Hermine.
Ich vermisse dich.
Ich weiß nicht, wo du bist oder ob du noch lebst. Ich hoffe, dass du noch lebst. Der Tagesprophet hätte bestimmt darüber berichtet, wenn du tot wärst, oder?
Du hast gesagt, es wäre deine Schuld, aber das stimmt nicht. Ohne mich wäre es nie so weit gekommen. Ohne mich wären die anderen nie ins Schloss gekommen.
Meine Tante wohnt jetzt hier mit uns. Und Du-weißt-schon-wer auch. Ein Werwolf, Fenrir Greyback, kommt fast täglich her. Andere Todesser auch. Ich bin so gut wie nie alleine hier. Dass ich diesen Brief überhaupt schreibe, ist dumm. Ich kann ihn nicht einmal abschicken, aber andere hier könnten ihn finden.
Hermine. Wo bist du? Was machst du? Ich wette, du bist mit Potter unterwegs.
Ich habe gehört, dass Todesser euch angegriffen haben, als Potter von seinem Haus weggebracht wurde. Warum war er überhaupt da? Seid ihr alle wirklich so blöd, ihn nochmal nach Hause zurückkehren zu lassen? Nicht, dass ich um Potter weinen würde. Aber die Prophezeiung … wir brauchen ihn, oder? Snape hat gesagt, dass ihr euch alle als Potter ausgegeben habt und dass einige von euch verletzt wurden. Warst du auch einer von denen? Geht es dir gut? Lebst du noch?
Ich wünschte, ich könnte diesen Brief wirklich abschicken. Ich wünschte, ich könnte dich warnen. Ich weiß, dass einer von den Weasleys heiraten wird. Ich wette, du gehst dahin. Meine Tante kann es auch kaum abwarten. Wir planen einen Angriff. Ich weiß noch nicht, ob ich mit muss. Ich weiß nicht, ob ich es will. Seid ihr auf einen Angriff vorbereitet? Bestimmt seid ihr das, oder? Ihr müsst einfach damit rechnen, dass etwas passieren wird.
Meinem Vater geht es nicht gut. Kannst du dir das vorstellen? Er ist nicht mehr derselbe, der er mal war, seit er aus Askaban gekommen ist. Er wusste immer, was er wollte. Wie er das erreichen konnte. Wen er brauchte und wen nicht. Du weißt ja, wie er immer war. Ich vermute, du hast ihn gehasst. Er ist einfach nicht mehr derselbe. Er hat Angst in seinem eigenen Haus. Ich habe gestern ein Gespräch zwischen ihm und meiner Mutter belauscht.
„Wir können froh sein, dass Severus uns geholfen hat!“, hat meine Mutter gesagt. Sie war wütend, auch wenn ich nicht weiß, warum.
„Severus hat uns nicht geholfen. Er hat getan, was unser Lord von ihm wollte. Bilde dir bloß nicht ein, dass er irgendetwas für uns tun würde“, hat mein Vater erwidert. Er klang müde.
„Du bist blind in deinem Hass auf ihn. Trägst du ihm nach, dass er jetzt der neue Liebling vom Dunklen Lord ist? Hast du vergessen, dass er den Schwur geschworen hat, um uns zu helfen? Um Draco zu helfen?“
Mein Vater hat nur gelacht: „Er hat das nicht für uns getan. Er hat es getan, weil Bella ihn verdächtigt hat. Es gab keinen Grund für ihn, Dumbledore nicht zu töten, falls er es tun muss, also hat er den Schwur genutzt, um Bellas Vertrauen zurückzugewinnen. Du kennst deine Schwester besser als alle anderen. Du weißt, wie sie immer versucht, andere bei unserem Lord anzuschwärzen. Selbst jemand wie Severus hat das irgendwann über.“
Mutter blieb stur: „Er hat das für uns getan. Für Draco. Warum willst du das nicht sehen?“
„Bei Merlin, Weib! Du wirst diese Familie nicht in den Abgrund stürzen mit deiner naiven Art. Du wirst nicht mit ihm reden. Ich verbiete es dir.“
Danach ist Mutter einfach aus dem Zimmer gestürmt. Ich habe meine Eltern noch nie streiten hören. Und ich weiß nicht einmal, worum es ging. Ich kann nur ahnen, was der Auslöser war. Mutter will offensichtlich mit Snape über irgendetwas reden, aber über was? Und Vater ist dagegen. Ich kann es ihm nicht verübeln. Ja, Snape hat mir geholfen, ich wäre vermutlich tot ohne ihn. Aber irgendetwas stört mich an ihm. Er ist falsch. Er ist ein schleimiger Kriecher, der anderen einen Dolch in den Rücken rammen würde, wenn er daraus einen Vorteil ziehen könnte. Ich bezweifle, dass irgendjemand anderes es geschafft hätte, das Vertrauen von Dumbledore zu gewinnen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er das geschafft hat. Oder war Dumbledore am Ende doch nur ein seniler alter Mann?
Verzweifelt fuhr Draco sich durch seine Haare. Er hatte nie viel von Dumbledore gehalten, aber trotzdem immer geglaubt, dass der Schulleiter stets wusste, was er tat. War Snape wirklich so genial, dass er einen solchen Mann täuschen konnte? Er selbst hatte Hermine immer und immer wieder gesagt, dass Snape ein überzeugter Todesser war, dass sie ihm nicht glauben durfte. Doch erst, als Snape an seiner Stelle den Todesfluch gesprochen hatte, hatte er selbst akzeptiert, dass er die Wahrheit schon lange gekannt hatte. Ein kleiner Teil von ihm hatte bis zum Schluss gehofft, dass Hermine Recht hatte und Snape in Wirklichkeit für den Orden arbeitete.
Er legte die Schreibfeder bei Seite und wie schon zuvor nahm das Pergament, auf das er den Brief an Hermine geschrieben hatte, und warf es in die Flammen. Während er dabei zusah, wie das Feuer seine Worte Stück für Stück zerstörte, kroch die Panik wieder in ihm hoch. Die Worte, die er an Hermine schrieb, waren ein schwacher Ersatz für ihre Gespräche.
***
Zitternd saß Hermine auf ihrem Bett im Grimmauldplatz. Harry hatte ihr von seiner Vision erzählt, in der Draco von Voldemort dazu gezwungen wurde, Thorfinn Rowle dafür zu bestrafen, dass er es nicht geschafft hatte, sie drei zu schnappen. Ihr Herz zog sich zusammen bei dem Gedanken daran, dass Draco schon wieder zu solchen Grausamkeiten gezwungen wurde. Doch gleichzeitig spürte sie auch so etwas wie Erleichterung. Draco wusste jetzt zumindest, dass sie zusammen mit Harry und Ron hatte entkommen können. Und sie wusste, dass Draco noch am Leben war.
Erschöpft ließ sie sich auf ihrem Bett zurücksinken. So viel war geschehen heute. Der Zaubereiminister war tot, Voldemort hatte offiziell die Macht ergriffen. Obwohl sie Scrimgeour nicht gemocht hatte, hatte er diesen Tod nicht verdient. Er hatte versucht, Harry für das Ministerium auszunutzen, und er hatte illegaler Weise das Testament von Dumbledore zurückgehalten, um ihnen ihre Erbstücke vorzuenthalten. Aber er war ein Gegner Voldemorts gewesen und war der Überzeugung gewesen, im Sinne der Bevölkerung zu handeln. Dafür hatte er sterben müssen.
Sie hatte keine Zeit, müde zu sein. Ron und Harry schliefen bereits, aber sie hatte noch Arbeit vor sich. Sie hatte den Jungs versprochen, dass sie einen Patronus in den Fuchsbau schicken würde, um eine Botschaft zu überbringen. Obwohl sie sich selbstsicher gegeben hatte, wusste sie jedoch nicht, ob sie tatsächlich in der Lage sein würde, einen Patronus auf diese Weise zu nutzen. Sie hatte die letzten Tage vor der Hochzeit heimlich mit Remus geübt, um diesen Spruch zu meistern, aber es bis zum Schluss nicht zuverlässig hinbekommen. Das größte Problem war, dass ihr Patronus auf dem Weg zu der Person, für die die Nachricht bestimmt war, sich manchmal auflöste.
Entschlossen schüttelte sie den Kopf, um die negativen Gedanken zu verbannen. Sie hatte Harry und Ron versprochen, dass sie dem Orden Bescheid geben würde, also würde sie das jetzt auch tun. Konzentriert rief sie sich ihre glückliche Erinnerung ins Gedächtnis und ließ den Otter vor sich erscheinen. Erwartungsvoll schaute die leuchtende Figur sie an.
„Wir sind in Sicherheit. Für den Augenblick bleiben wir Tatzes Haus.“
Kurz überlegte sie, ob sie noch mehr Informationen in die Nachricht tun sollte, doch sie entschied sich dagegen. Auch wenn der sprechende Patronus ein sicheres Kommunikationsmittel war, konnte sie nicht dafür garantieren, dass nicht die falschen Ohren bei der Übergabe der Nachricht dabei sein würden.
Mit einem Schwung ihres Zauberstabes schickte sie den Otter auf die Reise. Sie würde wach bleiben müssen, bis die Nachricht überbracht wurde, andernfalls würde der Otter sich einfach auflösen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, die Verbindung zu ihrem Patronus zu spüren, obwohl sie ihn nicht mehr sehen konnte.
Ihre Gedanken wanderten zu Draco. Obwohl die letzten Tage hektisch gewesen waren, hatte sie ihn doch in jeder Sekunde vermisst. Tatsächlich hatte sie immer wieder darüber nachgedacht, den sprechenden Patronus zu nutzen, um ihm eine Nachricht zukommen zu lassen. Doch spätestens jetzt, nachdem Harry in seiner Vision gesehen hatte, dass Voldemort im Haus von Dracos Eltern lebte oder zumindest oft anwesend war, musste sie einsehen, dass jeder Versuch töricht wäre. Sie würde ihn nur in Gefahr bringen, wenn ihr Patronus im falschen Moment vor ihm auftauchen würde.
Ein leichtes Prickeln zeigte ihr, dass ihre Nachricht überbracht und ihr Patronus damit aufgelöst worden war. Erleichtert schloss sie die Augen. Immerhin etwas hatte heute funktioniert. Obwohl sie sich gut vorbereitet hatte, war zu viel schief gelaufen. Wie hatten Antonin Dolohow und Thorfinn Rowle sie in dem Restaurant finden können? Harry sollte die Spur nicht mehr auf sich tragen und sie und Ron hatten sie schon seit Monaten nicht mehr.
Wieder schüttelte sie den Kopf. Es gab keine Lösung für dieses Rätsel, zumindest im Moment nicht. Sie brauchte Schlaf, damit sie morgen gemeinsam beraten konnten, wie sie weiter vorgehen wollten. Wo sollten sie mit ihrer Suche anfangen?
***
Schwer atmend ließ Draco seinen Stab sinken. Immer wieder hatte der Dunkle Lord ihn angestachelt, Rowle zu foltern. Ihm war übel und er fühlte sich ausgelaugt, vor allem aber hatte er panische Angst. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er immense Erleichterung und Freude empfunden, als Dolohow und Rowle berichtet hatten, dass es ihnen nicht gelungen war, Harry Potter zu stellen. Für einen Bruchteil einer Sekunde hatte er seine mühsam errichtete Okklumentik-Barriere fallen lassen. Was, wenn der Dunkle Lord diesen kurzen Augenblick genutzt hatte, um in seine Gedanken zu sehen?
Rowles massige Gestalt am Boden regte sich nicht mehr. Er hatte offenbar das Bewusstsein verloren, und Draco war dankbar dafür. Zumindest musste er ihn jetzt nicht länger foltern.
„Gut gemacht, Draco, sehr gut gemacht“, zischte der Dunkle Lord und legte ihm einen Arm um die Schultern: „Du bist wie dein Vater früher: so hungrig, so bereit. Das gefällt mir.“
Er nickte bloß. Er wusste, wenn er jetzt den Mund aufmachen und etwas sagen würde, wäre seine Stimme schwach und zittrig. Er würde dem Dunklen Lord verraten, wie mitgenommen er in Wirklichkeit von der Folter war. Innerlich betete Draco, dass der Zauberer ihn schnell wieder gehen ließ.
„Aber zumindest etwas Gutes ist dieser ganzen Situation entsprungen, nicht wahr, Draco?“, fuhr der Dunkle Lord fort, den Arm noch immer um seine Schulter gelegt.
Draco schwieg noch immer in der Hoffnung, dass keine Antwort erwartet wurde. Er wusste inzwischen, wie gerne Voldemort Unterhaltungen mit sich selbst führte, um seine Intelligenz vor seinen Anhängern zur Schau zu stellen.
„Potter ist tatsächlich so berechenbar, wie ich es vermutet habe“, sagte der Dunkle Lord mit einem bösen Grinsen: „Er hält sich für besonders mutig, meinen Namen in den Mund zu nehmen. Genauso wie er sich für besonders nobel hält, nur den Expelliarmus in Duellen zu nutzen. Seine Arroganz wird ihn zu Fall bringen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er erneut meinen Namen in den Mund nimmt, und dann werde ich fähige Leute schicken, um ihn zu stellen.“
Grimmig nickte Draco. Der Dunkle Lord hatte Recht mit seinen Äußerungen. Potter war einfach ein Gryffindor durch und durch. Wenn er erstmal glaubt, im Recht zu sein, dann ließ er sich auch von dem offensichtlichsten Holzweg nicht mehr abbringen. Er hatte diese Eigenschaft an ihm schon zuvor gehasst, gerade weil die Lehrer ihn stets dafür zu belohnen schienen. Aber jetzt war es nicht nur lächerlich, sondern lebensbedrohlich, und das nicht nur für ihn selbst, sondern für so viele andere Hexen und Zauberer in England. Er konnte nur hoffen, dass Hermine klug genug war, den Zusammenhang zwischen dem Auftauchen von Rowle und Dolohow und dem Aussprechen des Namens zu sehen. Vielleicht konnte sie etwas Verstand in Potters Holzkopf hämmern.