Als die kleine Gruppe endlich den Waldausgang erreicht hatte, war der Himmel bereits in ein dunkles, abendliches Rot getaucht. Es hatte, im Vergleich zum doch recht warmen Nachmittag, inzwischen beträchtlich abgekühlt, der raue Wind brachte Katsuya zum Schaudern. Er hörte das Zirpen der Zikaden und den Schrei einer Krähe, gefolgt vom hektischen, lauten Schlagen ihrer Flügel. Er atmete tief durch, inhalierte die kühle, reine Luft.
Wann immer er die Abendröte sah, musste er unwillkürlich an die unheimliche Vision denken, die sich ihm einige Tage zuvor offenbart hatte. Diese düsteren, apokalyptischen Bilder, die sich regelrecht in sein Gedächtnis hinein gebrannt hatten, das Gefühl der Resignation und Verzweiflung, welches mit dem Wissen einher kommt, dass dies das Ende sein würde. Allerdings hatte er Yukiko nicht angelogen, als er behauptete, sich nicht mehr an alles erinnern zu können. Er wusste, dass er sie, ihr Gesicht gesehen hatte, doch abgesehen von dem heillosen Entsetzen, welches dieser Anblick in ihm ausgelöst hatte, war ihm auch jetzt noch geradezu greifbar, hatte sie in seinem Hinterkopf festgesetzt.
Ja, Katsuya war sich ziemlich sicher, dass dies das Ende der Welt gewesen sein musste oder zumindest jene kurzen Augenblicke, die ihm vorangehen würden. Wenn dies – was er selbstverständlich absolut nicht hoffte – tatsächlich eine Vision der Zukunft war: Welches Ereignis würde es sein, das eine derartige Katastrophe heraufbeschwören konnte? Was, im Namen der Himmelsgeister, würde machtvoll, schrecklich genug sein? Und, was noch viel wichtiger war, war diese Zukunft in Stein gemeißelt oder ließ sie sich abwenden?
Was sollte er nur tun, besonders jetzt, da er noch nicht einmal abschätzen konnte, was der nächste Tag bringen würde?
„Es sieht so aus, als würden wir heute Nacht draußen kampieren müssen“, merkte Yukiko mit trauriger Stimme an, womit sie Katsuya aus seinen beunruhigenden Überlegungen riss.
Ja, im Wald hatten sie selbstverständlich keine Herberge ausfindig machen können und hier, inmitten der weitläufigen, düsteren Felder sah es ebenfalls schlecht aus.
„Wahrscheinlich“, kam es von Riho. „Das einzige, das wir versuchen können, wäre, bei dem Bauernhaus dort hinten Einlass zu begehren, doch allzu viele Hoffnungen sollten wir uns nicht machen...“
Während sie dies sagte, deutete sie auf ein kleines, einsames Häuschen, welches auf einer sanften Anhöhe errichtet worden war. Yukiko seufzte.
„Nun denn, mehr als uns davonjagen können sie kaum tun, oder? Es ist ja nicht so, als würden wir drei einen sonderlich bedrohlichen Anblick abgeben...“
Ohne eine Antwort abzuwarten verließ sie die staubige Landstraße und begab sich auf einen unbefestigten Trampelpfade, der durch die Felder führte. Riho schüttelte missbilligend den Kopf, zögerte allerdings nicht, sich rasch ihrer jungen Herrin anzuschließen, was Katsuya ihr dann gleichtat.
„Nur, weil wir keine direkte Gefahr für andere darstellen, bedeutete das noch lange nicht, dass wir vollkommen unbedarft auf diese Menschen zugehen sollten!“, rügte sie Yukiko. „Ich werde das Sprechen übernehmen – ihr beide haltet euch ein wenig im Hintergrund, verstanden?“
Also so, wie es so gut wie immer der Fall war.
In der abendlichen Dunkelheit wirkten die stillen, verlassenen Reisfelder geradezu unheimlich, wenn nicht gar bedrohlich. Sie waren weitläufig, gespenstisch, sodass Katsuya damit rechnete, dass in jedem Moment ein Geist oder ein anderes Wesen der Nacht vor ihm erscheinen könnte.
Auch das zweifelsohne verstorbene Mädchen aus dem Wald würde wunderbar in diese Landschaft passen. Ein unheimlicher Gedanke, auch wenn die Gesellschaft der Toten in nicht wenigen Fällen minder gefährlich als die der Lebenden war.
Das eingedrückte Gras raschelte leise bei jedem Schritt, der getan wurde, die grünen Reispflänzchen wogen sachte im Wind. Der Zenit war bereits dunkelblau verfärbt, dicke, schwarze Wolken sammelten sich am Horizont. Das seichte Wasser, welches die Pflanzen unterspülte, kräuselte sich sanft, schlug kleine, kaum sichtbare Wellen. Katsuya beschleunigte unwillkürlich seine Schritte, in der Hoffnung, das Feld rasch verlassen zu können. Wenigstens waren die Pflanzen nicht hoch genug, um möglichen Angreifern eine effektive Deckung bieten zu können...
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, hatten die drei die andere Seite erreicht. Sie näherten sich dem Haus, wobei Riho ihre beiden jüngeren Begleiter mit einer Geste bedeutete, sich im Hintergrund zu halten. Langsam, aber energisch klopfte sie gegen die Tür.
Es dauerte eine Weile, ehe eine Antwort erklang.
„J-Ja bitte? Wer ist da?“
Die Stimme gehörte, ihrem Klang nach zu urteilen, einem Mädchen, wahrscheinlich einer Jugendlichen. Sie schien nervös zu sein, verunsichert, was ihr angesichts der späten Stunde des Besuchs kaum zu verdenken war.
„Verzeih' bitte die Störung! Meine Geschwister und ich befinden uns auf der Durchreise und suchen nach einer Unterkunft für die Nacht. Bedauerlicherweise ist es uns nicht gelungen, eine Herberge ausfindig zu machen und wie du gewiss weißt ist es nach Einbruch der Dunkelheit äußerst gefährlich, draußen zu verweilen...“
Riho verstummte. Die Bewohnerin des Hauses ließ sich Zeit, ehe sie reagierte Katsuya für seinen Teil hatte die düstere Vorahnung, dass dieses Mädchen ihnen die Bitte gewiss nicht gewähren würde.
Dann, allerdings, wurde zögerlich die Tür aufgeschoben. Das Mädchen lugte schüchtern nach draußen, gewiss in der Absicht, einen Blick auf den späten Besuch zu erhaschen.
Als Katsuya dann allerdings ihr Gesicht sah, erstarrte er.
„Wir... kennen uns doch...“, murmelte er, ohne sich darüber bewusst zu sein, dass er diese Worte gerade laut ausgesprochen hatte. „Vorhin, im Wald...“
Das Mädchen zuckte zusammen, ihre Aufmerksamkeit schnellte auf ihn. Ja, er hatte sich nicht geirrt – diese Person glich dem vermeintlichen Geist aus dem Wald bis aufs Haar! Dieselben Gesichtszüge, dieselben Augen, das gleiche, etwas kantig anmutende Kinn... Die einzigen Details, die die beiden voneinander abhoben, war der Umstand, dass die Hausbewohnerin kürzere Haare hatte, andere Kleidung trug und nicht blutverschmiert war, aber davon abgesehen... Darauf konnte er sich nun wahrlich keinen Reim machen! Wenn das Mädchen Zuhause und offenkundig wohlauf war, worum hatte es sich dann bei dieser Erscheinung im Wald gehandelt? Eine weitere Vision der Zukunft? Nein, eigentlich war er sich ziemlich sicher, einen Geist gesehen zu haben... Ein eigenartiger Zufall? An so etwas glaubte er nun wahrlich nicht!
Allerdings bemerkte er rasch, dass er dies besser nicht laut ausgesprochen hätte. Er senkte den Kopf und trat einige Schritte zurück.
„E-Entschuldigung, ich habe nicht nachgedacht...“, nuschelte er verunsichert.
Riho strafte ihn eines missbilligenden Blickes, ehe sie sich erneut dem Mädchen zuwandte.
„Verzeihung, schenke unserem Bruder bitte keine Beachtung. Er ist manchmal etwa... Geht... es dir gut?“
Der heillos entsetzte Ausdruck, der das Gesicht der Fremden nun vollkommen eingenommen hatte, ließ sogar das Kammerfräulein stutzen. Sie starrte Katsuya an, so, als stünde nicht er sondern ein Dämon vor ihr. Ein leichtes Zittern hatte ihren Körper ergriffen, sie klammerte sich am Türrahmen fest.
„I-Ich bin nicht im Wald gewesen“, stammelte sie. „Schon seit Tagen nicht mehr! Warum sagst du so etwas? W-Warum tust du mir das an?“
Katsuya schüttelte energisch seinen Kopf.
„Es tut mir Leid! Ich wollte dir nicht zu nahe treten – vergiss' bitte, dass ich etwas gesagt habe!“
Der Atem des Mädchens beschleunigte sich, sie kniff ihre Augen zusammen.
„Nein, du kannst niemanden gesehen haben! Sie ist tot, sie muss tot sein! Wenn nicht, dann wäre sie doch inzwischen wieder nach Hause zurückgekehrt!“
Aus dem Augenwinkel sah Katsuya, wie Yukiko, die mit der Situation offenkundig vollkommen überfordert war, einige Schritte zurücktrat. Unruhig ließ sie ihren Blick zwischen dem Mädchen, Riho und Katsuya hin und her schweifen, in der Hoffnung, dass irgendjemand eine Antwort für sie hatte.
„Was ist hier los?“, verlangte sie mit dünner Stimme zu wissen.
Riho sog scharf Luft ein und wandte der Fremden den Rücken zu.
„Kommt, gehen wir lieber, bevor die Lage noch eskaliert“, raunte sie Yukiko zu.
Diese schien über den Vorschlag nicht sonderlich erfreut zu sein.
„Was? Wir können sie doch nicht einfach so zurücklassen!“
„Doch, können wir. Also los, verschwinden wir.“
Da trat also mal wieder Rihos kaltschnäuzige Seite ans Licht. Ohne eine Antwort abzuwarten – oder gar Protest zu akzeptieren – ergriff sie Yukikos Arm und setzte sich ruckartig in Bewegung. Katsuya, der dieses Malheur immerhin zu verantworten hatte, hatte zwar durchaus ein schlechtes Gewissen, entschloss sich jedoch dazu, sich seinen beiden Begleiterinnen lieber rasch anzuschließen. Ehe er dieses Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, spürte er allerdings eine feste Berührung auf seiner Schulter; er zuckte zusammen und erstarrte beinahe sofort.
„Du hast sie wirklich gesehen, oder? Du... lügst mich doch nicht an?“
Zögerlich wandte er sich um, richtete seinen Blick auf das Mädchen.
Es war offensichtlich, dass sie verzweifelt war. In ihren Augen lag ein tiefgreifender, flehentlicher Ausdruck, ihre Unterlippe bebte.
„Bitte, sei ehrlich zu mir! I-Ist wirklich sie dir erschienen? Wie sah sie aus?“
Sollte er ihr darauf wirklich eine Antwort geben? Das arme Mädchen schien immerhin schon verstört genug zu sein... Andererseits hatte er das düstere Gefühl, dass er die Situation so, wie sie nun gerade war, kaum noch schlimmer machen könnte.
„Sie trug recht helle Kleidung – ich glaube, dass sie gelb war“, begann er schließlich mit tonloser Stimme. „Ihr Haar war lang, sie schien etwa in deiner Größe zu sein. Aber ihr Gesicht, es war... alles war voller Blut. S-Sie schien verletzt zu sein, am Kopf.“
Der Griff des Mädchens wurde schwächer, ehe sie dann ihren Arm schwach sinken ließ.
„...Ja, sie trug einen gelben Yukata“, murmelte sie leise. „Und wenn sie wahrlich so aussah wie ich...“
Sie blickte auf, ihr trüber, verzweifelter Blick trafen Katsuyas. Zum ersten Mal schien sie ihn bewusst wahrzunehmen, musterte ihn geradezu durchdringend. Als sie ihm direkt in die Augen sah, bemerkte Katsuya, wie sein eigenes Sichtfeld einige Sekunden lang verschwommen, grisselig wurde, sich ein dumpfer, pochender Schmerz in seinem Hinterkopf anbahnte, der von einem fernen, ihm unverständlichen Flüstern mehrerer Stimmen begleitet wurde. Das Bild einer lächelnden Jugendlichen blitzte für den Bruchteil eines Moments vor seinem inneren Auge auf, eine kaum greifbare Furcht und geradezu verzweifelte Schuldgefühle gingen mit ihm einher.
Katsuya blickte zu Boden, in der Hoffnung, diese Gedanken und Gefühle, die nicht die seinen waren, auf diese Weise möglichst rasch abzuschütteln.
„Du bist ein Akuma, nicht wahr?“
Auch wenn sie ihre Worte als Frage formuliert hatte, so waren sie mehr eine Feststellung. Zu seiner Verwunderung schwang allerdings kein bisschen Argwohn oder Ablehnung in ihnen mit, ganz im Gegenteil – wenn überhaupt, dann klang die Stimme des Mädchen geradezu hoffnungsvoll.
„Katsuya, wo bleibst du denn?“
Riho, die zusammen mit Yukiko am Fuße der kleinen Anhöhe stand, beäugte den Jungen gereizt. Dieser war zwar noch immer unsicher, wie er diese Situation zu deuten hatte, entschied sich dann aber rasch dazu, sich den beiden anderen wieder anzuschließen. Er verbeugte sich also zum Abschied rasch und wandte sich von der Bewohnerin des Hauses ab – wobei diese allerdings nicht gewillt war, ihn einfach so gehen zu lassen.
„Nein, bitte! Wenn du sie wirklich sehen kannst, dann bitte – ich brauche deine Hilfe!“
Zum ersten Mal verließ sie die Sicherheit ihres Hauses, wollte Katsuya folgen.
„I-Ihr könnt so lange bleiben, wie ihr wollt, doch ich flehe dich an, lass' mich damit nicht allein...“
Was auch immer vorgefallen sein mochte, sie mit ihren Worten meinte, es war unverkennbar, dass die Angelegenheit ihr ungemein wichtig war. Ihre Augen waren feucht und gerötet, das Zittern hatte sich noch weiter verstärkt. Der Anblick, der sich ihm darbot, war mitleiderregend genug, um Katsuyas schlechtes Gewissen aufkeimen zu lassen. Er hielt inne, ehe er seinen Blick wieder zu Yukiko und Riho schweifen ließ.
„Wenn es so ist, dann sollten wir ihr Angebot doch annehmen, oder? Besser, als draußen zu übernachten...“, begann er mit sanfter Stimme.
Riho wirkte alles andere als begeistert.
„Ist es das wirklich wert? Ich weiß ja nicht, was genau hier eigentlich gespielt wird, aber meiner Meinung nach wäre es besser, sich herauszuhalten. Eine Nacht im Freien wird uns gewiss kaum umbringen!“
Also war sie noch immer dagegen – selbstverständlich. Katsuya öffnete gerade seinen Mund, mit der Absicht, ihr zu widersprechen, als sich nun endlich auch Yukiko einschaltete.
„Denkst du das wirklich, Riho?“, hörte er sie leise flüstern. „Dieses Mädchen braucht Hilfe, nicht wahr? Ich selbst weiß genauso wenig wie du, was sie wohl für ein Problem haben mag, doch meiner Meinung nach wäre es nicht richtig, sie einfach so abzuweisen. Hätte Sayu so gedacht, dann wäre es uns gewiss nicht so gut ergangen, wie es letztendlich der Fall war...“
Rihos Protest ignorierend setzte sie sich in Bewegung, näherte sie vorsichtig dem verzweifelten Mädchen. Yukiko machte ein freundliches, mitfühlendes Gesicht, war darauf bedacht, die andere zu beruhigen.
Doch sie hatte Recht – würde jeder nur an sich denken, so wäre die Welt ein gutes Stückchen dunkler, als sie es ohnehin schon war und Katsuya selbst entweder nicht mehr am Leben oder dazu verdammt, ein furchtbares Leben zu führen. Seitdem er sie kannte hatte Yukiko ihm immer beigestanden, alles in ihrer Macht stehende getan, um anderen das Leben auch nur ein klein wenig zu erleichtern. In dieser Hinsicht war sie genau wie ihr Vater, der sich ebenfalls nicht davor scheute, anderen in der Not zur Seite zu stehen.
Genau diese Güte war es, die Katsuya an Yukiko so sehr liebte.
„Lebst du alleine hier?“
Katsuya sah, wie Yukiko ihren Blick interessiert durch das kleine Bauernhäuschen schweifen ließ, die spärliche Einrichtung begutachtete. Es war wahrlich lediglich mit dem Nötigsten ausgestattet – eine offene Feuerstelle, über der ein Kochtopf hing, eine Vorratsnische, einen Bereich, in dem Speisen zubereitet werden konnten, sowie ein recht leer aussehendes Regal, zwei Wandschränke und einige andere Alltagsgegenstände. Es gab keinerlei Dekoration, nichts, das irgendwie wertvoll oder außergewöhnlich erschien.
Die Gastgeberin, die sich unter dem Namen Shinohara Mitsuru vorgestellt hatte und gerade damit beschäftigt war, eine Kanne Tee aufzubrühen, schüttelte den Kopf.
„Nein, ich wohne mit meinen Eltern zusammen. Allerdings sind sie heute in die Stadt gefahren und wollten erst morgen wiederkommen. Ich bin hiergeblieben, um das Haus und unsere Tiere zu hüten.“
„Verstehe. Ich kann mir vorstellen, dass es hier draußen alleine recht einsam werden kann...“
Mitsuru neigte den Kopf.
„Wir haben schon immer hier gelebt, also kann man sagen, dass wir es gewohnt sind. Das einzige, das es hier in der Nähe gibt, ist ein kleines Dorf, die Stadt liegt da schon in weiterer Entfernung...“
Sie verstummte und wandte sich schweigend ihrer Arbeit zu. Es war offensichtlich, dass sie noch immer äußerst nervös, durch den Wind war. Doch auch wenn es ihr regelrecht auf der Seele brannte, so hatte sie bisher noch mit keinem Ton durchscheinen lassen, was für eine Art Problem sie denn nun eigentlich plagte.
Auch wenn Katsuya durchaus bereits eine vage Ahnung hatte.
Mitsuru schluckte, schüttete dann etwas heißes Wasser in eine Teekanne und trug diese dann, mit den dazugehörigen Tassen, zu ihren Gästen, die es sich bei der Feuerstelle weitestgehend bequem gemacht hatten.
„Wir haben leider nicht viel, das ich euch anbieten könnte – ich hoffe, dass ihr es mir nachseht...“
„Nein, nein, schon gut! Tatsächlich sind wir froh, dass du uns eine Bleibe anbietest“, antwortete Katsuya sofort beschwichtigend.
Mit einem dankenden Nicken nahm er die mit dem heißen, dampfenden Tee befüllte Tasse entgegen, die Mitsuru ihm reichte.
„In der Tat, du ersparst uns damit eine äußerst ungemütliche Nacht!“, pflichtete ihm Yukiko bei.
Mit einem eigenartig zufriedenen Gesichtsausdruck pustete sie den aus ihrer Tasse aufsteigenden Dampf weg, ehe sie dann vorsichtig daran nippte.
Mitsuru lächelte abwesend.
„Wenn ihr wirklich bereit seid, mir zu helfen, dann ist dies das Mindeste, das ich für euch tun kann...“
„Worum geht es denn nun eigentlich, wenn ich fragen darf?“, schaltete sich Riho ein.
Schon seitdem die drei Mitsurus Haus betreten hatten, machte sie einen ungemein ungeduldigen und fahrigen Eindruck. Yukikos Entscheidung passte ihr ganz und gar nicht, woraus sie auch keinen Hehl machte.
Mitsuru, die offenbar froh darüber war, zum eigentlichen Kern der Sache zu kommen, nickte und ließ sich auf einem der alten, zerschlissenen Sitzkissen nieder, die sie um die Kochstelle platziert hatte. Sie knetete nervös ihre Hände, dachte darüber nach, wie sie wohl am besten beginnen sollen.
Dann, nach einigen Momenten des Schweigens, ließ sie ihren Blick zu Katsuya schweifen.
„Dieses Mädchen, welches du im Wald gesehen haben möchtest... E-Es geht um sie...“
Selbstverständlich tat es das. Katsuya schwieg, forderte sie auf diese Weise stumm zum Weitersprechen auf.
„Von was für einem Mädchen habt ihr es eigentlich andauernd?“, warf Yukiko verwirrt ein. „Ich jedenfalls habe niemand anderen bemerkt.“
„Stimmt, das würde mich in der Tat ebenfalls interessieren.“
Riho, die süßlich lächelte, legte den Kopf schief.
„Uns gegenüber hast du so etwas – zumindest sofern ich mich richtig erinnere erinnere – mit keiner Silbe erwähnt.“
Nein, hatte er auch nicht und das aus gutem Grund. Und hätte er bei seiner ersten Begegnung mit Mitsuru seinen Kopf eingeschaltet und nicht einfach darauf los geredet, dann hätte es auch niemand herausgefunden. Nun war es allerdings zu spät, wobei Katsuya ohnehin ein äußerst schlechter Lügner war.
Er seufzte und schwenkte mit einem trüben Ausdruck seine Teetasse hin und her.
„Zuerst dachte ich auch, dass es lediglich Einbildung gewesen wäre – ich wollte euch nicht beunruhigen“, setzte er entschuldigend an. „Aber ja, im Wald bin ich einer Person begegnet, die Fräulein Mitsuru zum Verwechseln ähnlich sah... Bevor ich in irgendeiner Weise reagieren konnte, war sie allerdings auch schon wieder verschwunden...“
Riho hob die Augenbrauen an.
„Hm, verstehe...“
Dies war zwar alles, was sie sagte, doch auch dies sagte schon mehr als tausend Worte. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Mitsuru nervös ihr Gewicht verlagerte.
„Ich... Ich denke, dass du Touko gesehen hast...“
Sofort schnellten die Blicke aller anderen Anwesenden wieder auf sie.
„Wer ist Touko?“, hakte Yukiko neugierig nach.
Mitsuru atmete tief durch, so, als würde sie sich auf diese Weise Mut aneignen. Dann, wenn auch nur unter Mühen, sah sie auf.
„Sie ist... war meine Zwillingsschwester.“
Na das erklärte natürlich so einiges! Warum war Katsuya nicht von selbst auf diese doch recht naheliegende Erklärung gekommen? Es war ja nicht so, als wären Zwillinge eine außergewöhnliche Rarität... Damit wusste er nun jedenfalls, dass diese Person, der er begegnet war, tatsächlich ein Geist gewesen sein könnte.
„Sie ist tot, nicht wahr?“, fragte er dennoch.
„Wir haben ihren Körper niemals gefunden, weswegen wir es eigentlich nicht mit Sicherheit wissen können, aber sie muss es sein – w-wenn Touko noch am Leben wäre, dann...“
Von all ihrem Mut und ihrer Energie verlassen, sank Mitsuru erneut in sich zusammen, ließ den Kopf hängen. In ihrem Gesicht spiegelte sich ein schmerzerfüllte Ausdruck wider, ihre Lippe begann wieder unkontrolliert zu beben.
„Sie wird seit etwa einer Woche vermisst“, sprach sie schließlich mit erstickender Stimme weiter. „Wir haben alles abgesucht und auch die Leute aus dem Dorf haben uns geholfen! W-Wenn sie noch am Leben wäre, dann wäre sie doch inzwischen wieder nach Hause zurückgekehrt, oder? S-Sie hätte mich nicht allein zurückgelassen! Und außerdem...“
Sie verstummte und fuhr sich unruhig durchs Haar.
Und trotzdem war es diesen Leuten nicht gelungen, den Körper ausfindig zu machen.
„Könnte es in dem Fall dennoch nicht möglich sein, dass sie weggelaufen ist?“, sprach Riho jene Frage aus, die Katsuya an ihrer Statt gewiss ebenfalls gestellt hätte.
„Das denken alle anderen auch, aber ich weiß, dass sie tot ist! I-Ich bin kein Akuma, wirklich nicht, doch seitdem sie nicht mehr hier ist, habe ich immer mal wieder eigenartige Dinge bemerkt... Z-Zwar habe ich Touko nie gesehen, dennoch bin ich mir vollkommen sicher, dass sie hier gewesen sein muss! Ich... fühle es...“
War es ihr zuvor noch gelungen, eine gewisse Fassung zu bewahren, so war diese Fassade nun endgültig zusammengebrochen. Mitsurus Stimme klang schrill, geradezu hysterisch, ihre geröteten Augen waren weit aufgerissen. Verzweifelt, flehentlich, wandte sie sich erneut an Katsuya.
„D-Du hast sie doch gesehen! Also weißt du, dass ich Recht habe, denn wäre anders, wäre sie dir nicht erschienen! Sie ist tot, ihr Körper irgendwo dort draußen...“
Man musste kein Akuma sein, um das Wirken einer ruhelosen Seele spüren zu können. Besonders jene, die dem Verstorbenen zu Lebzeiten nahegestanden waren, waren äußerst sensibel für derartige Begebenheiten. Nur äußerst mächtige Geister konnten von 'normalen' Menschen gesehen werden, doch in diese Kategorie fiel die verstorbene Touko gewiss nicht. Daher war er geneigt, ihr Glauben zu schenken.
Anders als Yukiko.
„Nein, du musst dich irren – Katsuya ist doch nicht dazu in der Lage, Geister zu sehen! Gut, er ist vielleicht in mancherlei Belangen ein wenig sonderbar, aber wenn er zu so etwas fähig wäre, wüsste ich es doch schon längst!“
Während sie dies sagte warf sie ihm einen raschen, auffordernden Blick zu. Der Junge hingegen spürte sofort, wie ihm das Herz sank.
„N-Nein, normalerweise kann ich das nicht...“, nuschelte er geschlagen. „Allerdings kann ich mir vorstellen, dass es an diesem Wald liegt, dass er irgendetwas an sich hat, das... das es Menschen ermöglicht, derartige Dinge wahrzunehmen...“
Wahrscheinlich sollte er Yukiko doch irgendwann einmal an sein an für sich nicht sonderlich schwer zu erratendem Geheimnis teilhaben lassen. Seine junge Herrin vertraute ihm und es bereitete ihm ziemliche Magenschmerzen, dieses Vertrauen auf gewisse Weise auszunutzen, ihr nicht zurückzugeben.
Wobei es ihm allerdings ein ziemliches Rätsel war, warum Yukiko nicht dazu fähig war, das Offensichtliche zu bemerken. Manchmal erschien es ihm so, als wollte sie es nicht, als würde sie willentlich ihre Augen davor verschließen.
Leider trugen weder Mitsuru noch Riho zur Entschärfung dieser recht unangenehmen Situation bei.
Erstere machte ein verwundertes Gesicht.
„Was? Nein, ich wüsste nicht, dass an diesem Wald irgendetwas Besonderes wäre! Du... hast sie doch gesehen, oder etwa nicht?“
Riho lächelte süffisant.
„Du meine Güte, Katsuya! Hältst du es denn tatsächlich für notwendig, deine eigene Familie anzulügen? Ich bin wahrlich enttäuscht von dir! Obwohl – dass mit dir etwas nicht stimmt, sollte eigentlich jedem, der nicht vollkommen weltfremd ist, klar sein...“
„I-Ich habe niemanden angelogen!“, wehrte er rasch ab, wobei seine Stimme nicht so bestimmend klang, wie er es eigentlich gerne gehabt hätte. „Und ein Akuma bin ich gewiss auch nicht! E-Es mag sein, dass ich manchmal bestimmte... 'Dinge' wahrnehme, aber das macht mich doch noch lange nicht zu solch einem Ding, oder?“
Riho seufzte und bedachte ihn mit einem gekünstelt mitleidigen Blick.
„Mein lieber 'Bruder', genau dies ist es, was einen Akuma ausmacht...“
„Ist das momentan denn wirklich so wichtig?“, fiel ihr Yukiko mit uncharakteristisch kühler Stimme ins Wort, wobei sie Katsuya keines Blickes mehr würdigte. Sie war also wütend...
Sie schaute zu Mitsuru.
„Mitsuru, du denkst also, dass deine Schwester nicht mehr am Leben ist. Das tut mir wirklich Leid, doch was ist es, wobei du unsere Hilfe benötigst? Geht es darum, ihren Körper zu finden?“
Diese schloss ihre Augen. In diesem Moment wirkte sie müde, um Jahre gealtert.
„Das auch, wobei ich nicht weiß, ob es genügen würde... Ich... Ich glaube, dass Touko mir nach dem Leben trachtet.“