Mit einem Stöhnen ließ Hermine sich auf das Sofa in Bills Wohnzimmer sinken. Der Tag war zu lang gewesen und zu viel war geschehen. Ihr Plan, mit Hilfe der Hauselfen zu entkommen, war geglückt, sie waren zusammen mit Ollivander und Luna geflüchtet. Doch Dobby hatte sein Leben gegeben. Harry war untröstlich, doch wie immer ignorierte er seinen Schmerz und stürzte sich stattdessen in die Arbeit.
Sie war froh, dass er die Suche nach den Heiligtümern aufgegeben hatte. Dass Voldemort nun im Besitz des Elderstabes war, bereitete ihnen allen Angst, doch sie klammerten sich an die Hoffnung, dass sie Recht gehabt hatte. Dass Dumbledore den Besitz am Elderstab an Draco verloren hatte und Voldemort nun trotz allem nicht der eigentliche Herr des Stabes war. Sie musste einfach Recht haben mit dieser Theorie.
Harry sprach seit Stunden mit Griphook, dem Kobold, den sie ebenfalls gerettet hatten. Er hatte ihn überredet, ihnen beim Einbruch in Gringotts zu helfen. Sie selbst war zu erschöpft, um noch länger die Augen offen halten zu können. Trotz aller Heilkünste von Fleur schmerzte ihr ganzer Körper.
„Hermine", riss die leise Stimme von Ron sie aus ihren Gedanken.
Träge drehte sie sich um. Ron war von oben gekommen, wo er vermutlich mit Harry zusammen mit dem Kobold gesprochen hatte. Sie hatte keine Kraft, sich ein Lächeln auf die Lippen zu zwingen. Nur ein schwaches „Und?" brachte sie heraus.
„Ich werde noch wahnsinnig mit diesem Kobold", beschwerte sich Ron, nachdem er sich neben sie auf das Sofa gesetzt hatte: „Als ob alle Zauberer Massenmörder wären und alle Kobolde unschuldige Opfer. Harry hat mich rausgeschickt, er meinte, ich helfe ihm gerade nicht."
Vorsichtig ließ Hermine sich zur Seite sinken, bis sie mit dem Kopf auf der Armlehne des Sofas lag, die Beine eng an ihren Körper gezogen. Langsam erwiderte sie: „Es ist eine andere Rasse. Ich glaube, wir können Kobolde oder Hauselfen niemals ganz verstehen."
Ron machte eine wegwerfende Handbewegung: „Wir müssen ihn auch nicht verstehen, er soll uns einfach nur helfen. Zum Glück ist Harry bekannt dafür, sich für andere Rassen einzusetzen. Dass er Dobby befreit hat, scheint Griphook beeindruckt zu haben."
Hermine schloss die Augen, zu müde, um darauf etwas zu erwidern. Sie wollte einfach nur schlafen.
„Hey, Mine?"
Statt zu antworten, gab sie nur einen Grunzlaut von sich.
„Was meinst du, warum Malfoy uns geholfen hat?"
Nervöse Anspannung stieg in ihr hoch. Warum sprach Ron das ausgerechnet jetzt an, wo Harry nicht hier war? Sie zwang sich, die Augen wieder zu öffnen und ihn direkt anzuschauen: „Vielleicht hat er erkannt, wie wahnsinnig Du-weißt-schon-wer ist?"
Ron stand vom Sofa auf, um direkt neben ihr auf dem Boden in die Hocke zu gehen. Sanft legte er ihr eine Hand aufs Gesicht: „Du warst klasse. Dass du lügen konntest, während Lestrange dich gefoltert hat ..."
Die Geste war zu intim, zu liebevoll. Es war nicht Freundschaft, die aus Rons Augen sprach, während er ihr sanft durchs Haar streichelte. Hermine wusste, dass sie ihn zurechtweisen sollte, doch sie hatte keine Kraft dafür. Sie sehnte sich nach einer Umarmung, nach Nähe und Geborgenheit. Alle die Wochen an der Seite von Harry, der nie ein Wort des Dankes für sie übrighatte und ihr immer zeigte, dass sie nicht Ron war. Und dann der heutige Tag, der sie alle dem Tod so nahegebracht hatte. Sie wollte einfach nur mal wieder wirklich Sicherheit und Geborgenheit spüren.
„Ich glaube, Malfoy hat endlich begriffen, was los ist", überlegte Ron laut weiter: „Ich meine, er war da, als seine Tante dich gefoltert hat. Ich hätte ja gedacht, dass er darüber lacht und sie anfeuert. Er hat dich immer verachtet."
Tränen stiegen in Hermine hoch. Je länger Ron über Draco sprach, umso größer wurde ihre Sehnsucht nach ihm. Sie schluckte, ehe sie antworten konnte: „Selbst wenn er uns hasst, ich glaube nicht, dass er uns den Tod wünscht."
Ron ließ seine Hand wieder sinken und lehnte sich mit dem Rücken an den Wohnzimmertisch. Sein Gesicht war ausdruckslos, als er erwiderte: „Er ist für Dumbledores Tod verantwortlich. Ich dachte, Mord wäre kein Problem für ihn. Aber unten im Verlies ... findest du nicht, dass er echt verzweifelt gewirkt hat?"
Angestrengt richtete Hermine sich im Sofa auf. Die Art, wie Ron plötzlich über Draco sprach, behagte ihr nicht. Er hatte gesehen, wie Draco nach ihrer Hand gegriffen hatte, und hatte ihn sofort zurechtgewiesen. War ihm aufgefallen, dass er sich ihr gegenüber merkwürdig verhalten hatte? Sie zwang sich, Ron direkt in die Augen zu sehen: „Er sah nicht gut aus, so viel kann ich sagen."
„Harry hat das ganze letzte Jahr damit verbracht, ihn zu überwachen. Er war richtig ... besessen von ihm. Ich hoffe, er sieht jetzt, dass Malfoy nicht auf der Seite von Du-weißt-schon-wem ist."
„Wie kannst du dir da so sicher sein?", wollte Hermine wissen. Sie hatte das Gefühl, dass Ron eine Reaktion aus ihr herausholen wollte. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er seine Meinung über Draco so schnell geändert hatte.
„Er hat uns geholfen!", kam es von Ron. Er lehnte sich vor und legte beide Hände rechts und links von Hermine auf dem Sofa ab: „Ich bitte dich, Mine!"
„Nein, ernsthaft, Ron", schnitt sie ihm kopfschüttelnd das Wort ab: „Es ist eine Sache, dass er nicht will, dass wir getötet werden. Es ist etwas anderes, ob er auf der Seite von Du-weißt-schon-wem steht. Ich meine, wir stehen auf Harrys Seite, aber wir würden Malfoy auch das Leben retten, wenn die Situation umgekehrt wäre, oder nicht?"
Rons Augen zogen sich zusammen: „Hermine. Du musst nicht ... ich wünschte, du würdest uns mehr vertrauen. Mir vertrauen."
Hermine meinte, ihr Herz müsste stehenbleiben. Schockiert starrte sie Ron an, der ihren Blick ruhig, aber herausfordernd erwiderte. Für einen Herzschlag schien die Welt stehenzubleiben. Wusste er wirklich Bescheid? Ron konnte manchmal überraschend aufmerksam sein. Wenn er Bescheid wusste, warum sagte er dann nichts?
„Ron, kannst du Harry sagen, dass das Abendessen fertig ist?"
Die tiefe Stimme von Bill riss beide aus ihrer Starre. Schnell blickte Hermine zur Seite. Es gab so viel, was sie Ron sagen wollte, doch es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt dafür.
„Kannst du aufstehen?", fragte Ron, Sorge offensichtlich in seinem Tonfall. Auch er schien nicht bereit, weiter über den Elephanten im Raum zu sprechen.
Hermine nickte und ließ sich von ihm aufhelfen. An seinem Arm humpelte sie ins Esszimmer von Fleur und Bill. Nachdem sie sich gesetzt hatte, ging Ron, um Harry aus dem oberen Stockwerk zu holen.
„Wie geht es dir?", erkundigte sich Fleur, während sie das Essen aus der Küche zum Tisch schweben ließ.
Unsicher, was sie dazu sagen sollte, zuckte Hermine mit den Schultern: „Gut, denke ich, in Anbetracht der Umstände. Deine Heilung war gut. Vielen Dank dafür."
Die Männer waren noch nicht wieder im Esszimmer, was Fleur offensichtlich als Chance sah, um mehr von Hermine zu erfahren: „Du sahst aus, als wärst du gefoltert worden, 'Ermine. Was ist passiert? Wo wart ihr?"
Unbehaglich zog Hermine die Schultern hoch: „Ich kann dir das nicht sagen. Du musst Harry fragen, er entscheidet, was wir erzählen."
„Aber er erzählt nischts!", schimpfte Fleur, während sie sich neben Hermine an den Tisch setzte: „Er erzählt nischt einmal Bill etwas."
„Es ist zu gefährlich, Fleur!", erklärte Hermine eindringlich: „Jetzt mehr denn je. Die Todesser wissen jetzt, dass Ron bei Harry ist. Ihr alle seid jetzt ein Ziel für Angriffe. Je mehr ihr über uns und unsere Pläne wisst, umso größer ist die Gefahr, die euch droht."
Fleur rümpfte die Nase: „Das ist so eine unsinnige Sache. Den Todessern ist doch egal, ob wir etwas wissen oder nischt. Sie werden uns sowieso foltern und töten, wenn sie uns erwischen. Was 'abt ihr zu verlieren?"
Hermine schüttelte den Kopf und schaute Fleur direkt an: „Du musst Harry verstehen. So viele Menschen haben schon ihre Gesundheit oder ihr Leben für ihn geopfert. Er fühlt sich verantwortlich. Seine Eltern sind tot. Ginny wäre beinahe gestorben und ich war versteinert. Cedric Diggory ist tot. Sirius ist tot. Harry gibt sich an all dem Schuld. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wären nicht mal Ron und ich mitgekommen. Er will lieber alles alleine machen, als sich jemals wieder schuldig zu fühlen."
„Wir sind erwachsen!", beschwerte sich Fleur: „Wir wissen selbst, wie 'och die Gefahr ist."
Hermine konnte nur mit den Schultern zucken. Sie war absolut auf Fleurs Seite. Sie wünschte sich, dass Harry sich mehr Verbündete sucht, mehr Zauberer und Hexen, die ihm bei der Suche halfen. Aber die Tatsache, dass Dumbledore die Horkruxe und ihre gemeinsamen Nachforschungen vor allen anderen Ordensmitgliedern verschwiegen hatte, gab Harry das Selbstbewusstsein, mit der Heimlichtuerei fortzufahren.
Ehe Fleur weiter auf Hermine einreden konnte, kamen Bill, Harry und Ron ins Esszimmer. Bill flüsterte Fleur kurz zu, dass Ollivander noch zu schwach war, um am Esstisch zu sitzen, und Harry verkündete grummelnd, dass Griphook sich weigerte, mit ihnen einen Tisch zu teilen.
„Ich verstehe nicht, wie du überhaupt mit ihm reden kannst!", maulte Ron, während er sich Kartoffeln auf den Teller schaufelte.
„Wir haben keine Wahl", erwiderte Harry knapp und gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass er nicht weiter darüber reden wollte, während Bill und Fleur anwesend waren.
„Ich hoffe, du weißt, was du da tust, Harry", mischte sich Bill ein. Sein Blick war voller Sorge, als er erklärte: „Kobolde sind eigen. Sie haben ein anderes Verständnis von Besitz und können sehr, sehr nachtragend sein. Und sie sind verschlagen. Glaub mir, ich hatte durch Gringotts mit ihnen zu tun. Ich kenne Kobolde sehr gut."
„Ich weiß, was ich tue."
Die scharfe Antwort von Harry brachte den gesamten Tisch zum Verstummen. Krampfhaft umklammerte Hermine ihr Besteck. Es war nicht richtig von Harry, so mit Bill zu reden, während sie hier zu Gast waren und auf ihre Hilfe angewiesen waren. Sie wollte Bill einen entschuldigenden Blick zuwerfen, doch der schaute konzentriert zu Harry, als könnte er auf diesem Wege herausfinden, was Harry dachte.
„Das Fleisch ist total zart", unterbrach Ron die Stille: „Du kannst echt gut kochen, Fleur!"
„Schön", erwiderte Fleur kühl, „das freut mich."
Plötzlich wünschte Hermine sich, sie hätte einfach gesagt, dass es ihr nicht gut genug ging, um am Tisch zu sitzen. Harry benahm sich daneben und Fleur blockte den Versuch von Ron, das Thema zu wechseln und die Stimmung aufzulockern, einfach ab. Ihr Blick wanderte zurück zu Bill, der endlich nicht mehr zu Harry schaute. Sie formte ein lautloses „Entschuldigung" mit ihren Lippen, doch er schüttelte nur den Kopf und grinste schief.
Der Rest des Abendessens verlief schweigend. Selbst Ron, der sich normalerweise kaum darum scherte, wie angespannt eine Situation war, blieb stumm. Innerlich fragte Hermine sich, ob es an ihr lag, an ihr und ihrem Geheimnis. Wie sollte sie weiter mit Harry und Ron zusammenarbeiten, wenn Ron so offensichtlich Verdacht geschöpft hatte. Vertraute er ihr noch?
Als sie schließlich in improvisierten Betten im Wohnzimmer lagen, Harry auf der einen Seite des Raums, sie und Ron auf der anderen, wagte Hermine einen letzten Vorstoß. Leise, damit Harry sie nicht hören konnte, flüsterte sie zu Ron: „Bist du mir böse?"
Statt eine Antwort zu geben, streckte Ron seinen Arm aus und ergriff ihre Hand. Sein Blick war voller Wärme, als er sie anschaute. Offen und ohne jedes Misstrauen. Unwillkürlich drückte sie seine Hand. So alleine sie sich mit Harry auch gefühlt hatte, Ron zeigte ihr, dass sie hierhergehörte. An seine Seite, zusammen für Harry. Obwohl er wusste oder zumindest ahnte, dass sie ein Geheimnis vor ihnen hatte, vertraute er ihr immer noch absolut.
Erleichtert schloss sie die Augen. Ihre Hand noch immer fest umschlossen von Rons, schlief sie zum ersten Mal seit vielen, vielen Wochen zufrieden ein. Warm, geborgen, geschützt.