Das Entsetzen brach nicht ab. Sie waren in Sicherheit und außerhalb der Reichweite von Voldemort, aber Harry lag noch immer zuckend und schreiend am Boden. Egal, was Hermine versuchte, sie konnte nicht zu ihm durchdringen.
Sie lenkte sich damit ab, das Zelt aufzubauen und ein Feuer zu entzünden, um ihre durchgefrorenen Körper wieder durchzuwärmen. Harry lag auf seinem Bett, die Augen weit aufgerissen, aber er nahm nichts wahr. Händeringend saß sie neben ihm, hielt seinen Kopf fest, damit er sich nicht selbst weh tat, während er haltlos zitterte und zuckte.
Immer wieder fiel ihr Blick auf den Zauberstab am Boden. Sie wusste nicht, wie es passiert war, aber Harrys Stab war zerbrochen. Irgendwie musste sie ihn geknickt haben, als sie Harry gepackt und fortgezerrt hatte. Verzweiflung und Angst hielten sie fest in ihrem Griff. Nicht nur, dass ihnen nun ein Zauberstab fehlte, nein, Harrys Stab war sein Schutz gegen Voldemort gewesen. Mit den gleichen Kernen war es Voldemort nie möglich gewesen, Harry zu besiegen. Der Schutz war nun zerbrochen.
Tränen der Wut und Verzweiflung bahnten sich ihren Weg. An einem einzigen Tag war jegliche Hoffnung, die sie jemals gehabt hatten, zerschmettert worden. Ihr war kalt, sie hatten wieder kein Essen mehr, und sie wusste nicht, was mit Harry nicht stimmte. Sie ahnte, dass es irgendetwas mit seiner direkten Nähe zu Voldemort zu tun hatte, doch sie wusste es einfach nicht.
Voldemort. Sein Horkrux!
Fluchend schlug Hermine sich gegen die Stirn. Harry trug immer noch das Medaillon um den Hals. Wie hatte sie das vergessen können? Vorsichtig öffnete sie Harrys Jacke, um ihm das Medaillon abnehmen zu können. Ihre Vermutung stellte sich als richtig heraus: Das Medaillon hatte sich durch seine Kleidung gefressen und klebte förmlich auf seiner Brust, wo es einen hässlichen roten Fleck hinterließ. Egal, wie vorsichtig sie versuchte, es von der Haut zu entfernen, es war unmöglich, es zu lösen, ohne Harrys Haut tief aufzureißen.
Ihr Mund verzog sich zu einer grimmigen Linie. Sie würde ihm das Horkrux abnehmen, koste es, was es wolle. Sie zog ihren Zauberstab und machte sich daran, Millimeter um Millimeter herauszuschneiden. So sehr sie sich auch bemühte, das Zittern und Zucken von Harry machte es ihr unmöglich, ihn dabei nicht zu verletzen.
Als das Horkrux schließlich endgültig gelöst war, hinterließ es einen großen, roten Fleck, an dem Haut fehlte und ein wenig Blut aus der Wunde trat. Hastig stopfte sie es in ihren Beutel.
Nur wenige Minuten später hörte Harry endlich auf, haltlos zu zittern. Stück für Stück schien er wieder bei sich selbst anzukommen, bis schließlich seine Augen zufielen und er ganz verstummte. Erleichterung machte sich in Hermine breit.
Sie hatte sich gerade auf ihrem eigenen Bett niedergelassen, da schrie Harry erneut auf. Mit einem Satz war sie wieder an seiner Seite und hielt seine Hand.
Mit aufgerissenen Augen starrte er sie an: „Er weiß es! Er hat ihn erkannt!"
Beruhigend legte sie ihm eine Hand auf die Wange: „Alles ist gut, Harry, beruhige dich. Du bist in Sicherheit, alles ist gut."
Langsam klärte sich sein Blick. Tief atmete Hermine ein, hielt sein Gesicht mit beiden Händen fest, und schaute ihn direkt an: „Alles ist gut."
„Hermine", sagte er mit brechender Stimme: „Wie geht es dir?"
Sie zwang sich zu einem ermunternden Lächeln: „Mir geht es gut."
Sachte umschloss er ihre Handgelenke und entferne ihre Hände von seinem Gesicht. Unentschlossen, was sie davon halten sollte, ließ sie ihre Arme in ihren Schoß fallen.
„Er hat ein Bild gesehen", flüsterte Harry, „und er hat den Mann darauf erkannt. Ich auch. Das war der Mann aus einem Traum, den ich hatte. Aus einem Traum von Du-weißt-schon-wem. Das war der Mann, der Gregorowitsch bestohlen hatte. Jetzt weiß er, wer das ist. Ich weiß nicht, warum er es wissen will oder warum er ihn sucht, aber jetzt weiß er, wer er ist!"
Verwirrt schüttelte Hermine den Kopf: „Ein Bild? Was meinst du? Was für ein bild hat er gesehen?"
Mehrmals fuhr Harry sich mit beiden Händen durch sein wirres Haar: „Ich weiß es auch nicht genau. Im Schlafzimmer, da lag ein Bild am Boden, es muss runtergefallen sein, denn der Rahmen war zersprungen. Ein Bild von Dumbledore, als er jünger war, und einem anderen Mann."
Hermines Augen wurden groß. Das war das Bild, das sie in der Hand gehabt hatte. Das Bild, das sie im Wohnzimmer von Bagshot gefunden hatte und in der Panik des Augenblicks nicht zurückgestellt hatte. Kleinlaut erklärte sie: „Ich habe das Bild dort fallen lassen. Der Mann da drauf, das war derselbe, der in Rita Kimmkorns Buch über Dumbledore vorkommt. Weißt du, der Artikel im Tagespropheten, den wir vor vielen Wochen gelesen haben, hatte das Bild abgedruckt."
Harrys Blick richtete sich auf sie: „Warum hast du es fallen lassen?"
Hilflos zuckte sie mit den Schultern: „Ich weiß auch nicht, es ging einfach alles so schnell und irgendwie hatte ich es noch in der Hand und dann habe ich es fallen lassen."
Sie sah, wie Wut in Harrys Augen aufloderte, doch er sagte nichts. Stattdessen stand er vom Bett auf und griff in seine Jacke: „Wo ist mein Stab?"
Sie wusste, dass sie alles verdorben hatte. Nicht nur, dass Voldemort jetzt anscheinend irgendeine wichtige Information bekommen hatte, weil sie dumm gewesen war. Sie hatte Harrys Zauberstab zerbrochen. Weinend deutete sie auf den Stab, der am Boden neben der Feuerstelle lag.
„Er ist ... kaputt?", fragte Harry fassungslos, während er die Stücke aufhob.
Sie konnte nur nicken.
„Wie ist das passiert? Wieso ist er kaputt?"
„Ich musste dich da rausholen, Harry. Du warst wie weggetreten und diese Schlange hat dich angegriffen, und Du-weißt-schon-wer kam ins Haus. Wir mussten da weg. Also hab ich dich gepackt und weggezogen und einen Levicorpus genutzt, um dich aus der Reichweite der Schlange zu bringen. Ich glaube, dabei ist er irgendwie entzweigebrochen. Es tut mir so leid, Harry."
„Repariere ihn!", befahl Harry tonlos: „Los!"
„Harry", wollte sie einwenden, doch er brachte sie mit einem Blick zum Schweigen. Schwach wisperte sie: „Reparo!", und der Stab fügte sich wieder zu einem Stück zusammen. Hermine wusste jedoch, dass das nur kosmetisch war. Man konnte einen Zauberstab nicht einfach so reparieren. Das hatten sie damals schon schmerzlich erfahren, als Rons Zauberstab von der Peitschenden Weide zerstört worden war.
Harry probierte ein paar Sprüche aus, doch die Reaktion des Stabes war schwach. Er war nutzlos.
„Es tut mir leid!", flüsterte Hermine erneut, doch Harry hörte ihr schon nicht mehr zu. Ohne sie noch einmal anzuschauen, verließ er das Zelt und stapfte durch den Schnee davon.
Weinend blieb sie zurück. Sie hatte alles verdorben. Vielleicht wäre es besser, wenn sie statt Ron gegangen war. Sie war so nutzlos auf dieser Mission. Sie hatte Dumbledores Tod zu verantworten. Sie war schuld, dass Ron weg war. Und jetzt hatte sie Harrys Stab zerstört und Voldemort geholfen.
Sie schlang die Arme um ihre Knie und vergrub ihr Gesicht in ihren Beinen. Es war Weihnachten, aber sie hatte sich noch nie ferner von Liebe und Geborgenheit gefühlt wie jetzt gerade. Sie waren weiter vom Sieg über Voldemort entfernt denn je. Was sollte sie mit den Märchen von Beedle dem Barden? Was hatte Dumbledore sich dabei gedacht, sie so unvorbereitet auf diese Suche zu schicken?
Schluchzend schaute sie sich im Zelt um. Da lag das Buch, das sie aus dem Haus von Bathilda Bagshot mitgenommen hatte. Das Buch von Rita Kimmkorn über Dumbledore. Sie ahnte, dass nichts Gutes über ihren ehemaligen Schulleiter darin stehen konnte, aber es war ihre letzte Hoffnung. Vielleicht stand irgendetwas darin, was als Hinweis dienen könnte. Irgendwelche unbekannten Freunde, an die sie sich wenden könnten. Irgendetwas.
Sie war noch in das Buch vertieft, als Harry schließlich zurückkam. Sie klappte das Buch zu und stand auf, um mit ihm zu reden, doch sein Blick fiel sofort auf den Titel des Buches.
„Wo hast du das her?", verlangte er zu wissen.
„Es war im Haus von Bathilda Bagshot. Ich hatte es schon in die Tasche gesteckt, ehe der Kampf ausgebrochen ist."
Ohne sie anzuschauen, setzte Harry sich auf den Boden und schlug es auf. Seine Augen wanderten über das Inhaltsverzeichnis, bis er bei dem Kapitel angekommen war, dessen Auszug im Tagespropheten gedruckt worden war. Er schlug die Seite auf. Das Bild, welches Voldemort gesehen hatte, starrte ihnen entgegen.
„Gellert Grindlewald", hauchte Harry entsetzt, „das ist Gellert Grindlewald. Zusammen mit Dumbledore."
Überfordert sank Hermine neben ihn auf den Boden. Sie hatte das Kapitel bereits gelesen und wusste, was darin stand. Selbst wenn sie annahm, dass Kimmkorn einiges verzerrt dargestellt hatte, konnte sie nicht leugnen, dass Dumbledores Freundschaft zu Grindlewald ihn in einem sehr schlechten Licht erscheinen ließ. Das war das letzte, was Harry gerade gebrauchen konnte.
„Ich glaube nicht, dass du das lesen solltest", setzte sie an, doch Harry schnitt ihr scharf das Wort ab.
„Du bist nicht meine Mutter, Hermine! Hör auf, ständig sagen zu wollen, was ich tun und lassen soll!"
Entsetzt schnappte sie nach Luft. Harry war offensichtlich immer noch wütend wegen des Zauberstabs, und anscheinend richtete sich seine Wut jetzt gegen sie. Sie spürte, wie erneut Tränen in ihren Augen brannten, doch sie war nicht bereit, sie Harry zu zeigen. Leise zog sie sich auf ihr Bett zurück, rollte ihre Decke aus und vergrub sich tief darin. Sollte er alleine mit seinen neuen Erkenntnissen über Dumbledore klar kommen.
***
Es war tief in der Nacht, als Hermine aus einem Albtraum aufschreckte. Orientierungslos blickte sie sich um. Harry war nicht da. Er hätte eigentlich Wache halten sollen, aber er war nirgends zu sehen. Angst kroch wie kaltes Wasser ihre Glieder hoch. Was, wenn ihm etwas zugestoßen war? Was, wenn er den Kreis der Schutzzauber verlassen hatte und dann geschnappt worden war?
In Windeseile zog sie sich ihre Jacke über, griff ihren Zauberstab und stürmte kampfbereit aus dem Zelt. Ihr Blick suchte den Boden nach Fußspuren im Schnee ab. Wenn sie seinen Fußspuren folgte, würde sie ihn gewiss finden.
Sie holte tief Luft und schloss die Augen. Lauschte auf die Geräusche im Wald. In der Ferne hörte sie Rascheln und Knarzen, als würde jemand durch das Unterholz gehen. Als sie ihre Augen wieder öffnete und in die Richtung des Geräusches starrte, bemerkte sie, dass Harrys Fußspuren in dieselbe Richtung gingen.
Vorsichtig setzte sie sich in Bewegung. Sie wusste nicht, ob nur Harry da draußen war, oder ob er bereits gefasst war und die Jäger jetzt nach ihr suchten.
Eine Lichtkugel tauchte hinter einem Baum auf und erleuchtete deutlich zwei Gestalten. Zwei ihr sehr vertraute Gestalten.
„Hermine!", rief Harry ihr entgegen.
Hermine konnte einfach nur starren. Da, einfach so, ging Ron. Tauchte auf, Schwert in der Hand, und ging neben Harry, als wäre nie etwas passiert.
„Was ist das für ein Schwert?"
Sie trat einige Schritte zurück, um wieder im Kreis der Schutzzauber zu sein, und wartete, dass Harry und Ron ebenfalls bei ihr angekommen waren. Ihr Blick lag auf dem Schwert, das ganz eindeutig das Schwert von Gryffindor war. Warum hatte Ron es? Und wieso hielt Harry das Medaillon einfach so in der Hand, statt es wie sonst um den Hals zu tragen?
„Ron hat das Horkrux zerstört!", erklärte Harry mit einem breiten Grinsen: „Er hat das Schwert reingerammt und jetzt ist es zerstört. Das Schwert kann tatsächlich Horkruxe zerstören!"
„Wo ... wo kommt es her? Wo kommst DU her?", fragte Hermine. Sie fühlte nichts. Sie fühlte nichts außer Leere und Kälte.
„Ich ... das ist eine lange Geschichte", meinte Ron verlegen, aber auch er grinste.
„Er ist wieder da, Hermine!", lachte Harry und klopfte Ron fröhlich auf die Schulter: „Er ist wieder da, ein Horkrux ist zerstört, wir haben das Schwert! Alles wird jetzt gut!"
„Gut?", entfuhr es ihr, ehe sie sich zurückhalten konnte. Die Leere wurde plötzlich gefüllt von rasender Wut. Wie konnte Ron es wagen, hier einfach so aufzutauchen, als wäre nie etwas geschehen? Und wie konnte Harry so tun, als wäre nie etwas geschehen?
„Nichts ist gut!", schrie sie den beiden Jungs entgegen.
Sie musste hier weg. Sie wusste, es war gefährlich und dumm und kindisch, aber sie musste hier weg. Sie sah, wie Harry den Mund öffnete, um etwas zu sagen, doch sofort hob sie einen Finger: „Nicht. Egal, was du sagen willst, spar es dir!"
Ehe einer der beiden protestieren konnte, stapfte sie durch den Schnee davon in den dunklen Wald. Ron war da. Das Schwert war da. Vermutlich hatte er auch auf mysteriöse Weise einen Zauberstab für Harry und konnte ihnen ganz genau sagen, wie es jetzt weitergehen sollte. Alles war wundervoll und gut.
Sie hatte Lust, irgendjemanden von den beiden zu verfluchen. Ron ließ sie einfach im Stich, ging weg, weil ihm das Essen nicht schmeckte und sie nicht weiter wussten. Und Harry verzieh ihm einfach so. Sie war geblieben, obwohl sie genauso Hoffnungslosigkeit verspürt hatte wie Ron, sie war bei Harry geblieben, weil sie wusste, dass es das Richtige war. Aber anstatt dass Harry ihr dankbar war, schwieg er sie an und machte ihr Vorwürfe, dass sein Zauberstab kaputt war. Das nächste Mal würde sie ihn einfach nicht retten!
Weinend brach sie zusammen. Mehr denn je wurde ihr bewusst, dass Harry und Ron beste Freunde waren, und sie nur die zweite Geige im Leben beider Jungs spielte. Harry und Ron waren einander so wichtig, dass sie sich ohne große Entschuldigung alles verzeihen konnten. Alles. Sie war von Anfang an nur dabei, nur nebenher, nur gut als Lexikon und Nachschlagewerk.
Mehr denn je vermisste sie Draco. Für ihn war sie die Nummer eins. Er sah in ihr nicht einfach nur ein Mädchen mit Verstand und guten Noten.
Sie war einsam. Mit einem Mal wurde sie sich bewusst, wie alleine sie hier war. Harry und Ron hatten sich, aber sie hatte niemanden. Solange sie auf dieser Mission war, war nur sie selbst für sich da. Harry und Ron würden sich immer darauf verlassen, dass sie da war und ihnen half, aber sie würden niemals daran denken, ihr Trost oder Aufmunterung zu schenken. Sie war Hermine Granger, sie war stark. Sie konnte alles durchstehen. Sie wusste immer eine Lösung. Das war das Bild, das sie von ihr hatten.
Kurz war sie versucht, selbst zu verschwinden. Die beiden alleine zu lassen und zu ihren Eltern nach Australien zu fliehen, ihr Gedächtnis irgendwie wieder herzustellen, oder dort zu bleiben, bis hier alles geklärt war. Doch sie wusste, das würde sie nicht tun. Sie wusste, dass Draco sich wünschte, dass Voldemort besiegt wurde, und wenn sie helfen konnte, diesen Wunsch zu erfüllen, dann würde sie alles dafür tun.
Für Draco und eine gemeinsame Zukunft war sie bereit, alles zu geben und durchzustehen.