Manchmal ist ein Moment vorbei. Sekunden zerfließen zwischen deinen Fingern. Du kannst sie nicht halten. Das Herz zerspringt. Bis nichts mehr bleibt.
Das Leben gibt uns Zeichen. Wir können sie nur nicht deuten. Stattdessen quälen wir uns mit Vermutungen, Zweifel und Zuversicht. Wir bangen, leiden, weinen. Es ist die Hoffnung, die uns tosende Momente überleben lässt. Wie grausam trägt ein blutendes Herz zahllose Risse. Jeder von uns trägt sie. Manche Narben sind sichtbar. Wir schleppen sie vor uns her, mit uns herum, um uns herum. Manchmal nehmen uns Narben die Luft zum Atmen. Doch es gibt auch die ganz feinen, haargefäßgroßen Wucherungen, tief in uns drin. Verhornte kleine Einkapselungen, die wir tunlichst verbergen. Doch, je mehr wie sie zu verstecken versuchen, desto sichtbarer sind sie. Wir nennen sie Schutzmauern, ich nenne es Angst. Angst vor weiteren Rissen, die zu lebensbedrohlichen Blutungen führen können. Wir verbluten. Unsere Seele verblutet. Bis nichts mehr bleibt, außer einer leblosen Hülle. Gedanken kreisen um das Was-wäre-wenn. Wir schreien. Schreien. Doch niemand hört uns. Wir haben Angst. Du hast Angst. Ich habe Angst. Ich habe Angst allein zu sein. Ich habe Angst im Nichts zu verschwinden. Unsichtbar. Scheinlos. Der Schrei unserer Seele bleibt unerhört. Es quält sie, unsere Seele. Sie möchte fliegen, über weite Felder, Berge, Meere. Wie die Möwen möchte sie kreischen. Und fliegen. Immer wieder fliegen. Frei sein. Tief durchatmen. Tief. Bis in unser Dunkelstes. Schau, ganz unten. In der hintersten Ecke deiner Gedanken, da sitzt sie – die Furcht. Sie ist eine Verräterin. Eine Lügnerin. Eine Diebin. Wenn wir glücklich sind, sein könnten, da ist es die Furcht, die uns unsicher werden lässt. Sie mag es nicht, das Glück. Sie setzt Zweifel in deine Gedanken. Sie beginnen zu kreisen. Was-wäre-wenn. Immer und immer wieder. Immer und immer wieder. Immer und immer wieder. Immer und immer wieder. Immer und immer wieder. Endlos. Bis wir nicht mehr weiter wissen. Sie ist eine Diebin. Sie stiehlt uns unser Glück. Und bei Gott, wie dumm wir sind. Wie töricht und naiv auf sie zu hören – auf die Furcht. Wo doch die Furcht die Feigste von allen ist. Warum? Warum hören wir auf sie? Lassen sie eingreifen. Nein, wir sind es selbst. Wir lassen sie zu, die Zweifel. Zweifelt nicht. Oh, zweifelt nicht. Nicht. Nichts sollte man mehr bezweifeln als die Zweifel.
Meine Gedanken sind leer. Und da höre ich ihn kommen. Den Schrei. Er kriecht hoch. Legt sich um meine Lunge. Sie wird eng. Mein Hals. Kehle. Mein Herz schlägt schnell. Alles wird eng. Mein Herz zerspringt. Mein Herz. Mein Herz schlägt. Es schlägt, pumpt Blut durch die Adern, versorgt die Organe mit Sauerstoff. Es geht mir gut. Es geht mir gut. Es geht mir gut. Nein.
Doch. Ich erinnere mich an die grüne Insel. Es war so schön. Dieser Moment, hoch oben auf dem Berg. Das weiche Gras unter mir. Gelbe Blümchen. Weiße Schönwetterwolken. Dieser Ausblick. Als ob ich bis zum Meer blicken könnte. Frieden. Innerer Frieden war, was ich verspürte, am letzten Tag, den ich gerne verlängert hätte. Es war wie angekommen sein. In diesem Moment war ich eins mit mir. Und mit mir ich.
Da war eine Holzbank, mitten im Grün. Sie zierte ein Spruch. Im Gedenken an jemanden, der gerne jeden Tag hier verweilte. Ich fuhr mit meinen Fingern die Inschrift nach. Wie alt sie wohl sein mochte? Wie der Mann wohl aussah, der dieses Grün so liebte. Oh, dieses Grün. Es brachte mein Herz zum Blühen.
Oh, dieses Meer. Wie war das Meer berauschend. Ich schließe die Augen und spüre die glatten Steine unter meinen Füßen. Das Rauschen der Wellen. Ebbe und Flut. Mit sich reißen – lassen.
Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Ewiger Quell des Lebens. Wie sekündliche Geburt und ebenjenes Sterben.
Dunkel ist es in manch einsamen Nächten, doch ach, dieser Sternenhimmel. Schaut doch! Dieser Himmel. Mit Millionen von Sonnen. Sie leuchten. Strahlen. Wie klein sind wir doch im Anbetracht des Kosmos. Wie bedeutungslos sind unsere Sorgen im Fokus des Alls. Ein Satellit zieht seine Runden. Er schaut auf uns hinab. Wir zu ihm hoch. Kleine Nebelschwaden bilden sich vor meinem Mund. Es ist kalt geworden und ich begrüße es. Guten Abend Kälte, meine Freundin. Wie bist du mir willkommen. Du Gute, kühlende. Wie hitzig ist dein Vetter Glut, der verbrennt, was ihm zu nahe kommt. Wie gnädig ist deine dankbare Kühle. So schleiche ich unter deinen Mantel, bin verborgen in der Nacht.
Ich bin die Nacht.
Mit Tausenden Sternen. Drehe mich. Im Abendkleid.
Komm, nimm meine Hand. Mein Liebster. Meine Liebste. Mein Herz. Es sehnt sich nach dir. Wie deine Augen funkeln. Göttliche Nacht. Umhülle mich. Versteck mich.
Sie wollen mich greifen. Ich renne und renne. Im Hamsterrad. Immer voran. Wie eingebildet ich doch bin, zu denken, dass ich was ändern kann, dass ich klüger werden kann. Wer bin ich. Wer bin ich? Schwarz. Weiß. Tasten meines Lebens. Gut dem, der diese Musik spielen kann. Noten meines Herzens. Melodie meiner Sehnsucht. Hörst du sie? Die schönen, leisen Töne? Das tiefe Vibrieren? So hör doch, wie sie erklingen. Wie ihre Noten in Wellen gleiten und in mir brechen. Wie sie in Tausenden Bläschen in mir platzen. Es sprudelt, kribbelt. Ein Regenbogenmeer. Im Regen ein Bogen über dem Meer.
Mehr sein. Allein sein. Rein sein.
Was sind das nur für Gedanken, die in mir kreisen? Kreischen. Triralli. Triralli.
Meine Uroma hat gern gesungen. Man kennt sie noch, im Heim, wo sie gestorben ist. Einsam. Einsam? Sterben wir nicht alle alleine? Ich schiebe den Gedanken beiseite und öffne eine neue Tür. Dahinter ist ein Kinderzimmer. Ein Mädchen spielt Flöte. Sie trägt ein Feenkleid. Ihre Haare flattern im Wind des Waldes. Die Blätter rauschen. Ein Farbspiel hoch oben im Kronenwerk. Wie kleine Tänzerinnen wiegen sie sich im Sommerlied und fallen im Herbstes Mondscheinsonate. Ein bunter Blätterhaufen. Ich werde ihn raufen. Einen großen Berg voller bunter Blätter liegt vor mir. Noch ein paar Schritte zurück. Achtung. Anlauf! Schnell. Schnell. Schneller. Ich springe und fliege. Spüre den Wind zwischen meinen Fingern. Drehe mich auf den Rücken. Schwimme fliegend dem Horizont entgegen, der des Tages letzte Stunden zeigt. Wie rot sie glüht, die Sonne. Oh Sonne. Nimm mich zu dir. Wärme mich. An deiner Schulter gib mir Trost. Ich sehe zu dir hinauf. Du große, gelbe, Wunderschöne. Nimm mich in deine Arme. Küss mich. Bis ich schmelze, vergehe. Lass nichts mehr von mir übrig. Verbrenne mich. Oh Glut. Wie zerfrisst du ein liebendes Herz. Halte an. Bitte.
Die Zeit zerrinnt.
Doch du kannst sie nicht halten.
Warte einen Sekundenaugenblick, dann ist der Moment vorbei. Die Jahre zerfließen zwischen deinen Fingern. Du konntest sie nicht halten. Das Herz zerspringt. Bis nichts mehr bleibt.
Außer Hoffnung.
Und Furcht.