenntnis genommen, langsam zu ihm um.
Und dann sah er ihr Gesicht.
Katsuya spürte, wie ihm eiskalt wurde. Reflexartig, ohne auf den Weg zu achten, stolperte er einige Schritte rückwärts, unfähig, den Blick von ihr loszueisen.
Das Mädchen war blutverschmiert. Schmale Rinnsale der roten Flüssigkeit flossen von ihrem Scheitel aus die Stirn und Wangen hinab, verklebten das schwarze Haar, strömten aus den Augen und den Mundwinkeln. Und auch ihr Yukata war blutgetränkt, schmutzig und zerschlissen. Ihr Blick war so leer, seelenlos, als wäre er der eines Toten.
Katsuya, der sie stumm und mit aufgerissenen Augen anstarrte, wie weggetreten war, nahm kaum zur Kenntnis, wie er, mit einen kleinen, erschrockenen Aufschrei, über eine hervorstehenden Wurzeln stolperte. Erst, als er mit dem Waldboden kollidierte und dabei das ungemeine Glück hatte, in den Dornensträuchern zu landen, kehrte er in die Realität zurück. Einige Momente lang hatte er, abgesehen von der Kälte und einem eigenartigen, erstickenden Gefühl, überhaupt nichts gespürt, doch nun kehrten die Empfindungen zurück, allem voran eine geradezu panisch Furcht und – wenn auch mit einer kleinen Verzögerung – den stechenden Schmerz der Dornen, die seine Arme und Beine geschrammt, sich in seine Haut hineingebohrt hatten. Wenigstens war er mit dem Kopf nicht auf einem der Steine oder Holzstücke aufgeprallt.
Mit einem gequälten Stöhnen rappelte er sich wieder auf, rieb sich die Augen; sein Atem war angestrengt, das Herz pochte schnell. Er blinzelte und richtete seinen Blick wieder auf das Mädchen, nur, um festzustellen, dass sie scheinbar spurlos verschwunden war. Er fasste sich an den Kopf, zweifelte einige Momente lang an seinem Verstand.
Es war so, als hätte sich diese Frau in Luft aufgelöst. Er hatte nichts gehört, keine Schritte, kein Rascheln und auch der Boden gab keine Hinweise darauf, dass irgendjemand außer Katsuya selbst hier gewesen war.
Noch nicht einmal ein einziger Tropfen Blut war zu sehen.
Diese junge Frau... war sie überhaupt wirklich da gewesen oder hatte es sich bei ihr um kaum mehr als eine Illusion, eine Vision, gehandelt? War sie möglicherweise gar ein Geist, ein Yuurei? Ja, das war gut möglich...
Ein rasch lauter werdendes Rascheln verriet ihm, dass er nicht mehr alleine war.
„Katsuya, ist alles in Ordnung? Ist etwas passiert? Du bist so lange nicht zurückgekommen und dann haben wir einen Schrei gehört...“
Eine sichtlich besorgte Yukiko eilte auf ihn zu. Der Junge schenkte ihr ein beschwichtigendes Lächeln, während er sich daran machte, den Schmutz von seiner Kleidung zu klopfen.
„Seid unbesorgt, mir geht es gut. Ich bin lediglich gestolpert und habe mich dabei ein wenig erschrocken...“
Riho, die Yukiko dicht folgte, verdrehte die Augen.
„Hatten wir dieses Problem nicht schon des Öfteren? Im Namen der gütigen Himmelsgeister, wieso ist es für dich nur ein solches Ding der Unmöglichkeit, einmal auf den Weg vor dir zu achten?“
Katsuya versuchte, die verächtliche Bemerkung zu ignorieren und schob stattdessen seine Ärmel zurück, um seine Arme zu begutachten. Der Stoff war recht dünn, weswegen es kein Wunder war, dass sich lange, leicht blutende Kratzer über die nackte Haut zogen. Bei seinen Beinen würde es gewiss nicht anders sein. Aber egal, diese nicht gerade lebensbedrohlichen Verletzungen würde früher oder später wieder verheilen – was man von den doch recht tiefen Wunden, die dieses Mädchen scheinbar erlitten hatte, nicht so ohne Weiteres sagen konnte.
Katsuya fröstelte, bemühte sich darum, seinen Atem wieder zu entschleunigen; nun, was auch immer diese Person gewesen sein mochte, nun war sie verschwunden und da er nicht daran glaubte, dass es sich bei ihr um einen gewöhnlichen, lebenden Menschen handelte, wäre es besser, Stillschweigen zu bewahren und sie weder Yukiko noch Riho gegenüber zu erwähnen. Erstere hatte momentan sowieso ganz andere Sorgen, warum also die Pferde scheu machen?
Sie würden ihm in dieser Angelegenheit ohnehin nicht helfen können.
Er setzte ein entschuldigendes Lächeln auf.
„Wasser habe ich leider keines finden können... Ah, aber ich glaube, dass sich ganz in der Nähe etwas befinden muss...“
„Das ist kaum zu übersehen“, entgegnete Riho kühl. „Doch offen gesagt, habe ich mit gar nichts Anderem gerechnet; der Tag, an dem du einmal etwas Sinnvolles zustande bringst, wäre wohl auch jener, an dem die Sonne erlischt.“
Katsuya schwieg, doch zu seiner Überraschung – und Freude – war es Yukiko, die nun missbilligend dreinblickte.
„Riho, findest du nicht, dass du dich Katsuya gegenüber manchmal ein wenig ungerecht verhältst? Genau wie du versucht auch er nur sein Bestes, bemüht sich nach Kräften. Es gefällt mir nicht, dass ihr euch andauernd so angehen müsst...“
Das Kammerfräulein, dessen Miene unbewegt blieb, nahm die Rüge im ersten Moment vollkommen schweigend zur Kenntnis. Dann nickte sie und senkte geradezu schuldbewusst den Kopf.
„Verzeiht, junge Herrin. Selbstverständlich habt Ihr vollkommen Recht – die letzten Tage über habe ich mich wahrlich unprofessionell verhalten. Ich verspreche Euch, dass ich in Zukunft darauf achten werde, meinem Unmut nicht mehr so offen Luft zu machen.“
Nun, die 'letzten Tage' könnten zwar getrost durch 'Jahre' ersetzt werden, zumal sie die Entschuldigung ganz offensichtlich nicht an Katsuya sondern Yukiko gerichtet hatte, aber der Junge wagte vorerst einmal zu hoffen, dass Riho ihre Feindseligkeit in Zukunft wirklich für sich behalten würde.
Freunde würden die beiden zwar gewiss nicht mehr werden, doch das war auch nicht notwendig. Yukiko für ihren Teil akzeptierte das Gelöbnis zufrieden.
„Das ist jedenfalls besser als nichts, schätze ich. Nun denn, sollen wir dann weitergehen? So, wie es aussieht, wird die Dämmerung sehr bald einsetzen und ich hoffe noch immer darauf, irgendwo eine Übernachtungsmöglichkeit finden zu können.“
Riho nickte.
„Ich bin derselben Ansicht – selbstverständlich immer vorausgesetzt, der gute Katsuya hat nichts dagegen einzuwenden.“
Dieser seufzte; ihr Unterton war gehässig wie eh und je.
„Nein, sehen wir zu, dass wir bald aus diesem Wald draußen sind.“
Jegliches positive Gefühl, das er mit diesem Ort assoziiert hatte, war nach der Begegnung mit dem blutüberströmten Mädchen nämlich vollkommen verschwunden, stattdessen einem geradezu greifbaren Unbehagen gewichen. Was auch immer sich hier abgespielt haben mochte: Katsuya wusste, dass er damit nichts zu tun haben wollte. Ein Grund mehr, Yukiko nicht davon zu berichten – er kannte sie inzwischen schon lange genug um zu wissen, wie neugierig sie sein konnte. Ob es lediglich morbides Interesse oder ehrliche Sorge um das vermeintlich verletzte Mädchen war, Yukiko würde der Sache ganz gewiss auf den Grund gehen wollen.
Also nein, dieser kleine Zwischenfall hatte niemals stattgefunden. Dennoch würde er lügen, behauptete er, dass ihm die Worte dieser eigenartigen jungen Frau nicht doch bis zu einem gewissen Grade nachgingen...
In der Tiefe, in Schmutz und Wasser...
Was hatte dieser Hinweis zu bedeuten? Tatsächlich hatte Katsuya den ein oder anderen Einfall, wenn auch weder Lust noch Nerven, diese Gedanken weiter zu verfolgen. Vor allem Dingen hoffte er, dass dieses Mädchen kein Geist war, denn der Kontakt mit diesen Wesen war jedem Akuma ein Grauen. In den letzten Jahren waren ihm nur noch sehr selten welche erschienen, doch in seiner Kindheit hatten sie ihn häufig geplagt. Da die meisten 'normalen' Menschen sie nicht sehen konnten, hatte ihm niemand mit seinen Problemen helfen können, wobei er sich in der Regel ohnehin nur Yukiteru anvertraut hatte. Der Großteil der Geister, denen er begegnet war, war zwar nicht bösartig gewesen, doch zumeist waren sie nicht mehr in der Lage gewesen, sich verständlich auszudrücken, hatten jegliche Vernunft, ihren Verstand, verloren. Das, oder ihnen war nicht bewusst, wie ihnen geschehen war.
Tatsache war jedoch, dass diese Zusammentreffen so gut wie immer sehr strapazierend, wenn nicht gar beängstigend gewesen waren, besonders deswegen, weil die Geister, sobald sie bemerkt hatten, dass er sie wahrnehmen konnte, ihm auf Schritt und Tritt gefolgt waren, sich regelrecht an ihn geklammert hatten – zumindest bis zu jenem Punkt, an dem Katsuya beschlossen hatte, ihnen einfach keine Beachtung mehr zu schenken, so zu tun, als könnte er sie nicht sehen. Es hat zwar nicht immer funktioniert, doch wenigstens immer öfter.
Nein, das einzige, das im Moment wichtig war, war die Suche nach einem sicheren, warmen Schlafplatz, nicht mehr, aber auch nicht weniger.