Yukiko ertappte sich dabei, wie sie Mitsuru mit großen Augen anstarrte. Hatte sie gerade richtig gehört? War dieses Mädchen wahrlich im Glauben, von ihrer toten Schwester bedroht zu werden? Es war nicht so, als wäre Yukiko mit all den alten Schauergeschichten, die um wütende, rachsüchtige Geister handelten, nicht vertraut, doch dies war das erste Mal, dass sie jemanden traf, der auch tatsächlich daran glaubte...
Riho wirkte nicht minder überrascht, wenn nicht gar verständnislos. Mit gerunzelter Stirn legte sie ihren Kopf schief, spießte Mitsuru mit ihrem Blick regelrecht auf.
„...Warum denkst du das?“
Das Bauernmädchen senkte ihren Kopf, wirkte allerdings nicht im Geringsten verunsichert.
„Ich spüre es“, antwortete sie mit mühsam beherrschter Stimme. „Ich weiß, dass es ziemlich absurd klingen mag, aber ich weiß es einfach. Die letzten paar Nächte... Es war so, als würde mich jemand beobachten. In diesen Momenten ist mir stets kalt geworden, so, als würde man mir mit eisigen Händen an den Rücken fassen. Manchmal habe ich auch ein vages, fernes Flüstern gehört oder eine dunkle, verschwommene Reflexion. Ein, zweimal habe ich meine Eltern darauf angesprochen, doch sie wollen nichts mitbekommen haben...“
Mitsuru verstummte und warf nun Katsuya einen raschen, um Bestätigung bittenden Blick zu. Dieser umklammerte eine Weile lang abwesend seinen noch dampfenden Teebecher, ehe er schließlich zögerlich zu einer Antwort ansetzt.
„Ich... bin kein Experte, absolut nicht, aber ich... ich denke, dass ich dir glaube. Weißt du, normale Menschen sind nicht dazu in der Lage, Geister wahrzunehmen, es sei denn, der Verstorbene ist ihnen sehr nahe gestanden. Das wird bei deiner Schwester doch bestimmt der Fall gewesen sein, oder?“
Mitsuru nickte sofort.
„Touko und ich sind unser Leben lang zusammen gewesen. Selbstverständlich haben wir uns des Öfteren gestritten, aber ich habe sie über alles geliebt! D-Deswegen...“
Sie biss sich auf die Unterlippe und verbarg rasch ihr Gesicht hinter ihren Händen. Ihre Schultern bebten leicht, sie strengte sich sichtlich an, ihre Gefühle einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Yukiko, die sie stumm beobachtete, fühlte sich an ihre eigene Situation erinnert; so gesehen erging es Mitsuru genauso wie ihr selbst, sowohl in Hinsicht auf das grausame Schicksal ihrer Mutter, als auch in Bezug auf ihren spurlos verschwundenen Bruder. Sie war gefangen in ihrer Trauer und ihrem Schmerz, unfähig, Abschied zu nehmen, um das Grab betrogen...
Wie lange würde Mitsuru wohl brauchen, um sich mit diesem Verlust arrangieren zu können? Wann würden ihre Wunden zu heilen beginnen? Sicher war, dass Yukiko ziemliches Mitleid mit dem Mädchen hatte, ihr gerne helfen würde – nicht zuletzt auch um ihrer selbst Willen.
Sie sah zu Riho und Katsuya hinüber, fragte sich, was die beiden wohl davon halten, darüber denken mochten. Erstere wirkte noch immer äußerst skeptisch, wenn nicht regelrecht ablehnend, Katsuya hingegen...
Sein Ausdruck war unleserlich, was für ihn, dem man seine Gefühle normalerweise mühelos ansehen konnte, doch recht ungewöhnlich war. Yukiko selbst spürte einen kleinen, aber scharfen Stich in ihren Eingeweiden. Es war nicht so, als wäre sie eine vollkommen verblendete und naive Person – selbstverständlich hatte sie gewusst, dass er, von den reinen Äußerlichkeiten einmal abgesehen, anders als die meisten Menschen war. Dies war ja auch gar nicht das Problem, nein: Es lag viel mehr in der Tatsache, dass er ihr offenbar nicht genug vertraute, um sie in seine Sorgen und Probleme einzuweihen. Warum hatte er ihr von all diesen Dingen, die ihn zweifelsohne ziemlich quälen mussten, niemals erzählt? Wollte er sie nicht damit belasten? Oder hielt er sie für so oberflächlich, dass er fürchtete, sie würde ihn deswegen von sich stoßen, ihn weniger schätzen?
Dieser Gedanke verletzte Yukiko um einiges mehr, als sie gedacht hätte. Wahrscheinlich würde sie ihn bei Gelegenheit darauf ansprechen müssen, auch wenn ihr dies momentan noch äußerst widerstrebte.
„Fräulein Mitsuru, warum denkst du, dass deine Schwester dir etwas antun möchte?“, erkundigte sich Katsuya schließlich. „Es gibt viele Gründe, die einen Geist korrumpieren können, aber normalerweise streben ruhelose Seelen hauptsächlich danach, ihren Tod zu rächen...“
„Hast du denn eine Idee, wie Touko gestorben sein könnte?“, erkundigte sich nun auch Yukiko.
Mitsuru ließ ihre Hände sinken, wagte es allerdings noch immer nicht, ihren Gästen in die Augen zu blicken.
„Ich bin mir sicher, dass sie ermordet wurde...“, wisperte sie. „Und deswegen möchte sie mich mitnehmen... Versteht ihr das? Es ist meine Schuld, dass es soweit gekommen ist! Ich habe meine eigene Schwester sterben lassen!“
Gegen Ende wurde ihre Stimme schriller, ihre ohnehin geröteten Augen feuchter. Yukiko ertappte sich dabei, wie sie reflexartig zurückwich, doch Katsuya zeigte keinerlei Regung.
„Du sagtest, du seist dir sicher, dass sie ermordet wurde... Doch dabei gewesen bist du nicht, oder sehe ich das falsch? Warum also denkst du, dass der Tod deiner Schwester deine Schuld sei?“
„Weil...“
Sie stockte, musste sich regelrecht zum Weitersprechen zwingen.
„...Ich hätte es verhindern können, wisst ihr? E-Es wäre in meiner Macht gestanden, es zu verhindern, doch was habe ich getan? Ich habe Touko alleine gelassen, sie in den Tod geschickt!“
Mitsuru atmete scharf ein, ihre Hände ballten sich zu Fäusten.
„Da... Da war dieser Junge... Oder junger Mann, ich bin mir nicht vollkommen sicher. Touko hat ihn bei unserer letzten Fahrt nach Hiyama kennengelernt. Ich... habe ihn nie gesehen, doch sie hat oft über ihn gesprochen. Letzt Woche, also an dem Tag, an dem ich sie zum letzten Mal gesehen habe, wollte sie sich mit ihm treffen. Sie... Sie hat mich darum gebeten, sie zu begleiten, aber was habe ich getan? Ich habe sie alleine gehen lassen, weil ich schon eine Verabredung mit jemandem aus dem Dorf hatte...“
Mitsuru schnaubte, in ihrer Miene lagen sowohl Ekel über ihr eigenes Verhalten, als auch ein tiefschürfender, kaum zu ertragender Schmerz, Schuldgefühle.
„Hätte ich sie nicht alleine gehen lassen, dann wäre vielleicht alles ganz anders gekommen! Bei den Geistern, ich hätte sie davon abhalten, ihr sagen müssen, dass ich nichts von dieser Idee halte!“
„Geschehen ist geschehen – es bringt nichts, sich wegen verlorener Perlen zu grämen“, merkte Riho, die sich bisher eher auf die Rolle des stillen Zuhörers festgelegt hatte, kühl an. „Wenn es sich bei dieser Person wirklich um den Mörder handelt, so hätte sie deine Schwester so oder so umgebracht. Deine Anwesenheit am Tatort hätte wahrscheinlich nicht viel geändert, sondern letztendlich lediglich dazu geführt, dass auch du dein Leben verloren hättest.“
„Das kannst du nicht wissen“, widersprach Mitsuru hysterisch. „Wäre ich dort gewesen, dann hätte ich vielleicht früh genug bemerkt, dass etwas nicht stimmt... Ich hätte Touko warnen oder d-dieses Monster ablenken können; irgendetwas wäre anders verlaufen, das weiß ich ganz genau!“
Ob es sich dabei um die Realität oder bloßes Wunschdenken handelte, sei einmal dahingestellt – Yukiko für ihren Teil konnte sich nur zu gut vorstellen, was gerade in Mitsuru vor sich gehen mochte. Zugeben, der Tod ihrer Mutter war gewiss nicht Yukikos Schuld gewesen, doch auch sie hatte mehr als einmal darüber nachgedacht, phantasiert, was alles hätte anders laufen können. Mitsuru hingegen befand sich in der Situation, dass sie zumindest die Möglichkeit gehabt hätte, ihre Schwester zu begleiten oder von diesem Treffen abzubringen. Ihre Untätigkeit war es, die sie verdammte und ihr Gewissen belastete, der Gedanke, dass sie möglicherweise die Mittel und Gelegenheit gehabt hätte, Toukos Leben zu retten. Diese Möglichkeit war ungenutzt verstrichen und es gab nichts, was Mitsuru jetzt noch dagegen tun könnte...
Ja, dieses Wissen würde sie wahrscheinlich – gewiss – bis an ihr Lebensende verfolgen.
„Du denkst also, dass dieser Junge sie umgebracht haben könnte? Wo ist er nun?“, fragte Katsuya, der auf das andere Problem offenbar nicht weiter eingehen wollte.
Mitsuru zuckte mit den Schultern.
„Nach dem, was Touko erzählt hat, war er nicht von hier, sondern lediglich ein Fremder auf der Durchreise. Angeblich soll er bei Verwandten in Hiyama logiert haben, doch um wen genau es sich dabei handeln soll, weiß niemand so genau. Inzwischen wird er ohnehin gewiss über alle Berge sein...“
Ihre Miene verdüsterte sich,ihre von der Feldarbeit schmutzigen Fingernägel bohrten sich tiefer in das weiche Fleisch ihrer Handinnenflächen.
„Er muss es gewesen sein, dem bin ich mir hundertprozentig sicher. Gut, ich habe keine Beweise, aber wer sollte es sonst sein? Jeder im Umkreis weiß inzwischen, was geschehen ist, doch er hat sich niemals bei uns gemeldet! I-Ich meine, wäre es ein Unfall gewesen, so wäre ihr Geist doch nicht mehr hier, oder?“
Katsuya schüttelte seinen Kopf.
„Kommt drauf an – es gibt vieles, das eine Seele an diese Welt binden kann. Aber wenn dieser Kerl derjenige ist, der ihren Tod zu verantworten hat, dann sollte er derjenige sein, dem sie das Leben nehmen möchte, nicht du...“
Mitsuru wollte davon nichts hören, schenkte seinen Worten noch nicht einmal Beachtung. Sie biss sich wieder auf die Lippe, fest genug, um die trockene Haut aufzureißen, sie leicht zum Bluten zu bringen.
„Sie weiß es ebenfalls, ja, sie weiß, dass ich sie hätte retten können... Mein Egoismus war es, der sie ins Grab gebracht hat, i-ich habe sie im Stich gelassen...“
Es war eindeutig, dass es nichts gab, das sie von dieser Überzeugung hätte abbringen können – zumindest im Moment nicht. Sie war vollkommen verstört, eine Gefangene ihrer Schuldgefühle und ihres schlechten Gewissens. Ob dies einer der Gründe dafür war, dass Toukos Geist sie 'heimsuchte'? Vielleicht war sie dazu fähig, die Qualen ihrer Schwester auf die ein oder andere Weise wahrzunehmen, dass diese es waren, die sie überhaupt erst dazu gebracht haben, Mitsuru zu verfolgen...
Allerdings hatte Yukiko keinerlei Ahnung von Geistern, weswegen dies kaum mehr als eine Vermutung war. Sie schaute zu Katsuya herüber, der Mitsuru eines geradezu mitleidigen Blickes bedachte. Seine Augen sahen klar, aufgeweckt aus, von der gewohnten Verunsicherung und Schüchternheit war nicht mehr zu sehen. Anders als Riho schien er sich für diese Angelegenheit aufrichtig zu interessieren, was Yukiko auf eine eigenartige Art und Weise sogar ein wenig stolz machte; es war schön, dass die Erziehungsmethoden ihres Vaters auch auf ihn einen gewissen Eindruck hinterlassen hatten.
„Wir werden dir helfen, Mitsuru“, sagte sie dann, den Umstand, dass sie damit auch für Riho und Katsuya mitentschied, ignorierend. „Wenn du wirklich der Meinung bist, dass Touko dir das Leben nehmen möchte, so werden wir sie mit allen Mitteln davon abhalten. Dir wird kein Leid geschehen.“
Wie erwartet erntete sie dafür einen empörten Blick seitens Riho, Katsuya hingegen begnügte sich mit einem zustimmenden Nicken.
Mitsuru sah auf, ihren Augen weit aufgerissen. Sie war sichtlich überrascht, hatte nicht damit gerechnet, eine derartige Antwort zu bekommen. Dann, wenn auch nur schwach und langsam, bildete sich ein Lächeln auf ihren Lippen. Selbstverständlich lag keine Freude in ihm, aber man konnte zumindest sehen, dass sich eine gewisse Erleichterung in ihm widerspiegelte. Sie verbeugte sich tief vor Yukiko.
„I-Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll... Vielen Dank...“
Diese erwiderte das Lächeln warm, aufrichtig.
„Bitte, danke uns noch nicht. Allerdings verspreche ich dir, dass wir nichts unversucht lassen werden.“
Ja, wenn es eine Möglichkeit gab, diesem gequälten Mädchen, in dem Yukiko doch so viel von sich selbst sehen konnte, zu helfen, so würde sie sie finden. Und sollte sich dabei auch die Gelegenheit auftun, Toukos Mörder seine gerechte Strafe zukommen zu lassen, dann wäre dies umso besser...
„Du hast diesem Mädchen das Unmögliche versprochen.“
Riho, die Yukiko bei der abendlichen Haarpflege behilflich war, versuchte gar nicht erst, ihre Ablehnung aus ihrem Tonfall herauszuhalten.
Die beiden jungen Frauen befanden sich gerade in dem kleinen, an das Bauernhaus angeschlossenen Schuppen, der wohl als eine Art Waschraum dienen sollte. Eine 'Badewanne' – wenn man es denn so bezeichnen wollte – gab es in Form eines recht beengenden, alt aussehenden Holzbottichs, das Wasser, welches aus einem kleinen Brunnen geholt wurde, konnte, wenn der Bedarf bestand, auf einem separaten Holzofen aufgeheizt werden, was sich allerdings als ein recht umständliches Unterfangen erwies, weswegen sich sowohl Yukiko als Riho dazu entschlossen hatten, auf warmes Wasser und damit auch ein Bad zu verzichten. Yukikos Haar, welches inzwischen recht fettig und verfilzt aussah, hatte es allerdings bitter nötig, mal wieder ordentlich gewaschen zu werden – in Momenten wie diesen würde sie es wahrlich am liebsten abschneiden. In Sayus Herberge hatte es zwar ein kleines Badehaus gegeben, doch aufgrund der Arbeit, die doch sehr viel Zeit in Anspruch genommen hatte, hatte Yukiko es nicht so oft nutzen können, wie ihr eigentlich lieb gewesen wäre – was sie gerade jetzt bitter bedauerte.
„Was hätte ich denn tun sollen? Sie befindet sich in Not und irgendjemand muss ihr doch helfen – oder siehst du das etwa anders?“
Das Mädchen wischte sich einige verirrte Strähnen aus den Gesicht und legte ihren Kopf in den Nacken, um so einen Blick auf Riho, die hinter ihr kniete und ihr Bestes versuchte, die schlimmsten Knoten aus dem viel zu langem Haar herauszubekommen, erhaschen zu können.
Diese seufzte schwermütig.
„Das mag sein, aber hier haben wir es, immer vorausgesetzt, dass sie sich diese Sache nicht einfach zusammenphantasiert hat, mit einem Geist zu tun, also nichts, mit dem wir einfach so fertig werden könnten. Denk doch mal darüber nach – wir sind noch nicht einmal dazu fähig, ihn zu sehen. Wie also sollen wir solch ein Wesen vertreiben können?“
Yukiko, die davon nichts hören wollte, zuckte mit den Schultern.
„Katsuya kann es. Ich bin mir sicher, dass er einen Weg finden wird, diese Angelegenheit zum Guten zu wenden...“
Riho hob, mit einer gewissen Abfälligkeit, die Augenbrauen und schnaubte.
„Bitte, hör' mir bloß mit diesem Jungen auf!“
Offenbar hatte sie ihm seine Lügen durchaus übel genommen. Yukiko selbst war angesichts dieser Tatsache ebenfalls mehr als nur ein wenig pikiert, doch letztendlich überwogen die Enttäuschung und auch eine gewisse Verunsicherung. Es war nicht so, als würde sie von ihm erwarten, dass er seine intimsten Geheimnisse enthüllte, das gewiss nicht, aber dass er Geister wahrnehmen konnte und – möglicherweise, bestimmt – zudem noch andere Fähigkeiten besitzen könnte, war durchaus von Relevanz.
Andererseits – und das musste Yukiko einsehen – war sie selbst ebenfalls nicht vollkommen ehrlich gewesen. Dieser Vorfall mit diesem eigenartigen, maskierten Geisterwesen hatte sie bisher niemanden gegenüber erwähnt und hatte es auch nicht vor.
So gesehen konnte sie seine Entscheidung daher verstehen: Er hatte Angst vor den Konsequenzen, davor, nach dieser Offenbarung anders behandelt zu werden als zuvor. Zumindest ging ihr es so. Gerade jetzt, seit einigen, wenigen Wochen , befand sich ihr Leben in einem ständigen Wandel, noch nie zuvor war die Zukunft so beängstigend und unsicher gewesen. Warum also sollte sie auch noch das letzte Bisschen Normalität, Vertrautheit zerstören? Aber auf der anderen Seite sollte er Yukiko inzwischen gut genug kennen um zu wissen, dass sie ihn niemals aufgrund derartig absurder Gründe verstoßen würde...
„Sei' bitte nicht so hart zu ihm“, entgegnete sie dennoch beschwichtigend. „Er hat es auch nicht unbedingt einfach, weißt du?“
Davon wollte Riho nichts wissen.
„Deine Familie ist es, die ihm dieses komfortable Leben ermöglicht, welches er führt“, sagte sie unbeeindruckt. „Du hast dich all die Jahre für ihn eingesetzt, ihn in Schutz genommen und über seine Fehler hinweggesehen. Doch wie dankt er es dir? Mit Lügen und Unaufrichtigkeit! Wäre Mitsuru nicht gewesen, so hätte er es dir niemals gesagt, dem kannst du dir sicher sein.“
Yukiko wollte gerade den Mund aufmachen, um ihr nochmals zu widersprechen, zögerte dann jedoch; nun, das konnte sie wohl kaum abstreiten..
Riho seufzte.
„Ist es nicht erbärmlich? Noch nicht einmal dir, die soviel für ihn getan hat, kann er sein Vertrauen schenken... Daran siehst du jedenfalls, dass sein eigenes Wohl für ihn an erster Stelle steht.“
Dem konnte Yukiko nun wahrlich nicht zustimmen – für sie klang es in diesem Moment so, als wollte ihr Kammerfräulein Katsuya als unaufrichtig, wenn nicht gar selbstsüchtig darstellen, beides Eigenschaften, die absolut nicht auf ihn zutrafen.
„Warum sagst du das?“, verlangte sie daher ein wenig rüder als beabsichtigt zu wissen. „Du stellst die Dinge gerade so hin, als hätte er Hochverrat an uns begangen! Es mag sein, dass ich durchaus ein wenig enttäuscht bin, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich an ihm zweifle!“
In den ersten Momenten schwieg das Kammerfräulein. Yukiko spürte, wie sie ihre Haare losließ und sich vom unbequemen Boden erhob. Dann, langsam, geradezu andächtig, nahm Riho neben ihrer jungen Herrin auf der schmalen, hölzernen Bank Platz. Sie lächelte, wobei in ihrem Ausdruck ein gewisser Schwermut lag.
„Oh nein, ich zweifle nicht daran an seiner Aufrichtigkeit, ganz im Gegenteil – ich bin mir absolut sicher, dass er darauf bedacht ist, das Richtige zu tun, in deinem Interesse und dem der Asatsuyu-Familie zu handeln. Doch vor einem darfst du deine Augen nicht verschließen: Egal, was er uns und auch sich selbst vorzumachen versucht, letztendlich ist und bleibt er ein Akuma. Akuma sind paranoide, labile Wesen, die noch nicht einmal sich selbst trauen können. Man mag es Katsuya noch nicht anmerken, aber früher oder später wird er auch so werden – wenn er es nicht doch schon ist. Auch er wird Dinge tun, über die er keine Kontrolle hat, wird den Menschen in seiner Umgebung - dir – schaden. Er wird dein Vertrauen missbrauchen, dich in dem Moment, in dem du ihn am meisten bräuchtest, im Stich lassen. Es ist gewiss keine Böswilligkeit, nein, aber dieses Verhalten liegt dennoch in der Natur der Akuma. Du hast schließlich gesehen, wie leicht er sich damit tut, die Menschen, denen er eigentlich nahestehen sollte, zu täuschen und zu belügen.“
Sie verstummte, bedachte Yukiko eines warmherzigen, mitfühlenden Blickes. Diese konnte nicht anders, als ihr Kammerfräulein fassungslos anzustarren; meinte sie das, was sie gerade gesagt hatte, etwa tatsächlich ernst? Das war doch unglaublich... Egal, wie sehr sie Riho schätzte, diese Worte konnte sie nun wahrlich nicht akzeptieren – war es denn wieder diese ihr unbegreifliche Abneigung, die aus der jungen Frau heraus sprach? Warum nur fiel es ihr noch immer, obwohl sie ihn schon so lange kannte, noch immer so schwer, auch nur seine bloße Anwesenheit zu akzeptieren? Riho war doch in allen anderen Belangen eine so vernünftige Person...
Was, wenn sie auch in diesem Falle einen guten Grund für ihr Verhalten hatte? Nein, diese Möglichkeit wollte Yukiko noch nicht einmal in ernsthaftere Erwägung ziehen!
„Ich möchte nicht, dass du so über ihn sprichst“, brachte sie mit tonloser Stimme heraus. „Ich kenne ihn inzwischen lang genug um zu wissen, dass er mir so etwas niemals antun würde. Und er hatte bestimmt keine Freude daran, uns etwas vorzumachen, ganz im Gegenteil...“
„Meine Worte sind nicht dazu gedacht, dich zu verletzen“, stellte Riho rasch klar. „Mir geht es nur darum, jeglichen Schaden von dir fernzuhalten, unabhängig davon, aus welcher Richtung er wohl stammen mag. Selbstverständlich ist mir durchaus bewusst, wie sehr du an Katsuya hängst, doch es ist dennoch ungemein wichtig, dass du dich von diesen Gefühlen nicht blenden lässt – letztendlich kann auch er sich gegen seine Natur nicht zur Wehr setzen.“
Yukiko schloss ihre Augen und schüttelte den Kopf; ein Teil von ihr begriff sehr wohl, was Riho ihr damit sagen wollte, war sogar dazu bereit, diese Warnung zu beherzigen, doch der Rest...
„Ich weiß nicht, ob ich es verstehe...“, murmelte sie leise. „Was genau ist es eigentlich, das Akuma so anders macht? Nur ihre Kräfte?“
Riho neigte ihren Kopf.
„Die normalen Menschen fürchten sie zurecht. Diese eigenartigen Fähigkeiten, mit denen diese armen Seelen verflucht worden sind, sind etwas, das allein den Himmelsgeistern vorbehalten sein sollte. Sowohl der Körper als auch der Geist sterblicher Wesen geht an ihnen früher oder später zugrunde.“
„Was möchtest du mir damit sagen?“, verlangte Yukiko zu wissen, obschon sie die eigentliche Bedeutung dieser Aussage sehr wohl begriffen hatte.
Doch nur, weil sie es wusste, bedeutete das noch lange nicht, dass sie auch dazu bereit war, es zu akzeptieren.
Es war kein Geheimnis, dass diese als Akuma verschriene Menschen nur in den seltensten Fällen mit einem langen Leben gesegnet waren. Wenn sie nicht aufgrund der schlechten Behandlung ihrer Mitmenschen oder auch – was ebenfalls recht oft vorkam – durch ihre eigene Hand umkamen, so waren es diese eigenartigen Fähigkeiten, die ihnen ein frühes Grab bescherten. Niemand wusste, warum es nun eigentlich so war, doch sie zerstörten langsam, schleichend, den Körper ihres Anwenders, griffen seinen Geist an, trieben ihn gar in den Wahnsinn. Katsuya für seinen Teil schien es bisher noch recht gut zu gehen; was auch immer er in jener Nacht, in der sie aus dem Amemiya-Anwesen geflohen sind, getan haben mochte, bleibende Schäden schien es zumindest keine zurückgelassen zu haben.
Doch wie lange mochte dem noch so sein? Sollte Katsuya wirklich ein Akuma sein, so würde auch er früher oder später dieser quälenden Nebenwirkungen erfahren...
„Es geht mir nicht darum, dich zu beunruhigen oder gar Zwietracht zu sähen“, ergriff Riho mit sanfter Stimme wieder das Wort. „Es ist nur so, dass ich es für unabdingbar halte, dir alle Möglichkeiten, alle Gefahren aufzuweisen. Alles, das ich möchte, ist, dass du meine Worte im Hinterkopf behältst.“
Was sie somit wohl auch erreicht hatte. Selbst wenn Yukiko nicht dazu gewillt war, Katsuya als das schwächste Glied der Kette zu betrachten, als denjenigen, der ihr, wenn auch unfreiwillig, schaden würde, so hatte sich Rihos Warnung in ihren Gedanken festgesetzt – zu fest, zu tief, als dass sie sie einfach so ignorieren oder gar vergessen könnte.
So latent und unterbewusst es momentan auch noch sein mochte, die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Gefühl des Zweifels letztendlich noch einige Probleme mit sich bringen könnte, war durchaus gegeben.