„Das ist so mutig von ihnen!"
Hermine war begeistert von dem, was sie durch den geheimen Radiosender soeben erfahren hatten. Es tat gut zu wissen, dass es außer ihnen noch andere da draußen gab, die auf der Flucht waren, aber dennoch gewillt waren, sich gegen Voldemort zu stellen. Es tat gut, bekannte Stimmen zu hören.
„Habt ihr gehört, was Fred gesagt hat?", kam es aufgeregt von Harry, kaum dass Ron das Radio ausgemacht hatte. „Er ist im Ausland! Er sucht immer noch nach dem Zauberstab, deswegen ist er im Ausland."
„Harry", wollte Hermine ihn unterbrechen, doch er blieb stur.
„Komm schon, Hermine, warum willst du nicht mal darüber reden? Vol..."
„NEIN!", schrien sie und Ron gleichzeitig, doch es war zu spät.
„...demort ist hinter dem Elderstab her!"
„Verflucht, Harry, haben wir dir nicht gesagt, dass du den Namen nicht sagen sollst?", brüllte Ron entsetzt.
Ein lauter Knall ertönte. Verängstigt sprang Hermine auf. Sie waren aufgeflogen. Vielleicht, wenn sie sich beeilten, die Schutzzauber wieder aufzurichten, konnten sie den Jägern entgehen. Ron, der denselben Gedanken zu haben schien, ließ den Deluminator klicken. Dunkelheit umhüllte sie.
„Kommt mit erhobenen Händen raus", verlangte eine tiefe Stimme von draußen: „Wir wissen, dass ihr dadrin seid. Ein halbes Dutzend Zauberstäbe sind auf euch gerichtet, und es ist uns egal, wen wir verfluchen."
***
Tränen strömten über Hermines Gesicht. Beinahe hätten sie es geschafft. Beinahe hätten sie die Greifer davon überzeugt, dass sie uninteressante Leute waren, keine Muggelgeborenen oder Schulschwänzer. Und wieder hatte sie alles versaut. Es war ein Foto von ihr im Tagespropheten, das die Greifer hatte hellhörig werden lassen. Jetzt standen sie vor Malfoy Manor und Hermine wusste, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie Voldemort gegenüber stehen würden.
Immerhin hatte sie Harry rechtzeitig noch einen Brandzauber ins Gesicht hexen können, so dass er für die nächsten Stunden nicht zu identifizieren war. Vielleicht geschah ein Wunder und sie konnten entkommen, ehe seine Identität geklärt war.
Es war Narzissa Malfoy, die sie an der Eingangstür empfing. „Folgt mir", sagte sie kühl und führte die Gruppe durch eine große Halle in einen angrenzenden Raum. „Mein Sohn ist über die Osterferien zu Hause. Wenn das wirklich Potter ist, wird er ihn identifizieren können."
Hermines Herz schlug bis zum Hals. Draco war hier. Schlimmer konnte es nicht kommen. Sie betete, dass er nichts Dummes versuchte, um sie zu retten. Was auch immer er tat, er durfte sich nicht einmischen. Sein Leben war verwirkt, wenn auch nur der geringste Verdacht auf ihn fallen würde.
„Wenn wir hier fertig sind, dann werden wir eine Menge Spaß miteinander haben", hörte sie plötzlich die tiefe Stimme von Fenrir Greyback direkt hinter sich. „Ich kann riechen, wie frisch du noch bist. Und so jung."
Übelkeit stieg in ihr hoch. Sie spürte den hochgewachsenen, kräftigen Körper des Werwolfs hinter sich. Er stand definitiv näher als nötig. Mit nur einer Hand hielt er ihre Arme hinter ihrem Rücken fest, die andere strich voller Begierde über ihre Hüfte und ihren Hintern. Verängstigt bemühte sie sich, ihn einfach zu ignorieren. Alles würde gut werden. Es musste einfach.
Angst schnürte Draco die Kehle zu. Hatte der dumme Werwolf wirklich Potter gefangen? War Hermine bei ihm? Er wusste nicht, was er tun sollte, wenn sie tatsächlich hier in seinem Haus war. Sein schlimmster Albtraum wurde gerade wahr.
Tief atmete er ein, presste die Kiefer aufeinander, ehe er hinter seiner Mutter in den großen Raum trat, in welchem die Greifer ihre Beute gefangen hielten. Sein Blick fiel augenblicklich auf Hermine. Sie war tatsächlich da.
Tränen liefen ihr übers Gesicht und Draco konnte sehen, wie der widerwärtige Werwolf sie ungeniert berührte und leise Dinge zu ihr flüsterte. Heiße Wut stieg in ihm auf. Wie konnte er es wagen, sie anzufassen? Wie konnte er es wagen, sie mit seinen stinkenden Händen zu berühren? Mühsam widerstand er dem Drang, seinen Zauberstab zu greifen und den Werwolf zu verfluchen. Es wäre ein sinnloses, selbstmörderisches Unterfangen.
„Also?", riss Scabior seine Aufmerksamkeit auf sich: „Ist das Potter oder nicht?"
Gemeinsam mit seinem Vater schaute er sich den Jungen an. Sein Gesicht war zugeschwollen, aber es gab keinen Zweifel, dass das Harry Potter war. Unsicher flackerte sein Blick zu seinem Vater, doch der schaute nicht weniger verunsichert drein. Erkannte sein Vater ihn nicht oder hielt er sich ebenfalls zurück?
„Kann sein", sagte er schließlich. Irgendetwas musste er sagen.
„Kann sein?", knurrte Greyback: „Kann sein? Du bist sechst Jahre mit ihm zur Schule gegangen, du wirst jawohl wissen, wie er aussieht!"
„Warum sieht er so aus? Was habt ihr mit ihm gemacht?", verlangte sein Vater zu wissen.
Wieder huschte Dracos Blick zu Hermine. Er könnte wetten, dass das ihr Werk war. Vermutlich hatte sie gehofft, den Greifern zu entgehen, wenn Potter nicht so leicht zu identifizieren war.
„War'n wir nich", wehrte der Werwolf ab: „Das war schon so. Er meint, ihn hätt' was gestochen!"
„Sieht eher wie ein Brandzauber aus", murmelte Lucius nachdenklich. Innerlich betete Draco, dass sein Vater ebenso wie er schwieg. Er musste einfach schweigen, sonst war alles verloren.
„Was ist hier los? Warum der Trubel, Zissy?"
Verzweifelt schloss Draco die Augen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Wenn Tante Bella hier war, würde es nicht lange dauern, bis der Dunkle Lord gerufen wurde. Sie würde sich gewiss nicht mit einem „Kann sein" oder einem „Ich weiß nicht" zufrieden geben. Er würde die Karten offen auf den Tisch legen müssen. Er spürte, wie Tränen in seinen Augen schwammen. War hier wirklich alles zu Ende? Gab es keine Chance mehr, sie irgendwie aus dieser Situation zu retten?
Nur mit halbem Ohr bekam Draco mit, wie sein Vater und seine Tante sich darüber stritten, ob es Potter war oder nicht. Seine Augen suchten wieder nach Hermine. Sie erwiderte seinen Blick, während immer noch Tränen über ihre Wangen strömten. Er hatte sich so sehr danach gesehnt, sie wiedersehen zu können. Jetzt hatte er seinen Wunsch. Er schluckte. Was sollte er tun?
Hermine schaute plötzlich weg und Draco folgte ihrem Blick. Seine Tante hatte sich gerade kreischend auf ein Schwert gestürzt. Nachdenklich runzelte Draco die Stirn. Wo kam das Schwert her? Und warum sah sie plötzlich so aus, als wäre sie dem Tod selbst begegnet?
„Ihr versteht ja alle nicht, in welcher Gefahr wir schweben!", schrie sie voller Entsetzen: „Wir können ihn nicht rufen! Nicht jetzt! Ich muss erst wissen, woher das Schwert kommt!"
Verwirrt schaute er zu seinen Eltern, doch außer Bellatrix schien sich niemand um das Schwert zu kümmern. Warum war sie plötzlich so außer sich?
„Bring die zwei runter in den Keller!", befahl seine Tante plötzlich dem Werwolf: „Lass das Schlammblut da."
Panik stieg in Draco hoch, die offensichtlich von Weasley geteilt wurde: „Nein!", brüllte er mit Verzweiflung in der Stimme: „Sie können mich haben! Behalten Sie mich!"
Seine Tante warf ihm ein sardonisches Lächeln zu: „Wenn das Schlammblut sich als nutzlos erweist, werde ich mich liebend gerne mit einem Blutsverräter beschäftigen."
Dracos Mund wurde trocken. Was hatte sie vor? Sein ganzer Körper fühlte sich plötzlich erstarrt an, als würde er nur noch aus Eis bestehen. Als stünde er neben sich, sah er, wie seine Tante nach Hermine griff und sie zu Boden schleuderte.
„Also, Schlammblut", zischte sie gefährlich leise: „Wo habt ihr das Schwert her?"
Hermine schüttelte nur den Kopf. Draco begriff nicht, warum sie nicht einfach erzählte, wo es her war. Wieso setzte sie ihr Leben für ein dämliches Schwert aufs Spiel? Wie gelähmt beobachtete er, wie Bellatrix ihren Zauberstab hoch und einen Cruciatus auf Hermine sprach. Augenblicklich zerrissen ihre Schreie die Stille, die sich über den Raum gesenkt hatte. Sprachlos starrte Draco auf sie hinab. Ihr Körper wandte sich unter Schmerzen, während sie schrie und schrie und schrie.
Er musste etwas tun. Irgendetwas. Er konnte nicht zulassen, dass sie litt. Außer seinen Eltern war sonst niemand mehr anwesend. Gewiss würden sie ihn nicht an den Dunklen Lord ausliefern, wenn er jetzt Tante Bella umbrachte? Sie würden ihn decken, ganz bestimmt. Mit zitternden Fingern griff er nach seinem Zauberstab.
Als hätte er geahnt, dass er etwas plante, stand plötzlich sein Vater neben ihm, einen Hand fest um sein Handgelenk geschlossen: „Was auch immer du vor hast. Lass. Es. Sein."
Entschlossen widersetzte er sich seinem Vater. Er würde nicht zulassen, dass Hermine hier vor seinen Augen starb. Mit aller Kraft versuchte er, sich aus dem Griff seines Vaters herauszuwinden, doch der hielt ihn fest wie ein Schraubstock.
„Vater", flüsterte er voller Zorn: „Lass mich los. Ich kann nicht zulassen, dass sie ihr was tut. Lass los!"
Hermines Schreie verstummten und wurden ersetzt durch lautes Schluchzen. Statt sie mit Zaubern zu foltern, hatte sich seine Tante jetzt über sie gebeugt und nutzte ein Messer, um ihr den Arm aufzuschlitzen. Als würde sie spüren, dass er sie anschaute, blickte Hermine zu ihm auf. Er versuchte, mit seinen Augen zu sagen, dass er sie retten würde.
Beinahe unmerklich schüttelte sie den Kopf.
Sie schüttelte den Kopf.
Wollte sie nicht, dass er sie rettete? Wollte sie sich lieber foltern lassen, als von ihm gerettet werden? Sein Widerstand gegen seinen Vater erschlaffte. Selbst jetzt war Hermine nicht bereit, sich helfen zu lassen. Wie konnte sie das aushalten?
Er war nicht bereit, sie einfach so aufzugeben. Er würde sie hier rausholen, koste es, was es wolle.
„Es ist nur eine Kopie", schluchzte Hermine schließlich, „nur eine Kopie."
Endlich ließ Bellatrix von ihr ab: „Eine Kopie? Das lässt sich leicht rausfinden. Draco, geh in den Keller und hol den Kobold hoch. Er soll das Schwert untersuchen."
Kurz wollte er sich weigern, doch dann ging ihm auf, dass das eine einmalige Gelegenheit war, alleine mit Potter und Weasley zu reden. Wenn sie wussten, dass er auf ihrer Seite war, vielleicht konnten sie gemeinsam einen Weg hier raus finden? Er nickte seiner Tante zu, warf einen letzten, beruhigenden Blick zu Hermine, dann eilte er zu der Treppe, die in den Keller führte.
Er nahm den Schlüssel zu dem Raum, in welchem alle Gefangenen gehalten wurden, und schritt entschlossen auf die Tür zu. Ein kurzer Blick durch die Sichtluke zeigte ihm, dass alle Gefangenen weit hinten an der Wand saßen. Potter redete eindringlich auf den gefangenen Kobold ein, als wollte er ihn von irgendetwas überzeugen.
„Ich soll den Kobold hochbringen", verkündete er laut, nachdem er eingetreten war. Dann, nachdem er sich vor der kleinen Gruppe hingekniet hatte, den Zauberstab in der Hand, fuhr er leiser fort: „Ich will euch helfen, okay? Ich bring jetzt den Kobold hoch und dann komme ich wieder. Wir schaffen euch hier raus, ich verspreche es!"
„Warum sollten wir irgendetwas glauben, was aus deinem Mund kommt?", spie Weasley.
Draco lag schon eine heftige Erwiderung auf der Zunge, als zu seiner Überraschung Potter dazwischen ging: „Lass gut sein, Ron. Lass uns erstmal hören, was er zu sagen hat."
„Kluge Worte, Potter", spottete Draco und warf ihm einen betonten Blick zu. Er wollte, dass Potter verstand, dass er ganz genau wusste, wer er war, aber ihn absichtlich nicht verraten hatte. Die Art, wie Potters Mund aufklappte, zeigte ihm, dass er verstanden hatte.
Er hatte keine Ahnung, wie er ihnen helfen konnte, aber er wusste, er würde einen Weg finden. Er musste. Jetzt, wo er Hermine vor sich sah, zuschauen musste, wie sie gefoltert wurde, kannte er die Antwort auf die Frage, die ihn so lange geplagt hatte. Was sollte er tun? Was würde er tun? Es war so simple.
Was immer nötig war, um ihr Leben zu retten.