Kapitel 1
1907
„Wieso?“, schrie ich die Frau am Schalter an, die so gelassen da saß und auf mich hinabblickte.
„Nennen Sie mir einen vernünftigen Grund, wieso mir die Ausreise nicht gestattet wird! Ich bin englische Staatsbürgerin, ich habe das Recht in meine Heimat zurückzukehren!“
„Es tut mir leid, aber es existiert leider keine Akte über Sie. Trotzdem besitzen Sie eine russische Personalie und einen russischen Pass. Eine Ausreise ist aber auf so einer Grundlage unbegründbar...“
„Aber...selbst wenn es so ist! Mit einem russischen Pass muss mir doch die Ausreise mit dem Grund einer Einreise nach England gestattet werden! Es gab doch gerade erst dieses neue Abkommen!“
„Bedauerlicherweise enthält dieses Abkommen keinen Artikel über uneingeschränkten Personenverkehr oder Sonstiges, und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Es warten noch andere Kunden.“
„Das kann es doch nicht gewesen sein! Können Sie denn nicht wenigstens einen Antrag ausstellen oder-“
„Wenn Sie nicht sofort das Gebäude verlassen, sehe ich mich gezwungen Sie zu melden. Entweder Sie gehen als das Nichts was Sie sind, oder Ihnen droht bald eine Inhaftierung wegen deutschem Spionageverdacht!“ Letzteres hatte Sie nur bedrohlich geflüstert. Ich schluckte, sah sie ein letztes Mal mit bitter-enttäuschtem Blick an und wandte mich ab. Ich floh regelrecht aus dem Gebäude, hatte zwischendurch jemanden angerempelt, der mir noch hinterher fluchte. Meine blonden Haare hingen mir wirr im Gesicht. Doch ich konnte nicht aufsehen. Die Scham, die Erniedrigung, stand mir wässrig in den Augen. Sie hatte Recht, ich war ein Nichts, dass Nichts bewirken konnte, nichts hatte. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, diesen Versuch zu wagen, erneut? Als ich von dem Abkommen zwischen dem Zarenreich und Britischem Königreich gehört hatte, da war mein Herz so hoch gesprungen, hielt sich an Hoffnung geklammert, um dann mit schmerzendem Pochen meinen Körper zu eben jener Blamage zu treiben.
„Ich werde meine Heimat nie wieder sehen...“, wisperte ich betroffen, während ich meinen Weg nach Hause, wie ich es mir erlaubte es zum Trost zu nennen, bestritt.
Ich öffnete die Tür so leise wie möglich. Es war bereits spät und ich wollte vermeiden, Dimitri zu wecken. Als beim Schließen der Tür ein Lichtkegel über mir aufglühte, wusste ich meinen Versuch gescheitert.
„Wieso hast du so lange gebraucht? Du weißt wie spät es ist, oder?“, sagte er, als ich aufsah. Er lehnte wie immer, wenn er mit einer seiner Reden und Zurechtweisungen begann, im Türrahmen. Die Arme hielt er verschränkt, aber der strenge Eindruck wurde unterbrochen, wenn er sich an das stoppelige Kinn fasste, als Stütze zum Denken, um die richtigen Worte zu finden. Es ließ ihn alt, ja väterlich, wirken. Dabei war er erst 32 Jahre lang Teil dieser Welt.
„Ja, das weiß ich. Das tut mir leid.“
„Wie oft soll ich es wiederholen?! Denkst du denn nicht nach, Mädchen? Dich alleine Nachts herum zu treiben, dass wird dir eines Tages noch deine Jungfräulichkeit oder sogar dein Leben kosten.“ Ich wurde rot.
„Zu einem früheren Zeitpunkt hätte ich nicht gehen können! Das weißt du wohl selbst!“
Schweigen breitete sich zwischen uns aus. Die unmittelbare Erkenntnis, dass er sich zu viele Sorgen um mich machte, und ich mir zu wenig, stand schon seit Anbeginn unseres gemeinsamen Weges zwischen uns, seit unserem ersten Treffen.
„...Ja, entschuldige mich. Ich habe Brot auf dem Tisch liegen gelassen für dich. Dann leg dich schlafen. Uns beiden steht morgen eine Spätschicht bevor.“
„So wie jeden Abend, nicht? Danke sehr.“ Er lehnte noch immer, blickte mir direkt in die Augen. Als er sich abstieß, wandte ich den Blick ab. Er konnte sehen, wie mein heutiger Versuch geendet war. Wortlos stand er vor mir und klopfte mir auf die Schulter, um sich dann umzudrehen und mit einem Rascheln ins Bett zu verschwinden. Es gab in der Wohnung, wenn man es so nennen wollte, zwei Räume. In einem lebte Dimitri, sowie ich seit er mich aufgenommen hatte. Ich wusste nicht, wie er das Privileg, diesen Raum für uns allein zu gewinnen, erwirkt hatte, aber irgendwie hatte er es geschafft seine zwei Mitbewohner in den zweiten Raum zu drängen. Vielleicht für mich. Dieser Zustand hielt für die Nächte, in denen wir tatsächlich Schlaf fanden. Meistens wurden allerdings hitzige Kartenspiele bei uns ausgetragen, wo sich bis zu sieben Kollegen in unserem Raum dicht an dicht setzten und lachten und schrien. An mich hatte man sich gewöhnt, und ich war dankbar für diese Abende, wo auch ich ausgelassener leben konnte. Die Ablenkung ließ für einen kurzen Moment das Leben leichter wirken. Als ich das erste Mal von einem Freund von Dimitri ein Wässerchen angenommen hatte, da schien es sogar keine Last mehr zu geben. Zuvor hatte ich Säufer nicht verstanden, nun beneidete ich sie manchmal um den Alkohol.
Mit umherspringenden Gedanken ging ich zum Tisch und nahm mir das Stück Brot. Ich hatte heute nicht bemerkt wie hungrig ich war, die Aufregung, die Hoffnung... Ich schüttelte den Kopf, wie um Geister aus ihm zu vertreiben, und stieß mir, wie zur Bestätigung eines wirklich miesen Tages, den Fuß am Tischbein, als ich mich abwandte. Der morgige Tag würde genauso, wie der heutige. Der heutige, war genauso, wie der gestrige. Jahr um Jahr um Jahr... und der einzige Ausbruch wäre Tod.
Vorsichtig legte ich zu Dimitri ins Bett und drückte mich an die Wand. Das einzige Gefühl von Festigkeit...
Mit geschlossenen Augen malte ich die Form Groß Britanniens an diese und versuchte mich zu erinnern, wo ich her kam, wie es dort aussah. Wer meine Familie war.
Ein Mantra...