Hermine hatte ein schlechtes Gewissen dabei, den Tarnumhang von Harry zu stehlen und ohne Ankündigung zu verschwinden. Sie hatte eine kurze Notiz in der Küche hinterlassen, falls Ron und Harry wider Erwarten aufwachen würden. Ein Teil von ihr war entsetzt darüber, dass sie die beiden absichtlich bis in die frühen Morgenstunden mit Gesprächen über ihr weiteres Vorgehen wachgehalten hatte, nur um den Abend für sich alleine zu haben. Nach der kurzen Nacht waren sie alle mehr als übermüdet geworden, und so hatten sich weder Ron noch Harry darüber beschwert, als sie vorschlug, heute sehr früh ins Bett zu gehen. Sie betrog ihre Freunde.
Grimmig starrte sie in den Spiegel in ihrem Zimmer. Sie hatte alles genau geplant, sie ging kein Risiko ein. Sie gefährdete ihre Mission nicht. Sie würde einfach nur kurz schauen. Ein Blick genügte, damit sie wusste, wie es ihm ging. Dann würde sie zurück apparieren, ohne Probleme, ohne dass die beiden es bemerken würden. Das ganze würde nicht länger als eine halbe Stunde dauern.
Entschlossen warf sie sich den Tarnumhang über und trat aus dem Haus. Sie konzentrierte sich auf den Punkt und schon war sie mit einem Krachen verschwunden.
Wankend kam sie am Apparier-Punkt in Hogsmeade an. Der Tarnumhang bedeckte sie vollständig, dennoch schaute sie sich in alle Richtungen um. Sie konnte nicht wissen, ob nicht magische Barrieren errichtet worden waren, die die falschen Leute alarmieren würden, falls jemand hierher apparierte. Als nach einigen Minuten noch immer niemand erschienen war, atmete sie langsam aus. Alles war in Ordnung.
In der Dunkelheit des Abends hastete Hermine zum Bahnhof in Hogsmeade. Der Hogwarts-Express sollte jede Minute ankommen. Sie würde einfach nur einen Blick auf Draco werfen und dann wieder verschwinden.
Hermine hatte sich beinahe ein wenig schuldig gefühlt, als sie nicht mit gleichem Entsetzen wir Ron und Harry auf die Nachricht reagiert hatte, dass Snape nun Schulleiter von Hogwarts war. In ihr war in dem Moment sofort der Gedanke entstanden, dass das bedeutete, dass Draco zu seinem siebten Jahr nach Hogwarts zurückkehren konnte. Wenn Snape, der Mörder von Dumbledore, als Schulleiter akzeptiert wurde, wäre es gewiss kein Problem, dass Draco als Schüler zurückkehrte.
Sie wartete am äußersten Ende des Bahnsteigs auf den Zug. Am anderen Ende konnte sie Hagrid stehen sehen. Die Versuchung war groß, sich ihm kurz erkennen zu geben, doch sie wusste, das durfte sie nicht. Sie liebte Hagrid, aber sie hatte selbst mehr als einmal bewusst ausgenutzt, dass er schlecht darin war, ein Geheimnis zu behalten. Das Risiko war zu groß, dass er in einem unbedachten Moment der falschen Person gegenüber fallen ließ, dass er sie gesehen hatte.
Endlich sah sie in der Ferne den Dampf der Lokomotive, und kurz darauf kam der Hogwarts-Express mit metallisch schreienden Rädern zum Stehen. Allgemeiner Trubel brach aus, während die Schülerinnen und Schüler aus den Wagons strömten, und für einen kurzen Moment hatte Hermine das Gefühl, dass die Welt noch normal und in Ordnung war. Die jüngeren Schüler wirkten fröhlich wie eh und je. Nur einige von den älteren Jahrgängen sahen so aus, als wären sie nicht sicher, ob sie wirklich hier sein wollten. Und es waren weniger als zuvor, wie sie schnell feststellte. Alle muggelgeborenen Kinder durften unter Snape nicht länger nach Hogwarts gehen.
Angestrengt starrte sie in die Menge. Den platinblonden Schopf von Draco sollte sie schwerlich verpassen können, doch noch immer hatte sie ihn nicht erspäht. War er am Ende doch nicht mit zurück nach Hogwarts gekommen? Ihr Herz sank. Sie hatte sich so darauf gefreut, ihn zumindest aus der Ferne zu sehen.
Sie beobachtete, wie Hagrid die Erstklässler um sich scharte und dann mit ihnen hinab zu den Booten stieg, die sie über den See zum Schloss bringen würden. Die anderen Schüler steuerten als ein großer Pulk auf die wartenden Kutschen zu. Als auch die letzte Kutsche davon rollte, gab Hermine auf. Draco war nicht gekommen.
Wütend auf sich selbst und auf ihn blickte sie noch einen Moment länger zum Schloss. Sie vermisste die Schule. Sie vermisste Hogwarts mit seinen beweglichen Treppen und den vielen, vielen Gemälden, die immer für eine merkwürdige Unterhaltung bereit waren. Sie vermisste die Lehrer, die Unterrichtsstunden, ihr Bett im Schlafsaal.
Das Quietschen einer Zugtür riss sie aus ihren trübsinnigen Gedanken. Da, vollkommen alleine, stand plötzlich Draco Malfoy.
Erstarrte blickte Hermine zu ihm rüber. Sie waren alleine hier. Nur das Zugpersonal war noch da, doch der Zug würde gleich wieder fahren. Niemand würde sie sehen. Ihr Herz machte einen Satz bei dem Gedanken, dass sie ihn vielleicht nicht nur sehen, sondern auch mit ihm reden konnte.
Auf leisen Sohlen schlich sie sich an ihn heran. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Dame mit dem Süßigkeitenwagen durch alle Wagons durchging. Dann, als sie vorne bei der Lok angekommen war, erklang ein helles Tröten, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung.
Sie sah, wie Draco mit einem Seufzen seine Koffer packte. Warum war er alleine zurück geblieben? Wollte er jetzt den ganzen Weg hoch zum Schloss laufen mit seinen Koffern?
Es war Wahnsinn, was sie vorhatte, doch nichts konnte sie jetzt noch davon abhalten. Mit klopfendem Herzen und zitternden Händen warf sie den Tarnumhang ab.
Dracos Reaktion war beinahe komisch. Er stolperte beinahe über seine eigenen Füße, ließ seine Koffer fallen und konnte gerade noch das Gleichgewicht halten, während sich sein Gesicht zu einer Maske aus Schock verzog: „Hermine?"
„Hey", flüsterte sie mit einem schüchternen Lächeln, „ich dachte, ich sag mal Hallo."
Für einen Moment starrte er sie einfach nur an. In seinen Augen stand Schock und Panik, aber kein Zeichen von Freude oder gar Zuneigung war zu erkennen. Unsicher begann Hermine sich zu fragen, ob die Wochen seit Dumbledores Tod etwas an seinen Gefühlen geändert hatten.
Vorsichtig trat sie einen Schritt näher und griff nach seiner Hand: „Soll ich besser wieder gehen?"
Als hätte ihre Berührung ihn zurück in die Realität gebracht, erwachte Draco plötzlich zum Leben. Mit einer einzigen Bewegung zog er sie an sich heran, schloss seine Arme um ihren Körper und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Erleichtert und mit klopfendem Herzen erwiderte Hermine die Umarmung.
„Hermine", flüsterte er, das Gesicht noch immer in ihren Locken vergraben, „Hermine. Ich habe dich so vermisst. Ich kann dir nicht sagen, wie sehr ich dich vermisst habe. Du bist hier."
Sie hörte die Verzweiflung in seiner Stimme und meinte, ihr Herz müsse brechen. Sie fühlte, was er fühlte. Mit brüchiger Stimme erwiderte sie: „Ja, ich bin hier. Ich habe dich auch vermisst, Draco."
Lange Momente blieben sie ineinander verschlungen, dann, endlich, rückte Draco ein Stück von ihr ab, gerade genug, um sie küssen zu können. Wie eine Ertrinkende erwiderte sie den Kuss. Sie verlor sich in dem Gefühl seiner weichen Lippen, in der warmen Liebkosung seiner Zunge, in dem Geruch seines Körpers. Sie liebte ihn und sie wollte ihn nicht verlieren.
Nach Luft ringend lösten sie sich schließlich voneinander. Dracos Augen glitzerten, doch seine Stimme klang besorgt, als er fragte: „Warum bist du hier?"
„Ich wollte dich sehen", gab sie ehrlich zu, „ich wollte dich unbedingt sehen. Als ich gelesen habe, dass Snape Schulleiter wird, habe ich mir gedacht, dass du doch vielleicht hier bist. Ich musste es einfach versuchen."
Sachte legte er ihr eine Hand auf die Wange: „Du bist wahnsinnig, Hermine Granger. Weißt du eigentlich, wie gefährlich es hier ist? Weißt du, dass alle Todesser nach euch suchen?"
Ein kurzes Grinsen huschte über ihre Lippen: „Ja, das weiß ich durchaus. Zwei Todesser haben uns ja auch gefunden, wie du weißt."
Überraschung spiegelte sich in Dracos Zügen: „Woher weißt du, dass ich das weiß?"
Ertappt biss Hermine sich auf die Lippen. Konnte sie Draco vertrauen, dass er ein Geheimnis behalten würde? Sofort musste sie über sich selbst den Kopf schütteln. Wenn er keine Geheimnisse behalten konnte, würden sie nicht hier stehen. Langsam erklärte sie: „Harry und Du-weißt-schon-wer haben so eine ... Verbindung. Harry hat deswegen Okklumentik gelernt, aber manchmal sieht er trotzdem, was Du-weißt-schon-wer gerade macht. Er hat gesehen, wie du ... wie du Rowle gefoltert hast."
Dracos Schultern sanken nach unten: „Ja, das habe ich. Aber ich wollte nicht, Hermine! Er hat mich gezwungen, ich wollte das nicht."
Beruhigend fuhr sie ihm über seine Wange: „Ich weiß, Draco, ich weiß. Ich glaube, sogar Harry ahnt, dass du nicht glücklich darüber bist. Er meinte, dass du krank ausgesehen hast da."
Er nickte: „Seine Anwesenheit macht mich krank. Er wohnt jetzt praktisch bei uns. Und Tante Bellatrix auch. Bei Merlin, sie ist so wahnsinnig. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass sie die Schwester meiner Mutter ist. Sie saß lange in Askaban, vielleicht liegt es daran, aber sie ist einfach ... sie liebt es, andere zu foltern. Und sie ... Hermine, ich glaube, sie liebt Du-weißt-schon-wen."
Hermine erschauderte. Der Gedanke, dass irgendein Mensch irgendetwas Liebenswertes in diesem Monster sehen konnte, war abstoßend. Sie erinnerte sich nur zu gut an die wahnsinnige Hexe. Sie war im Kampf im Ministerium dabei gewesen, und wenn sie nicht gewesen wäre, würde Sirius heute noch leben.
„Hermine!", flüsterte Draco plötzlich eindringlich und zog damit ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich: „Mir fällt gerade ein ... es ist so gut, dass du hier bist. Wisst ihr, wie Rowle und Dolohow euch gefunden haben?"
Sie schüttelte den Kopf: „Nein. Ich habe vermutet, dass es mit der Spur zusammen hängt, dass sie irgendwie getrickst haben und Harry doch noch nicht frei davon ist, aber ..."
„Nein, das ist es nicht. Es ist sein Name!", erklärte Draco hastig: „Wenn man seinen Namen ausspricht, wird er alarmiert. Er weiß, dass nur Potter oder ein paar seiner Anhänger es wagen, seinen Namen auszuprechen. Er nutzt das, um euch zu finden."
Hermines Augen wurden groß: „Also hatte Ron Recht. Bei Merlin."
„Weasley?"
Sie grinste schief: „Naja, er hat das so nicht ausgedrückt, aber er meinte, er hat das Gefühl, dass es wie ein Fluch ist, seinen Namen in den Mund zu nehmen, also hat er es Harry verboten. Die beiden streiten deswegen immer wieder, weil Harry so besessen von dem Motto ist, dass Furcht vor dem Namen nur die Furcht vor der Sache vergrößert. Aber er sagt ihn nicht mehr, seit Ron da so vehement drauf besteht."
Sie konnte sehen, dass Draco ihr beinahe nicht glauben wollte: „Ausgerechnet Weasley. Dass der Holzkopf tatsächlich mal zu etwas zu gebrauchen ist. Wer hätte das gedacht?"
„Hey!", protestierte sie und schlug ihm spielerisch gegen die Brust: „Ron ist nicht immer der schnellste, aber manchmal hat er echt gute Ideen. Seine Intuition ist wirklich beeindruckend."
Gespielt misstrauisch hob Draco eine Augenbraue: „Muss ich mir Sorgen machen?"
„Worum?", fragte Hermine, doch sofort verstand sie die Anspielung. Errötend schüttelte sie den Kopf: „Bei Merlin, nein! Ron und ich? Ugh, nein! Ron und Harry sind wie Brüder für mich, das wäre ... nein!"
Lachen zog Draco sie wieder näher an sich: „Ich weiß doch. Aber du kannst nicht abstreiten, dass du vor einem Jahr noch anders gedacht hast."
„Vor einem Jahr wusste ich ja auch noch nicht, was für ein heißer Kerl du bist", gab Hermine grinsend zurück und hob provozierend beide Augenbrauen.
Statt einer Antwort zog Draco sie in einen weiteren Kuss. Zufrieden seufzend schloss Hermine die Augen und gab sich ganz dem Gefühl hin. Sie ahnte, dass sie Draco so schnell nicht wieder sehen würde, also musste sie das Beste aus der Situation machen. Wenn er erstmal im Schloss war, hatten sie keine Möglichkeit mehr, miteinander zu kommunizieren. Und ob sie es erneut schaffen würde, den Tarnumhang zu stehlen und sich wegzuschleichen, ohne dass Harry oder Ron es bemerkten, war ebenfalls fraglich.
„Du solltest langsam hoch", murmelte sie traurig.
„Aber ich will nicht."
Für ein paar Herzschläge war Hermine versucht, ihn zu fragen, ob er nicht lieber mit ihr kommen wollte. Ob er sich nicht ihr und den Jungs anschließen wollte, um die Horkruxe zu finden. Doch dann besann sie sich auf seine Worte. Wenn er die Seiten wechselte, würde das nicht nur sein Leben schwer machen, sondern auch seine Eltern in Gefahr bringen. Es wäre unfair von ihr, ihn vor diese Wahl zu stellen, also ließ sie es.
„Sei nicht dumm, Draco", wisperte sie: „Du bringst dich nur selbst in Gefahr, wenn du Misstrauen auf dich ziehst. Und ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass du in Gefahr bist."
„Was meinst du, wie es mir geht?", fuhr er sie hitzig an, doch sofort ruderte er zurück: „Entschuldige, ich wollte dich nicht anschreien. Aber ich meine es ernst. Ich mache mir Sorgen."
So selbstbewusst wie möglich lächelte sie ihn an: „Das musst du nicht. Harry ist der Auserwählte. Ich bin klug. Und Ron ist ... naja, Ron. Uns passiert schon nichts, verlass dich drauf."
Zweifel stand Draco ins Gesicht geschrieben, doch er nickte. Mit einem traurigen Blick nahm er seine Koffer, presste ihr einen letzten Kuss auf die Wange, und schritt dann den Weg hoch zum Schluss. Hermine blieb, jetzt wieder unsichtbar unter dem Tarnumhang, am Bahnsteig, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. Ihr Herz war schwer, doch sie war entschlossener denn je. Sie würden die Horkruxe zerstören und dann würden sie Voldemort ein für alle Mal erledigen.
Und dann konnte sie endlich mit Draco zusammen und glücklich sein.