Hallo und willkommen zu meiner neusten Geschichte! :)
Diese Geschichte hat dasselbe Setting wie "Das Herz des Waldes" - die Welt ist also das an Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts anlehnen werden, jedenfalls in Bezug in Sachen Technologie und Wissenschaft. Allerdings sind es bloß Anleihen und da wir uns im Fantasy-Genre bewegen, wird natürlich auch noch die Magie und das Übernatürliche eine nicht gerade unwichtige Rolle spielen.
Außerdem möchte ich gerne anmerken, dass diese Geschichte rein fiktiv ist. Jede Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, Ereignissen etc. sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Und nun wünsche ich viel Spaß beim Lesen und würde mich sehr über Kommentare und Anmerkungen jeder Art (solange konstruktiv ;) ) freuen! :D
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„Sie sind nicht von hier, oder?“
In der weichen, aber nicht zu hohen Stimme schwang ein höfliches, jedoch aufrichtiges Interesse. Yu, dessen Aufmerksamkeit bisher von den kleinen Blumen mit ihren schlanken Blütenblätter und der leuchtend-gelben Farbe eingenommen war, wandte sich in Richtung der Sprecherin um und bedachte sie mit einem geschlagenen Lächeln.
„Ist das denn so offensichtlich?“
Die Frau schmunzelte.
„Nun ja, niemand, der von hier ist, würde die Iseelien so anstarren, als hätte er noch nie zuvor eine Blume gesehen. Außerdem kenne ich so ziemlich jeden, der in diesem Provinznest lebt – und an Sie würde ich mich ganz gewiss erinnern.“
Yu zuckte die Schultern.
„Ich bekenne mich schuldig – ich bin noch nie zuvor hier gewesen...“
„So sieht es für mich auch aus. Sagen Sie, haben Sie sich verlaufen?“
Der junge Mann zögerte kurz – diese Frau hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Schon seit gefühlten Stunden irrte er durch die Gegend, auf der Suche nach der kleinen Ortschaft, zu der er geschickt wurde. Der Herr am Bahnhof – der nur aus einem einzigen Bahnsteig ohne Haus, Unterstand oder ähnlichem bestand – hatte ihm gesagt, er brauche bloß immer der Straße folgen; eine genaue Zeitangabe hatte er allerdings nicht bekommen. Und nun war er hier, auf einem verlassenen Feldweg, mit nichts in Sichtweite außer Kornblumen, Wiesen und einigen Feldern – und natürlich der unerträglichen Hitze.
Diese junge Frau mit ihrem Eselskarren erschien Yu in seiner Situation daher wie eine ersehnte Retterin.
Er nahm sich die Zeit, sie genauer zu mustern. Sie schien in etwa in seinem Alter zu sein – vielleicht auch ein, zwei Jahre älter - , trug ein weißes Sommerkleid mit leicht gebauschten Ärmeln und einen Strohhut mit einer hellblauen Schleife. Ihre dunkelbraunen Haare reichten knapp bis zu den Schultern, in den etwas helleren Augen lag ein wacher, aufmerksamer Ausdruck. Soweit Yu feststellen konnte, war sie relativ groß – ihn jedenfalls überragte sie sicherlich um einen Kopf.
Die Fremde schien Yus Verlorenheit zu bemerken; mit einem Lächeln rückte sie ein wenig zur Seite und klopfte auf den freien Platz auf dem Kutschbock.
„Sie möchten mit Sicherheit nach Alroué, oder? Na los, springen Sie auf!“
Yu nickte ihr dankbar zu und kam der Aufforderung nach. Als er sein spärliches Gepäck verstaut und eine einigermaßen bequeme Sitzposition eingenommen hatte, setzte sich der Wagen auch schon wieder in Bewegung. Aufgrund der unebenen, löchrigen Straße war es eine äußerst holprige Fahrt, doch Yu war nicht so unverschämt, sich deswegen zu beschweren.
„Sind Sie mit dem Zug aus der Hauptstadt gekommen?“
Der junge Mann nickte.
„Ja... Es ist eine lange Fahrt gewesen.“
Die Brünette zuckte mit den Schultern.
„Sie sind hier auch in der tiefsten Provinz. Hier gibt es nichts – keine wirkliche Infrastruktur, kaum Industrie, noch nicht einmal ein flächendeckendes Wassernetz oder Elektrizität. Der einzige Grund, warum wir überhaupt noch auf einer Landkarte stehen, ist der Umstand, dass die Kaiserin nicht auf ihre Steuern verzichten möchte... Aber das habe ich jetzt nicht gesagt“, sagte sie mit einer säuerlichen Miene.
Anscheinend war sie nicht gut auf die allseits geliebte Kaiserin zu sprechen – eine Ansicht, mit der sie nicht alleine stand. Allerdings würde es selbstverständlich niemand wagen, seinen Unmut öffentlich kundzutun; Kaiserin Tha'aryn war für ihren Mangel an Kritikfähigkeit berüchtigt.
„Wir sind hier nicht in der Kaiserstadt...“, erwiderte Yu daher nonchalant.
Die junge Frau bedachte ihn mit einem schwachen Lächeln, ehe sie ihren Blick wieder nach vorne richtete.
„So... Was führt jemanden aus der Hauptstadt denn in ein unbedeutendes Nest wie Alroué?“
„Die Arbeit, was denn sonst?“
Mit einem Mal wich jedes Anzeichen auf Beschwingtheit aus dem Gesicht der Fahrerin; stattdessen wirkte sie auf einmal schwermütig, besorgt.
„Jetzt verstehe ich... Sie sind dieser Arzt, den sie zu uns schicken wollten, oder?“
Yu schüttelte den Kopf.
„Noch nicht; ich bin noch im Studium.“
Einige Momente lang starrte sie den jungen Mann ungläubig an. Dann lachte sie bitter auf.
„Wie bitte? Niemand weiß, was bei uns zur Hölle eigentlich vor sich geht und sie schicken uns einen Studenten? Unsere Lage muss wirklich aussichtslos sein...“
Yu reagierte nicht auf ihren scharfen Tonfall, sondern hielt ihrem Blick mit starrer Miene stand. Es war nicht so, als könnte er ihren Unmut nicht nachvollziehen; ganz im Gegenteil, in Anbetracht der ernsten Lage, die momentan in der Region um Alroué herrschte, sollte man wirklich erwarten, dass die Regierung Ärzte schickt, die erfahrener und spezialisierter sind.
Doch nun war Yu hier und er hatte vor, seine Aufgabe zu erfüllen.
Die junge Frau seufzte; mit einem Mal wirkte sie regelrecht beschwichtigend.
„Es tut mir Leid... Ich weiß, Sie sind hier, um zu helfen und ich gehe Sie so an...“
Der Student winkte ab.
„Schon gut.“
Beide schwiegen. Yu nahm sich die Zeit, um sich die Umgebung anzuschauen – es war eine Landschaft wie aus dem Bilderbuch. Bunte, weite Wiesen mit vereinzelten Büschen und Bäumen, sanft geschwungene Hügel und Felder, auf deinen verschiedene Kornsorten angepflanzt waren. Doch so schön diese Gegend auch war, so konnte Yu die schwermütige, düstere Atmosphäre, die einen so scharfen Kontrast zur warmen Sommeridylle bildete und wie ein schwerer, wenn auch unsichtbarer Nebel über ihr lag, kaum ignorieren.
All dies wirkte irgendwie so... künstlich.
„Achja, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, oder? Mein Name ist Aesrah Selvea; ich betreibe eine kleine Konditorei in Alroué.“
Yu nickte ihr freundlich zu.
„Sehr erfreut. Ich heiße Yu.“
Aesrah hob abwartend die Augenbrauen.
„Und weiter?“
Der junge Mann verstand einen Moment lang nicht, worauf sie hinauswollte; erst dann begriff er, dass er seinen Nachnamen nicht genannt hatte.
Er schüttelte den Kopf.
„Nichts weiter. Einfach nur 'Yu'.“
Die Braunhaarige wirkte verwirrt, akzeptierte die Antwort dennoch.
„In Ordnung... Yu, also. Nun denn, ich hoffe, dass Sie trotz allem einen angenehmen Aufenthalt in unserem bescheidenen Städtchen haben werden...“
Aesrah schaffte es nicht, ihren bitteren Unterton vollkommen zu verbergen.
Alroué war eine kleine, in einem von hohen Bäumen flankierten Tal verborgene, alte Ortschaft. Ein schmaler Bach schlängelte sich durch sie hindurch, welcher in einem außerhalb gelegenen See mündete.
Das Stadtbild wurde von hohen, schmalen Häuser aus dunklem Holz dominiert. Das Rathaus und der kleine Tempel befanden sich im Zentrum; der breite, unbefestigte Platz wurde mit Sicherheit für den Markttag oder andere Veranstaltungen genutzt. In der Nähe des Stadtplatzes befanden sich einige Läden, sowie eine kleine Schule, doch ansonsten schien es in Alroué nicht mehr viel zu geben.
Anscheinend gab es auch kein Krankenhaus, wie Yu feststellen musste. Ein äußerst unglücklicher Umstand, besonders in Anbetracht dessen, dass die Kleinstadt mit ihren knapp 5000 Einwohnern die größte Ortschaft im weiteren Umkreis war.
Für den Studenten, der die letzten Jahre seines Lebens in der pompösen und modernen Hauptstadt verbracht hatte, war Alroué das komplette Kontrastprogramm.
Der klapprige Holzwagen kam vor Aesrahs Konditorei zum Stehen. Yu sprang vom Kutschbock ab – den schmerzhaften Protest seines Körpers ignorierend - , schnappte seine Tasche und wartete auf Aesrah, die noch einige Dinge zu verstauen und ihren Esel zu versorgen hatte. Anscheinend war die junge Frau auf dem Rückweg von einer benachbarten Ortschaft gewesen, als sie Yu aufgegriffen hatte.
Der Student bot ihr an, beim Verräumen der Säcke und Kisten, mit denen sie den Wagen beladen hatte, zu helfen – sein Angebot wurde jedoch ausgeschlagen.
„Schon in Ordnung“, winkte sie ab. „Sie wirken sowieso nicht gerade so, als seien Sie es gewohnt, schwer zu tragen.“
Yu zuckte die Schultern; so hätte er das jetzt nicht unbedingt ausgedrückt...
„Wissen Sie eigentlich, wo Sie hinmüssen?“, fragte Aesrah schließlich.
„Zum Rathaus“, bekam sie zur Antwort. „Ihr Verwalter möchte mich wohl über die Situation aufklären...“
Sie schnaubte.
„ 'Verwalter'... Er ist nicht mehr als ein überbezahlter Abgesandter, der sich mehr um seine Garderobe als die Probleme seiner Bürger kümmert. Es ist ein offenes Geheimnis, dass seine Versetzung nach Alroué nicht mehr als eine Art Strafexil darstellt...“
Yu konnte sein Lächeln nicht unterdrücken.
„...Sie sind sehr direkt.“
„Das bringt das Leben hier so mit sich. Nun denn...“
Mit einem Ächzen beförderte sie die letzte Kiste in den kleinen Lagerschuppen, welcher an ihr dunkles, relativ zentral gelegenes Häuschen angeschlossen war, verschloss das Tor mit einem länglichen, massiven Schlüssel und wandte sich zu Yu um.
„Ich wäre dann soweit. Wenn Sie möchten, kann ich Sie gerne noch zum Rathaus bringen...“
Der Student schüttelte den Kopf.
„Sie haben wirklich schon genug für mich getan und werden noch genügend eigene Verpflichtungen haben...“
Aesrah wollte davon nichts hören.
„Für mich stellt das kein Problem dar. Ich wollte sowieso noch zum Marktplatz gehen...“
Und damit war die Diskussion für sie beendet. Sie verstaute den Schlüssel in der kleinen Tasche, die sie sich umgehängt hatte und bedeutete Yu, ihr zu folgen.
Gemeinsam schlenderten sie die breite Hauptstraße hinab. Was dem Studenten besonders auffiel war die unheimliche Ruhe, die die Ortschaft erfüllte. Außer ihm und seiner Begleitung war kaum ein anderer Passant unterwegs, obwohl es erst später Nachmittag war – in der Hauptstadt Siance waren die Straßen zu jeder Tageszeit sehr belebt. Die wenigen Menschen, denen sie unterwegs begegneten, wirkten abgehärmt, erschöpft. Sie straften Yu, den sie sofort als Fremden erkannten, mit misstrauischen Blicken.
Dieser versuchte, sich davon nicht beirren zu lassen; gerade in diesen abgelegeneren Regionen wurden Gäste von außerhalb in den meisten Fällen mit Argwohn empfangen. Daher lag es mit Sicherheit nicht an ihm persönlich...
Obwohl – oder vielleicht auch gerade weil – Alroué in einem Tal lag, herrschte auch hier diese schwüle, unangenehme Hitze. In der Luft hing an abgestandener, fauliger Geruch, die Straße trocken und staubig.
Alles in allem war Alroué wahrlich kein sonderlich schöner Ort.
Der Gedanke, hier auch noch die nächsten Wochen verbringen zu müssen, stimmte Yu nicht sonderlich glücklich. Es war weniger das Sichtbare, das ihn gefühlsmäßig herunterzog, sondern eher die Dinge, die nicht gesehen werden konnten.
Um sich ein wenig abzulenken, beschloss er, Aesrah in ein Gespräch zu verwickeln.
„Ihr Haus wirkte ein wenig verlassen... Leben Sie alleine dort?“, begann er mit betont beiläufig klingender Stimme.
Die junge Frau nickte, führte ihre Antwort jedoch nicht aus.
„Was ist mit Ihrer Familie?“
„...Habe ich nicht.“
„O-Oh...“
Vielleicht war er da doch ein wenig zu persönlich geworden. Der Student wollte sich für seinen Fehltritt entschuldigen, doch Aesrah schien nicht beleidigt zu sein; stattdessen gab sie ihm die Frage zurück.
„Was ist mit Ihnen? Sie sind noch im Studium, nicht wahr? Leben Sie denn dann noch mit Ihren Eltern zusammen?“
„Meine Familie stammt nicht aus der Hauptstadt“, entgegnete er. „Sie haben mich, als ich zwölf war, auf eines jener Internate geschickt, die sich auf eine medizinische Bildung spezialisiert haben. Nach meinem Abschluss habe ich mich an der Universität eingeschrieben...“
„Hm, interessant. Ihre Eltern müssen stolz auf Sie sein...“
Waren sie das? Yu würde das zumindest gerne glauben.
„Nun ja, meine älteren Brüder haben sehr hohe Maßstäbe gesetzt. Ich denke nicht, dass ich diese jemals übertreffen könnte...“
Aesrah schüttelte den Kopf.
„...Es muss schön sein, ein so abgesichertes Leben führen zu können.“
Und damit hatte sich das Thema für sie erledigt. Yu unterdrückte ein Seufzen; es war nicht so, als hätte er für das, was er nun war, nicht hart arbeiten oder keine Leistungen erbringen müssen. Trotzdem wollte er sich nicht vorstellen, welche Entbehrungen Aesrah in ihrem bisherigen Leben erleiden musste, hier, in diesem eigenartigen Dorf.
An einer Kreuzung kamen die beiden zu stehen; die brünette Frau deutete auf ein größeres Haus aus weißen Stein, welches am Ende der Hauptstraße lag; es hob sich schon alleine aufgrund des relativ modernen Baustils vom Rest des Ortsbildes ab.
„Dort ist das Rathaus. Ich muss die andere Abzweigung nehmen, aber ich denke, dass Sie Ihr Ziel auch ohne meine Hilfe erreichen werden.“
In ihrer Stimme lag ein leicht spöttischer Unterton; Yu entgegnete dem mit einem milden Lächeln.
„Das sollte ich gerade noch schaffen. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Fräulein Selvea. Was bin ich Ihnen schuldig?“
Aesrah machte eine abwehrende Geste.
„Lassen Sie es gut sein, es ist ja nicht so, als hätten Sie mir irgendwelche Mühen bereitet. Und bitte, nicht 'Fräulein Selvea' – nennen Sie mich Aesrah, in Ordnung?“
„Verstanden. Nochmals vielen Dank!“
Yu winkte ihr nochmals zu und sah ihr noch eine Weile hinterher. Dann zog er seines eigenen Weges und strebte geradewegs auf das Rathaus zu.