Meine Lungen brennen und die Welt verschwimmt vor meinen Augen. Ich kann die Tränen schmecken, noch bevor ich spüre wie sie meine Wangen hinunterlaufen.WeiterDrängt mich das letzte bisschen Verstand, das mich davon abhält umzudrehen und diese ganze Aktion abzubrechen.SchnellerIch kann einfach nicht wieder zurück.Die Verzweiflung und die Wut fraßen mich auf, nahmen jeden Tag ein Stückchen mehr von mir, bis eines Tages nichts mehr übrig blieb. Nur eine Hülle. Leer, aber niemand hat gesehen, dass ich verschwunden war. Oder niemand wollte es sehen.Die kalte Winterluft kühlt mein überhitztes Gesicht und lässt ein angenehmes Kribbeln darauf zurück. Ich mag die Kälte. Ich fühle mich in ihr geborgen. Ich weiß, manche Menschen würden über diese Aussage die Stirn runzeln, meine Mutter hat das ja schließlich auch getan. Meine Mutter. Kurz sehe ich ihr Lächeln vor meinem inneren Auge aufblitzen und ich spüre förmlich ihren warmen aber gleichzeitig distanzierten Blick auf mir. Sie konnte mich nie so lieben, wie sie meinen Bruder geliebt hat. Er war gestorben und das hatte ihr und meinem Vater das Herz gebrochen. Ein Jahr später hatten sie mich adoptiert. Ich war damals sechs Jahre alt gewesen. Sie hatten mich in ihr Leben gelassen, doch niemals in ihr Herz. Und obwohl sie es mir nie sagten, merkte ich es doch an der Art wie sie über mich sprachen, wenn sie dachten ich könne sie nicht hören und wie sie mich mit diesem Blick betrachteten... dieser Blick, in dem Missachten lag, sosehr sie auch versucht hatten es vor mir zu verbergen. Nein, der Plan meiner "Eltern" sich mit einem neuen Kind über den Verlust des alten hinwegzuhelfen hatte nicht funktioniert und dafür hassten sie sich selbst beinahe gleichermaßen wie mich.Endlich kann ich den Bahnhof in dem Schimmern der Straßenlaternen erkennen. Der Duft von Fast Food schlägt mir entgegen und lässt meinen Magen laut knurren. Doch ich halte nicht an um mir etwas zu essen zu besorgen. Nichts ist in diesem Moment wichtiger als der Zug, den es zu erwischen gilt, um einen Neuanfang zu starten.Ich betrete das alte Gebäude und halte nach dem richtigen Bahnsteig Ausschau. Die warme Luft lässt die Schneeflocken schmelzen, die sich draußen auf meinem bunten Wollmantel niedergelassen hatten. Mit meiner linken Hand streiche ich mir eine Strähne meiner schwarzen Haare aus dem Gesicht während ich mit meiner Rechten in meiner Tasche herumkrame um das Ticket herauszuholen, welches ich am Tag zuvor online bestellt habe. Entnerft stoße ich ein lautes Schnauben aus, was ich aber sofort bereue, als ich die Blicke der vorbeigehenden Passanten bemerke.Ich stehe nicht gerne im Mittelpunkt und ich hasse es beobachtet zu werden. Mein gesamtes Leben lang hatte ich nur eine Freundin gehabt, doch irgendwann wurde sie meiner ständigen schlechten Laune und der Tatsache, dass ich unfähig war richtige Gefühle zu zeigen überdrüssig und ihre Anrufe wurden immer seltener.Endlich!Etwas entspannter hole ich das zerknitterte Stück Papier aus meiner Tasche und falte es auseinander.Abfahrt: 01:45 Uhr steht darauf.Nach einem kurzen Blick auf das Display meines Handys gelangt meine Laune wieder an ihren Tiefpunkt.Noch 45 min.Die Enttäuschung und Wut die ich empfinde sind nichts neues und ich lasse es, wie so oft, einfach zu. Es ist schlimmer geworden. Früher kamen auf diese Tiefpunkte immer auch kleine Glücksmomente und auch wenn sie noch so kurz waren, hielten sie mich doch davon ab mich selbst zu verlieren. Diese Hochs gibt es nun schon lange nicht mehr. Nicht einmal die Taubheit setzt nach einer Weile mehr ein. Selbst diesen Punkt habe ich schon lange überschritten. Es gibt in dieser kleinen Stadt nichts, dass mir helfen könnte, zu diesem Entschluss bin ich nach reichlichen Enttäuschungen gekommen. Ich hoffe dort, wo ich hinkomme wird mich mein Glück finden. Ich hoffe, dass ich bald wieder das Licht sehen kann, das mir schon zu lange vorenthalten wurde und auf das ich nicht länger verzichten kann.
Es ist soweit. Der Zug fährt ein und bringt einen Luftzug mit sich, der mir meine gesamten Haare ins Gesicht bläst. Ohne einen Blick zurückzuwerfen steige ich ein und nehme gegenüber von einem älteren Mann Platz der mit dem Kopf ans Fenster gelehnt schläft und nur ab und zu schnaubende Geräusche von sich gibt.Ich stütze meinen Kopf auf meinen Händen ab und blicke aus dem Fenster. Das schwache Rieseln hatte sich zu einem dichten Schneegestöber entwickelt und gedankenverloren sehe ich zu, wie die weißen Flocken sich friedlich auf die Landschaft legen. Wenn wir durch Tunnel fahren sehe ich mein Gesicht in der Glasscheibe. Die Grünen Augen liegen in tiefen Höhlen und sind von all dem Schlafmangel Blutunterlaufen.Nach einer Weile nehme ich mein Handy aus der Tasche und wähle die Nummer des Eigentümers der kleinen Wohnung die ich in weniger als fünf Stunden beziehen werde.Er hebt gleich nach dem zweiten Klingeln ab und fragt verschlafen: "Ja?""Guten...Tag", sage ich etwas zögerlich, da es eigentlich mitten in der Nacht ist."Mein Name ist Lea Steiner. Ich rufe wegen...""Ja ja ich weiß, warum Sie mich anrufen. Niemand sonst käme auf die Idee um halb drei zu telefonieren!", brummt er missmutig.Verunsichert weiß ich nicht, was ich darauf antworten soll, doch da spricht er schon weiter."Alles ist bereit für ihre Ankunft. Ich habe die Papiere und Schlüssel vorbereitet. Sie wissen ja, wo wir uns treffen. Und kommen sie pünktlich!". Ruft er nun etwas lauter."Ja...", flüstere ich, doch er hat schon aufgelegt.Ich schaue auf die Uhr. Noch drei Stunden dann bin ich da. In einem neuen Leben, wo niemand mich kennt, wo ich mich neu erfinden kann und versuchen werde, die Dämonen meiner Vergangenheit zu vergessen.Jetzt schleicht sich doch ein kleines Lächeln auf meine Lippen. Es fühlt sich seltsam an, deswegen forme ich meinen Mund wieder zur gewohnten harten Linie.
"Lea!" Erschrocken drehe ich mich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ich hatte mich verlaufen und habe nur mit Mühe und Not in die schmale Seitengsse gefunden, die ich in Zukunft bewohnen würde. Obwohl ich im Internet schon Bilder von meiner neuen Wohnung gesehen habe, heimlich natürlich, damit niemand auf die Idee kommen könnte mich aufzuhalten (naja wenn ich so darüber nachdenke bin ich mir nicht sicher ob meine Eltern mir nicht noch etwas Geld zugesteckt hätten, damit ich mir ein Taxi rufen und noch schneller weg sein könnte), kann ich die grauen alten Gebäude die zu meiner Linken und Rechten in den Himmel ragen nicht voneinander unterscheiden.Der Vermieter, wie ich vermute läuft in meine Richtung und ruft empört: " Das hat ja lange genug gedauert. Sie sind fast eine Stunde zu spät!".Nach Luft ringend kommt er neben mir zum stehen. In einer besseren Welt hätte ich etwas zu meiner Verteidigung erwidert und ihn zum Schweigen gebracht. Doch nichts an meinem Leben ist auch nur annähernd gut. Also schaue ich schweigend zu Boden und versuche verzweifelt die Tränen zurückzuhalten, die mir bereits in den Augen brennen. Nicht weinenEs ist nichts passiertEinfach atmenRuhigEin AusEinAusLangsam hebe ich meinen Kopf, darauf bedacht, keinen Blickkontakt herzustellen.Kurz, nur den Bruchteil einer Sekunde streift mein Blick sein faltiges, altes Gesicht und ich sehe, wie er die Stirn runzelt. Ich balle die Hände zu Fäusten, sodass meine Knöchel weiß hervortreten."Können wir?". Fragt der Vermieter mich. Seine Stimme ist keine Spur sanfter geworden.Ich nicke, also setzen wir uns in Bewegung. Während er etwas über die Umgebung erzählt, dem ich nicht sehr angeregt lausche, versuche ich alle noch so kleinen Details in mich aufzusaugen.Ich bin freiEfeupflanzen ranken sich die Hausmauern entlang, als würden sie um die Wette wachsen wollen. In der Ferne höre ich das turbulente Stadtleben. Die hupenden Autos, Busse, Starßenbahnen und die Gespräche der Menschen, die zu einem einzigen riesigen Stimmengewirr verschmelzen.Es ist wundervoll.Zum ersten mal seit langem kann ich wieder Luft holen. Spüren wie der Sauerstoff meine Lungen durchflutet und mich aufweckt, als wäre ich gerade aus einem Traum erwacht. Einem Alptraum, der mich 19 Jahre lang gefangen hielt mit seinen grässlichen Krallen, die sich in meinen Verstand bohrten und drohten mich zu überwältigen. Ich kann ihn immer noch spüren. Er ist noch da und wartet darauf wieder Besitz von mir zu ergreifen. Mich wieder in das bodenlose Loch zu stürzen. Doch jetzt, für den Moment, bin ich glücklich. Zumindest so fern das für mich möglich ist.
Als wir die Wohnung betreten, steigt mir sofort ein muffiger Geruch in die Nase. Ich sehe mich um. Es gibt keinen Flur, durch die Eingangstür gelangt man gleich in die Wohn- Essküche. Zu meiner Rechten steht eine weiße Tür offen und gibt den Blick auf eine kleine Küche frei."So, da wären wir. Da diese Wohnung bereits etwas länger offen steht, sind keinerlei Möbel außer der Küche inkludiert." Ich nicke, unfähig auch nur ein Wort über meine Lippen zu bringen.Ein Glücksgefühl durchflutet mich und lässt mich leise kichern. Die Wohnung ist nicht groß, doch ich weiß ich werde mich hier schnell wohlfühlen. Der Vermieter schüttelt abermals den Kopf und fährt mit seinem Monolog fort: " Diese Tür", er deutet auf die andere Seite des Raumes " führt uns Schlafzimmer. Dahinter liegt das Bad.Ich nicke.Er nickt."Wenn sie bitte einmal hier unterschreiben würden."Er hält mir den Mietvertrag und einen Stift vor die Nase.Hastig greife ich danach, setzte mich auf den Fußboden und setzte meine Unterschrift überall dahin, wo es notwendig ist.GeschafftIch bin bereit, bereit um zu leben.