„Hier ist der Kobold."
Unsanft zerrte Draco den widerspenstigen Kobold vor seine Tante. Er verstand noch immer nicht, was es mit dem Schwert auf sich hatte, aber wenn es von Kobolden gemacht war, war es zumindest viel wert.
„Danke, Schatz", gurrte Bellatrix. „Ich bin fertig mit dem Schlammblut, du kannst sie runter zu den anderen bringen."
Erleichterung durchströmte Draco. Wenn alle an einem Ort waren, wäre es deutlich leichter, sie zu befreien. Darum bemüht, äußerlich eine kühle Maske zu wahren, griff er nach Hermines Arm und zog sie hoch. Sie wimmerte, doch sie wehrte sich nicht.
Unten angekommen ließ er sie los. Alles in ihm schrie danach, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten, aber er wusste nicht, ob sie bereit war, ihr Geheimnis vor Potter und Weasley zu enthüllen. Vielleicht schämte sie sich inzwischen für ihre Beziehung. Vielleicht wollte sie es für immer geheim halten. Also blieb er einfach stehen und starrte auf die drei Freunde hinab, die sich unter Tränen in die Arme fielen.
„Mine, bist du okay?", fragte Weasley eindringlich, während er Hermines Gesicht in beide Hände nahm und sie intensiv anstarrte.
„Alles ist gut", wisperte sie zurück: „Ich lebe noch. Das ist alles, was zählt."
Potter war der erste, der sich wieder an ihn wendete: „Also, Malfoy. Du willst uns helfen? Was ist dein Plan?"
Hermine schaute mit großen Augen zu ihm auf: „Du willst uns helfen? Bist du von Sinnen? Sie werden dich umbringen, wenn sie rauskriegen, dass du das warst."
Er konnte ihr nicht in die Augen schauen. Er wusste, wenn er sie anschaute, würde seine Fassade bröckeln und alle würden sehen, wie er wirklich fühlte. Dafür war hier kein Platz. Stattdessen blickte er direkt zu Potter: „Ich habe noch keinen Plan. Aber für den Augenblick sind wir hier unter uns und unbeobachtet."
„Du willst uns nur beobachten, damit wir nicht abhauen!", warf Weasley ihm wütend vor: „Tu nicht so, als ob du uns helfen willst. Du bist nicht besser als irgendein Gefängniswächter!"
Heißer Zorn stieg in Draco auf. Wieso war Weasley immer so ein Trottel? Wieso konnte er nicht einfach einmal akzeptieren, was man ihm sagte?
„Das spielt keine Rolle, Ron", beschwichtigte Hermine ihn: „Es ist egal, ob er hier ist oder nicht, wir könnten sowieso nicht fliehen."
„Vielleicht kannst du wenigstens nützliche Informationen bieten", meinte Potter kühl.
Mit einem Seufzen ließ Draco sich im Schneidersitz auf den Boden sinken. Er bezweifelte, dass er irgendetwas von Nutzen sagen konnte, aber wenn er dadurch das Vertrauen der Jungs gewinnen konnte, würde er es zumindest versuchen: „Klar, was willst du wissen?"
„Wo ist ... Du-weißt-schon-wer?"
Draco konnte nur ungläubig schnauben. Als ob jemand wie er das wusste. Kopfschüttelnd erwiderte er: „Keine Ahnung. Nicht hier. Er sucht nach etwas und ist dafür vor längerer Zeit schon ins Ausland gegangen. Genauer gesagt, kurz nach der Sache in Godric's Hollow."
Hermine riss die Augen auf: „Du weißt davon?"
Er wusste, dass es langsam auffällig wurde, aber erneut schaute Draco zu Potter statt zu Hermine, als er erklärte: „Natürlich weiß ich davon. Unser Lord hat hier residiert, als er über euren törichten Versuch informiert wurde. Was wolltet ihr da überhaupt?"
Es wunderte ihn nicht, dass Potter die Frage nicht beantwortete, sondern mit einer Gegenfrage kam: „Hat er irgendetwas gesagt, als er wiederkam? Jedes Bisschen könnte uns helfen."
„Akzeptieren wir jetzt einfach, dass Malfoy uns die Wahrheit erzählt?", warf Weasley hitzig ein: „Wahrscheinlich stimmt nicht ein Wort von dem, was er sagt, und er will uns nur in Sicherheit wiegen mit dem Gerede davon, dass Ihr-wisst-schon-wer im Ausland ist."
Ungeduldig drehte Hermine sich zu ihm um: „Fred hat exakt dasselbe erzählt. Glaubst du deinem eigenen Bruder nicht?"
„Er hat nicht viel gesagt. Mein Vater hat mir gesagt, dass er wohl nach einem Zauberstabmacher suchen würde."
Plötzlich riss Potter die Augen auf und schlug sich gegen die Stirn: „Aber klar! Merlin, wieso ich das nicht sofort begriffen habe. Er war heute bei Grindelwald!"
Draco stockte der Atem. Wie konnte Potter das wissen? Für den Bruchteil einer Sekunde wanderte sein Blick zu Hermine. Stimmte es wirklich, dass Potter und der Dunkle Lord irgendwie verbunden waren und er sehen konnte, was der andere tat? Als Hermine ihm das am Bahnhof erzählt hatte, hatte er es geschluckt, aber nicht wirklich geglaubt.
Besorgnis klang aus Hermines Stimme, als sie sich an Potter wandte: „Du hattest wieder eine Vision?"
Der nickte aufgeregt: „Ja, ich habe gesehen, wie er in eine Festung eingedrungen ist. Das war mitten während die Greifer uns hergeschleppt haben, deswegen habe ich versucht, es zu ignorieren. Aber wenn ich mich jetzt daran erinnere, der alte, dürre Mann, den er da aufgesucht hat, das war bestimmt Grindelwald."
Ein heiseres Husten drang von hinten zu ihnen. Dracos Augen suchten im Zwielicht nach der Person dazu. Er hatte beinahe vergessen, dass neben Hermine, Potter und Weasley noch andere Personen hier gefangen gehalten wurden.
„Wenn er nach Grindelwald gesucht hat, dann weiß er es", kam die rasselnde Stimme von dem alten Zauberer, der in der Ecke mehr lag als saß.
„Mr. Ollivander!", entfuhr es Hermine erfreut: „Sie sind hier! Sie leben!"
„Was meinen Sie damit, er weiß es?", verlangte Potter eindringlich zu wissen, ohne sich um den erbärmlichen Zustand, in dem der alte Zauberstabmacher war, zu kümmern.
„Ich ... er hat mich gefoltert", erklärte Ollivander zögerlich: „Er wollte von mir wissen, wer ... wer den Elderstab besitzt."
Verwirrt schaute Draco zu Potter, denn er verstand immer weniger von dem, was gesprochen wurde. Potter hingegen schien genau zu wissen, worum es ging, der er hakte sofort nach: „Und Sie haben ihm gesagt, dass es Gregorowitsch war?"
„Woher wissen Sie das?", hauchte der alte Mann, doch unter Potters wütenden Blick wurde er sofort klein und gab es zu: „Ja, ja das habe ich. Aber er hat mich gefoltert, müssen Sie wissen! Er hat mich gefoltert."
„Und Sie haben gelogen?", fragte Hermine leise.
Der alte Zauberer schenkte ihr ein schmerzverzerrtes Grinsen: „So gut es ging. Gregorowitsch hat den Stab definitiv einmal besessen, aber er wurde ihm abgenommen. Von Grindelwald."
„Also gibt es ihn wirklich?" Hermines Stimme klang seltsam dringlich, als sie diese Frage stellte. „Der Elderstab existiert?"
Ein Hustenanfall schüttelte Ollivander, ehe er zu einer Antwort in der Lage war: „Das ist der Name, den er trägt. Man kann seine Spur durch die Geschichte verfolgen. Ein Stab, der immer wieder Blut fordert. Jeder Besitzer ist grausam gestorben."
„Also muss man den Besitzer töten, um ihn dann selbst besitzen zu können?" Auch Weasleys Stimme trug einen seltsamen Tonfall. Worum ging es hier? Was war der Elderstab?
„So lauten die Legenden, aber ich zweifle daran. Sehen Sie, jeder Zauberstab sucht sich seinen Besitzer aus. Sie alle haben das erlebt, als Sie bei mir Ihre Stäbe gekauft haben. Andere Zauberstäbe funktionieren, aber Sie werden niemals so gute Magie mit ihnen wirken können. Wenn Sie aber einen Zauberer im Duell besiegen, dann beugt sich sein Zauberstab ihrer überlegenen Macht und erkennt sie als Besitzer an. So funktioniert es bei normalen Zauberstäben. Egal, wie mächtig der Elderstab ist, ich wüsste nicht, warum es bei ihm anders sein sollte."
Endlich begann Draco zu begreifen. Anscheinend ging es um einen mächtigen Zauberstab und der Dunkle Lord war auf der Suche danach. Die Vorstellung, dass er mit Hilfe eines Stabes noch mächtiger als sowieso schon werden konnte, war angsteinflößend. Gab es nichts, was sie dagegen tun könnten?
„Wenn er heute bei Grindelwald war, dann ist er ganz nah dran", murmelte Potter nachdenklich: „Aber Grindelwald meinte, dass er nicht der Besitzer ist. Das ist alles, was ich gesehen habe."
Schweigen breitete sich über die Gruppe aus. Unwillkürlich stellte Draco sich vor, wie es wohl sein würde, mit Grindelwald und dem Dunklen Lord in einem Raum zu sein. Zwei grausame, machtbesessene Menschen, die gleichermaßen Terror über das Land gebracht hatten. Ihm schauderte.
„Draco", hauchte Hermine plötzlich.
Er war so überrascht davon, seinen Namen aus ihrem Mund zu hören, dass er sie unwillkürlich ansah. Es war ein Fehler. In dem Moment, als er sie endlich richtig anschaute, erkannte er, wie schlimm es um sie stand. Ihr Arm blutete und ihr Gesicht war gezeichnet vom Cruciatus-Fluch. Ehe er wusste, was er da tat, beugte er sich vor und ergriff ihre Hand.
„Fass sie nicht an!", herrschte Weasley in augenblicklich an und schlug seine Hand weg.
Innerlich fluchend lehnte er sich wieder zurück. Er durfte nicht preisgeben, was ihn mit Hermine verband. Nicht, wenn sie es nicht preisgeben wollte.
„Draco ... Malfoy ist der Besitzer des Elderstabes", verkündete Hermine leise und ohne ihn anzuschauen.
„Was?", kam es zeitgleich von Potter und Weasley.
Plötzlich stand ein Feuer in ihren Augen, das Draco nur zu gut kannte. So sah Hermine aus, wenn sie das letzte Teil eines Puzzels gefunden hatte. Hektisch erklärte sie: „Überlegt doch mal, es macht alles Sinn. Wenn Grindewald der letzte war, von dem wir sicher wissen. Wer hat ihn besiegt? Dumbledore! Und wer hat Dumbledore besiegt?"
„Ich", flüsterte Draco entsetzt. Wenn das stimmte, dann ... was sollte er dann tun?
„Aber es war Snape, der Dumbledore getötet hat", widersprach Ron.
„Das hat doch Mr. Ollivander gerade erklärt", entgegnete Harry: „Man muss den Besitzer nicht töten. Man muss ihn besiegen."
„Haben Sie das Sie-wissen-schon-wem auch erzählt?", wollte Hermine plötzlich wissen.
Ollivander schüttelte den Kopf: „Er hat nie danach gefragt, also hatte ich keinen Grund, es ihm zu sagen."
„Ihr-wisst-schon-wer ist gerissen, aber er weiß über viele Dinge nicht Bescheid, die in Hogwarts nicht gelehrt werden", sagte Potter nachdenklich und verschränkte die Arme vor der Brust: „Ich könnte mir vorstellen, dass er über das Besitzen von Zauberstäben nichts weiß. Ich meine, wir haben das auch erst jetzt erfahren."
Erneut breitete sich Schweigen über ihnen aus. Dracos Gedanken wanderten zurück zu der Frage, wie er alle befreien konnte. Auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ, Hermine war schwer verwundet. Sie musste dringend geheilt und behandelt werden. Er würde es selbst tun, wenn er irgendetwas von Heilung verstand. Wenn es nur einen Weg gäbe, dass sie sich hier raus apparieren könnten. Die Schutzzauber auf dem Anwesen waren zu mächtig, als dass irgendjemand sie einfach so durchdringen konnte. Außer Hauselfen und der Familie selbst konnte sich niemand in das Haus und das umliegende Gelände apparieren.
„Moment mal", entfuhr es ihm plötzlich: „Potter! Was ist eigentlich mit dem Hauself, den du uns geklaut hast?"
Finster starrte Harry ihn an: „Ich habe ihn nicht geklaut. Dein Vater hat ihm Kleidung geschenkt und jetzt ist er frei."
Offensichtlich hatte er nichts begriffen, denn darum ging es gerade nicht. Doch noch bevor er etwas erwidern konnte, ergriff Hermine das Wort: „Aber natürlich! Dobby! Harry, du kannst doch Dobby zu dir rufen, oder nicht? Und Kreacher! Hauselfen sind von Schutzzaubern nicht betroffen, weil ihre Magie anders ist als unsere."
„Sie hat Recht!", stimmte nun auch Weasley zu: „Harry, Hermine hat Recht! Und Hauselfen können Zauberer genauso beim Apparieren mitnehmen wie andere Zauberer. Sie können uns hier problemlos rausholen."
Potter wollte schon den Mund öffnen, um nach den Hauselfen zu rufen, da legte Hermine ihm eine Hand über den Mund: „Warte! Wenn wir jetzt fliehen, wird der Verdacht sofort auf Dr... auf Malfoy fallen. Und wir haben unsere Zauberstäbe nicht."
„Sie werden doch bestimmt Griphook wieder runter bringen, sobald sie wissen, was sie brauchen, oder?", meldete sich die helle Stimme von Luna plötzlich aus der Dunkelheit.
Augenblicklich drehten sich alle zu ihr um. Sie legte den Kopf schräg und erklärte: „Wenn er runtergebracht wird, lauern wir einfach dem Todesser auf, der ihn bringt, und dann stürmen wir hoch."
„Wir klauen seinen Zauberstab, holen uns unsere mit einem Accio, und dann apparieren Dobby und Kreacher uns alle weg", nahm Hermine den Faden sofort auf: „Am besten ist Draco dabei schon wieder oben."
„Wenn Dobby und Kreacher vorher schon hier sind, können sie auch den Todesser mit Leichtigkeit entwaffnen, wenn er die Treppe runterkommt", stimmte Potter begeistert zu: „Ich hab gesehen, wie leicht es Hauselfen fällt, sich Zauberern zu widersetzen. Ihre Magie ist echt mächtig."
Langsam erhob Draco sich. Er wollte unbedingt noch etwas zu Hermine sagen, irgendetwas, doch sie schien das Geheimnis wahren zu wollen, und so gab es nichts, was er tun konnte. Niedergeschlagen sagte er: „Ich geh dann schon mal wieder hoch. Ich werde ja vermutlich mitbekommen, wenn ihr ausbrecht."
Mit traurigen Augen schaute Hermine ihm nach. Sie hatte deutlich gesehen, dass Draco sich um sie sorgte und ihr nahe sein wollte, aber sie konnte das nicht zulassen. Nicht jetzt. Egal, wie sehr ihnen Draco gerade geholfen hatte, der Hass von Ron und Harry auf ihn war immer noch so groß, dass sie nicht verstehen würden, dass sie jemals auch nur im Ansatz etwas mit ihm zu tun hatte. Es würde sie ablenken von dem, was wichtig war.
Sie betete, dass ihr Plan gelang. Ihr Arm blutete und ihr ganzer Körper schmerzte so heftig, dass sie immer wieder die Schwärze der Bewusstlosigkeit spüren konnte. Sie würde nicht mehr lange durchhalten. Sie war einfach zu schwach. Sie wusste nicht einmal, ob sie es die Treppe hoch schaffen würde.
„Ich glaube, du kannst Dobby und Kreacher jetzt rufen", sagte sie leise zu Harry, nachdem die Schritte von Draco verklungen waren.