Kapitel 2 – Rot und Grau gesellt sich gern
1909, November
„Das muss noch bis morgen fertig werden!“, forderte der Abteilungsvorsteher, als er vor mir stand und mit steifer Miene mir wiederholt auftrug, bis spät in die Nacht zu arbeiten.
„Verstanden.“ Was sollte man schon tun? Arbeiten oder sterben lautete hier die Devise, das hatte sogar ein Wirbelwind wie ich begriffen. Hier wurde einem nichts geschenkt und wer seine Meinung laut predigte und seinen Dickschädel durchsetzte, der erhielt für den Moment Anerkennung von uns allen, wurde aber von den großen Tieren hier niedergemäht. Manchmal erschienen sie mit leerem Blick am nächsten Tag wieder. Manchmal verschwanden solche Leute endgültig. Man munkelte schwarz gekleidete Männer hätten vor ihrer Tür gestanden, danach warden sie nie wieder gesehen. Die Ochrana...vor ihr hatten hier alle Angst. Um jemandem aus dem Weg zu räumen reichte lediglich eine kleine Beschuldigung: Spionage. Als ich her kam, noch grün, ein kleines Mädchen, da dachte ich auch noch, ich könnte selbst etwas bewirken. Aber alleine geht es nicht. Dimitri konnte mich damals gerade so retten, sonst hätte der fette Fabrikleiter, für den ich immer noch arbeitete, mich verbraucht und verbrannt, garantiert.
„Na dann wollen wir uns wohl beeilen. Heute Nacht soll es kälter werden als die zuvor.“, rief ein Kollege von der Seite und heizte den Ofen vor ihm an.
„Ja.“, stimmte ich zu. Wie viele erfrorene Leute würden wir heute auf dem Heimweg sehen? Es war schlimm. Der Zar ließ seine Bevölkerung verhungern und erfrieren.
„Heute haben wir fast fünfzehn Prozent mehr Umsatz gemacht als gestern, für manche zumindest. Wir arbeiten uns tot.“, sagte Dimitri leise, als er für die Meldung und Notierung zu mir an die Maschine kam.
„So oder so.“, sagte ein anderer, der sich zu uns gesellte. Für heute hatten wir es fast geschafft.
„Ich frage mich, weshalb die Rüstungsindustrie momentan so explodiert. Ein Kollege von mir arbeitete in einer Fabrik für Gleise und Eisenbahnteile. Vor einem halben Jahr haben die ihre Produktion völlig umgestellt auf Waffen. Und sie sind nicht die einzigen.“
„Das kann nicht vieles bedeuten.“, meinte Dimitri mit vielsagendem Blick.
„Aber es ist ja nicht so, als hätte man die Möglichkeit darauf Einfluss zu nehmen. Der Tod kommt mit großen Schritten.“
„Ja, aber heute eben noch nicht. Treffen wir uns nachher wieder bei dir? Ich bin an eine Flasche gutes Wasser gekommen.“
„Klar.“, ging Dimitri darauf ein. „Bringt euch eine Decke mit, es wird kalt.“
„K-kalt....“, klapperte es mir zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Ich wartete erst seit ein paar Minuten vor der Fabrik auf Dimitri, damit wir gemeinsam nach Hause gehen konnten. Er bestand darauf, aber ich konnte schon jetzt meine Hände nicht mehr spüren.
„Scheiße..“, murmelte ich und trat von einem Bein auf das andere, bis mir der Geduldsfaden riss und ich mich abwandte. Diese Eiseskälte war nicht auszuhalten. Vom weißen Boden her kroch mir die Kälte des Schnees in die Schuhe und ein Wind schleppte mir immerzu neuen in den Nacken.
Schnellen Schrittes eilte ich auf der Straße entlang und zog den Kopf zur Brust. Ich versuchte Nebenstraßen und Gassen zu meiden. Mit Dimitri war das kein Problem. Er war wirklich gut gebaut und die Leute hatten Respekt vor ihm. Schon oft hatte ich mich gefragt, wieso er noch keine Frau hatte, keine Kinder, aber er mied das Thema. Leise drangen Geräusche und manchmal Stimmen aus nebenliegenden Gassen und Häusern. Selbst, wenn der Frost sich immer schwer auf mein Haupt legte und ich gebückt, beinahe zusammengekauert, nach Hause eilte, war die abendliche Ruhe und leiser Schneefall ein Wunder, dass ich genoss. Ebenso heute, bis ein lauteres Geräusch die kalte Luft durchschnitt. Ich wurde einen Moment langsamer, und meine Gedanken hielten inne. Ein Schrei, nein, mehrere schienen direkt vor mir zu liegen. Lauschend, bedacht leise, ging ich weiter und sah mich immerzu vorsichtig um. Die Geräusche wurden lauter, bis ich den Grund dafür ausmachen konnte. Ich drückte mich an eine der Hauswände an der Seite der Straße. Ungefähr 30 Meter vor mir standen bestimmt ein dutzend Männer, die in einem undurchschaubaren Wirrwarr auf sich einprügelten. Einige gingen gerade zu Boden, andere grölten vor hitziger Freude und übermütig. Wieso musste das gerade hier, auf meinem Weg passieren? Die letzte Gasse lag einige Meter hinter mir, würde mich aber auch auf einen Umweg führen und es war eine dieser dunklen. Auf einmal bereute ich es tief ohne Dimitri losgegangen zu sein. Doch während ich noch verharrte und mich dazu entschloss in den sauren Apfel zu beißen und den Weg durch die Gasse zu nehmen, kamen aus eben jener zwei Männer gestürmt, dünn und schwarz bekleidet, mit den gleichen übermütigen Augen wie jene bei der Prügelei. Nun war ich engepfercht, und ehe ich mich hätte wegducken können, wurde ich mit gefährlichem Glanz anvisiert und fand mich in festen Griffen wieder.
„Na was haben wir denn hier? Alleine unterwegs, Mäuschen?“
„Lasst den Quatsch, mein Mann wartet vorne auf mich. Wenn ich nicht gehe, wird er wütend und kommt her.“, log ich und versuchte mich loszureißen, aber den Männern nicht in die Augen zu sehen. Bloß keine Provokation.
„Dein Mann? Wieso nicht, umso besser. Wie alt bist du denn, Kleine?“, fragte er mich mit dreckigem Grinsen und ich wusste, dass ich hier nicht mehr alleine rauskommen würde.
„Lass das, Lew. Wir müssen weiter. Wir sind am verlieren. Der Redhead hat fast schon alle niedergedroschen.“
„Ja, dann sagen wir, dass wir woanders aufgehalten wurden.“, zischte er. „Willst du mir nicht antworten?“, wandte er sich wieder mir zu.
Ich wusste nicht was ich tun sollte. Ich konnte mich nicht für älter ausgeben und ihm den Geschmack verderben. Mit meinen sechszehn Jahren, sah ich auch aus wie sechszehn. Ein delikates Alter für solche perversen Säcke. Dimitri hatte Recht. Heute sah es nicht so aus, als könnte ich mich da rauswinden.
„Ich bin krank-“, fing ich an zu faseln, aber er griff mir bereits unter den Mantel und drückte sich an mich. „Steck mich ruhig an, aber schrei nicht, ja? Du hast schöne blaue Augen...“, flüsterte er. Widerlich!
„Lass ich los!“, entfuhr es mir und ich fing an zu schreien, zu schlagen, zu treten. Nein, so würde das hier nicht enden. Ich sah angsterfüllt in eine wütende Fratze, sah eine Faust, sie kam mir näher. Ich schloss die Augen und hörte die Faust einschlagen, doch nichts berührte mich mehr. Ich riss die Augen auf und sah meinen Peiniger und seinen Freund am Boden liegen. Sie wälzten und rollten wie Würmer, vor Schmerz zusammengezogen. Mein Verstand war zu langsam, was passierte hier? Ein paar Meter vor mir stand nun ein anderer Mann, den ich auf 21 Jahre schätzte. Er sah mich an, schien interessiert und gleichzeitig desinteressiert.
„Die Ratten hier hinten waren die letzten. Das Nest ist ausgeräuchert.“, rief er zur Straße, ohne den Blick abzuwenden, wo noch ein paar andere aufrecht standen und frei lachten.
Was wollte er? Was sollte ich sagen? Egal, was das Motiv war: Dieser Mann hatte mir gerade den Arsch gerettet. Er könnte etwas fordern als Zeichen meiner Dankbarkeit. Trotzdem...
„...Danke.“, sagte ich ihm mit zittriger Stimme, dabei war ich bemüht sie fest klingen zu lassen. Ich richtete mich auf, straffte die Schultern, hob das Kinn und wollte selbstbewusst wirken.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, wobei seine aufgeplatzte Lippe weiter penetriert wurde.
Seine Augen waren klar, und er strich sich mit einer Hand durch seine dunklen Haare.
Dann schritt er auf mich zu. War es ein Fehler? Habe ich es vermasselt? Bleib standhaft, versuchte ich mich selbst zu motivieren und blickte ihm nun ebenso direkt in die Augen.
Einen Schritt entfernt von mir blieb er stehen, schaute nun mit leicht herunter gebeugtem Kopf zu mir herunter.
„Glück gehabt, КоTёнок, dass ich heute hier war.“, sagte er entspannt, gleichzeitig einen Ticken zu arrogant.
Einen kurzen Moment musste ich angewidert das Gesicht verzogen haben, denn er lachte kurz auf.
„Ein weiterer Aufreißer, Schwein unter Ratten.“, entfuhr es mir ehe ich mich selbst hätte zügeln können. Das verwunderte ihn für einen kurzen Augenblick, bevor er arrogant und verärgert lächelte. „Vergiss nicht, wer dir gerade einen Höllenritt erspart hat. Der nächste ist nicht so weit entfernt.“ Unwillkürlich ließ mich der leicht drohende Unterton zusammenzucken, und ich reckte zum Trotz das Kinn noch ein Stück höher.
„Nicht, dass ich jemals eine widerstrebende Frau gezwungen hätte, das liegt mir fern.“, ergänzte er, ohne eine Notwendigkeit. Er sah nicht aus, als ob er es nötig hätte, und sein ernster Gesichtsausdruck von vorhin, hatte bei mir einen Eindruck eines bodenständigen Mannes hinterlassen.
„Welch ein Gentleman. Danke nochmal, ich gehe jetzt.“, sagte ich und setzte an zum Gehen, als eine Hand mir entgegen hielt.
„Mein Name ist Grigori Petschkow.“ Misstrauisch blickte ich auf seine Hand, die groß und blutig war. Es schien nicht sein Blut zu sein.
„Oh, entschuldige.“ Er wischte sie an seinem schwarzen Mantel ab und streckte sie mir erneut hin. Zögernd legte ich meine in seine, wobei die Berührung angenehm brannte, da seine Hände warm waren.
„Emily Angecielle.“
„Du kommst nicht von hier, oder?“
„Kommt darauf an, welchen Zeitpunkt du meinst.“ Er lachte wieder kurz auf. Dann musterte er mich.
„Lass mich raten, ein englisches Kätzchen.“
Ich kam nicht umhin, ihm einen Blick der Bewunderung zuzuwerfen, bevor ich mich fasste und energisch mit den Kopf schüttelte. Seine Auffassungsgabe hatte mich kurz überrascht. Er war arrogant, aber nicht dumm.
„Kätzchen sind was für Frauenaufschneider. Hör auf mich zu kosen.“
„Wieso? Dann passt das doch.“
Ich schenkte ihm einen weiteren verärgerten Blick, doch ich schien ihn damit nur zu bestätigen und zu belustigen.
„Das Abendprogramm ist jetzt beendet.“, meinte ich und begann loszugehen.
„Bevor du das nächste Mal alleine Nachts umherstreifst, ruf mich.“ Ich ignorierte seinen Quatsch. Erst jetzt fiel mir auf, dass die Straße leer war. Alle waren verschwunden. Nur Überreste, rote Flecken auf weißem Grund, zeugten von der Vergangenheit. Ich fröstelte und rieb mir die Hände, die ich nicht mehr spürte. Unwillkürlich sehnte ich mich nach den warmen Händen.
Hinter mir hörte ich noch eine Bewegung.
„Auf Wiedersehen, КоTёнок.“
Ein Zug von Wärme schlug mir entgegen, als ich die Tür zum Haus öffnete. Zumindest wärmer, als draußen. Ich stieg ein paar Stufen hinauf und klopfte an die Wohnungstür. Alles war taub, ich konnte meine Hände nicht mehr bewegen und an meinen Beinen hingen Klötze, die jeden Schritt unerträglich gemacht hatten. Nach wenigen Sekunden öffnete sich die Pforte vor mir und Dimitri blickte mir mit besorgter Mine entgegen.
„Wieso tust du mir das jeden Tag an?“, sagte er leise und schüttelte den Kopf.
Ich trat an ihm vorbei in die Wohnung, in der es laut war und stark nach Ruß roch, von den Arbeitern.
„Nichts ist passiert, nur eine Frau, die mich um Unterkunft angebettelt hat.“
„Dann wärst du jetzt nicht allein.“, enttarnte er meine Lüge.
„Mir ist kalt.“, lenkte ich ab und ging in unser Zimmer und wurde mit klirrenden Gläsern begrüßt.
„Dimitris Schützling ist wieder da!“ „Schenk mir noch einen ein!“ „Roman, deine Frau wird dir wieder einen Vortrag halten, wenn du so nach Hause kommst.“
Dimitri fragte nicht weiter, und ich verkroch mich unter einer der Decken und ließ mich vom Gesang der Betrunkenen einlullen.