Die Gedanken purzelten in Pats Gehirn durcheinander. Er rannte blindlings los, stolperte über Erdhügel und rutschte auf nassem Gras seinem Häuschen zu, mit dem Gefühl im Nacken einer verfolge ihn und strecke seine Knochenhände nach ihm aus. Die Hände klammerten sich um seinen Hals, würgten ihn. Pat schüttelte sich und umfasste seinen Hals um das Etwas daran zu hindern, ihm den Atem abzudrehen. Ein Stöhnen kam aus seiner Kehle.
Krachend fiel die Tür zu, als er keuchend auf einen Stuhl in seiner Hütte fiel. Er zündete sich eine Kerze an und horchte in die Dunkelheit. Kratzte da jemand oder etwas an der Tür? Was war da am Fenster? Stand da die reglose Gestalt, und streckte ihre Knochenhände nach ihm aus? Pats Nerven waren bis zum äußersten angespannt.
Wenn es nicht der Bettler war, war es etwa der Sturmteufel gewesen? „Der Sturmteufel ist groß, größer als ein Mensch. Er kann Mensch sein, er kann Tier sein, er kann Engel oder Teufel sein. Als Mensch hat er einen langen weißen Bart und reitet auf einem Besen. Er wohnt in den Wolken, und wer ihn sieht, wird blind und stirbt. “ hatte der Totengräber gesagt.
Pat lief ein Schauer über den Rücken. Mit vorsichtigen Schritten tappte er zum Fenster. Weder vor der Hütte noch am Himmel war etwas zu sehen. Und außer dem Rauschen des Windes hörte er auch nichts. „Zum Teufel mit all diesen Erscheinungen“, murmelte er und schüttelte schwerfällig den Kopf. Sein Blick fiel auf das Beil, das unter seinem Bett lag. Der Totengräber hatte es ihm gegeben. Er holte es hervor. Dann hängte er eine Decke vors Fenster und legte sich auf sein Bett. Das Beil hielt er fest umklammert. Vor Sonnenaufgang schlief er für kurze Zeit ein. Er träumte, er rutsche auf einer großen Rutschbahn, die mit spitzen Nadeln gespickt war in das hell lodernde Höllenfeuer. Brennende Menschen wandten sich unter schrecklichen Qualen im Feuer. Als der Teufel in Gestalt des Bettlers erschien, den er in seiner Hütte gesehen hatte, erwachte Pat von einem grausigen Schrei, den er selbst ausgestoßen hatte.
Wintertage und Wochen vergingen. Das sonderbare Erlebnis behielt Pat für sich. Nur dem Totengräber gegenüber machte er eine Bemerkung, worauf dieser sagte: „Nachts tanzen die Seelen der Selbstmörder und Gehenkten auf dem Friedhof, nimm dich in acht. Sie haben keinen Anspruch auf ein Grab. Sie irren ruhelos herum, auf der Suche nach einer Unterkunft.“ Pat schauderte es bei dem Gedanken. Mörder endeten immer am Galgen.
Eines Tages fegte der Föhn über die Erde, er nahm Eis, Winteröde und Furcht mit. Wieder scharrte etwas an der Tür, als Pat erwachte. Diesmal war es eine Amsel, die dicht am Türholz Gras aus dem Boden zog. Büsche Bäume, Sträucher und Hecken trugen braune glänzende Knospen. Zwischen Gräbern und Steinen wuchsen Gänseblümchen und Schafgarben. An der Mauer, die Pat sorgfältig gemieden hatte, wucherten Farnkräuter und frischer Efeu.
Als er am Tor das Rasseln der Wagen, Peitschenknallen und das Wiehern von Pferden hörte, schlug sein Herz höher. Das pralle Leben drängte sich in die Grabstätte. Die Krämer luden ihre Waren ab, der Bäcker trug keuchend seine Mehlsäcke über den Weg. Der Fisch der Geflügel und der Gemüsehändler bezogen lärmend ihre Stände. Gaukler, Zauberer, flötende Spielleute mit spitzen Hüten und Jongleure nahmen das Totenfeld in Besitz.
Am Palmsonntag fand eine Prozession statt, die viel Volk auf den Friedhof brachte. Nach dem Gottesdienst würde es hoch hergehen. Wirte, Händler und Bettler hofften auf gute Umsätze. Pat legte Waren aus, knetete Teig und passte auf, dass die Ziegen und das Federvieh die zwischen den Gräbern weideten, nicht aus dem Kirchhof liefen. Die Bauern, denen die Tiere gehörten, entlohnten ihn mit Brot, Speck Gemüse oder Geld.Kurz vor dem Fest floh eine Henne aus dem Friedhof in Richtung Kirche. Die Kirche, ein kleiner unscheinbarer Steinbau mit vier Ecken, und einem Turm, der oben spitz zulief, befand sich direkt an der Friedhofsmauer. Drei Steintreppen führten zu einem einfachen Portal. Von innen kam man durch eine rissige Holztür in den Kirchenraum. Durch dieses offenstehende Törchen flatterte die Henne und lockte mit ihrem Gegacker den Pfarrer aus der Sakristei. Pat stolperte hinter der Henne her, und blieb betreten stehen, als er den Pfarrer sah.
„Guten Tag Pat, “Sagte der Pfarrer lächelnd. Pat senkte den Kopf. Es war ihm nicht wohl in seiner Haut. „Hab dich oft beobachtet, “ fuhr der Pfarrer fort. „ Meinst du nicht, es wäre Zeit, dein Gewissen zu erleichtern?“
Wortlos sah Pat den geistlichen Herrn an. In sein Gesicht hatte ein hartes Leben viele Falten gegraben, sodass es aussah wie zerknittertes Pergament. Dieser Mann wollte ihm helfen? Außer den Totengräbern hatte ihm keiner geholfen. „Du siehst nicht wie ein Spitzbub, oder wie ein Mörder aus. Komm mit mir in die Studierstube, dort können wir reden.“
Pat folgte ihm mit unsicheren Schritten. Die Henne trippelte hinter ihm her und machte es sich auf dem Boden gemütlich. „Nimm Platz“, sagte der Pfarrer und deutete auf einen hochlehnigen Stuhl. Pat sah sich um. Hier gab es hohe Regale mit dickbauchigen, nach Papier und Staub riechenden Büchern. Pat konnte einige Worte lesen und schreiben eben das, was ihm sein Vater gelehrt hatte. Er sah sich erstaunt um. „Als Pfarrer muss ich das Lesen und die Schrift beherrschen. Da reicht es nicht, wenn man so viel Wissen hat, wie ein Leibkoch für die königliche Frühsuppe, “ sagte der Geistliche mit einem Lächeln auf den Lippen. Pat senkte die Augen. „Ich hätte gerne mehr gewusst über diese Kunst. Ich habe nur gelernt, was man als Fischer gelernt hat.“
„Nun will ich deinen Bericht hören“, erwiderte der Pfarrer und sah ihn erwartungsvoll an. Pat atmete tief durch und erzählte, was geschehen war. Die Henne saß dabei und musterte Pat aufmerksam mit ihren schwarzen Knopfaugen. Was sie sah, schien ihr zu gefallen. Sie rührte sich nicht vom Fleck.
Der Pfarrer atmete tief auf, als die Geschichte erzählt war. „Wenn die Sache sich verhält, wie du geschildert hast, war es Notwehr. In Zeiten wie diesen ist man nirgendwo sicher. Auch bei mir hat einer versucht einzubrechen. Ich geh mit dir zum Schreiber, wirst wissen, dass er an der hinteren Friedhofsmauer sitzt. Er soll dir eine Eingabe an den Magistrat schreiben, damit nachgeforscht werden kann, wer den Toten gefunden hat.“
Noch nie war Pat bei einem Schreiber gewesen. Herren, die schneller schrieben und lasen, als er seine Fische fing, gehörten zur feinen Gesellschaft. Sie kamen gleich nach den Pfarrern Ratsherren und Grafen. Unsicher ging er neben dem Geistlichen her zum Platz des Schreibers. Der tauchte seinen Gänsekiel in ein großes Tintenfass und setzte den Brief auf. Pat atmete erleichtert auf. Ein Bote würde das Dokument umgehend in die nächste Stadt bringen.
Kurz darauf zuckte er erschreckt zusammen. Die Henne zupfte an seinem Hosenbein. Sie hob den Kopf und blinzelte mit den kleinen schwarzen Knopfaugen. Pat sagte lächelnd: „Willst du nicht zu deinem Hahn zurückkehren?“ Die Henne schlug mit den Flügeln und gackerte. Als Pat zurück zu seiner Hütte ging, folgte sie ihm. „Ich will dich nicht in meiner Hütte haben,“ sagte Pat, und schloss sorgfältig die Tür.
Als die Dunkelheit hereinbrach, saß die Henne immer noch vor seiner Hütte. Pat öffnete ihr die Tür. „Für eine Nacht kannst du bleiben, Morgen bringe ich dich zum Bauer zurück.“ Die Henne sträubte das Gefieder, gackerte zufrieden und machte es sich in Pats Hütte gemütlich.
Auch am nächsten Morgen, es war der Palmsonntag, wich die Henne nicht von Pats Seite. Er versuchte, sie zu verscheuchen, indem er sie vor seiner Hütte im Gras absetzte und die Tür schloss. Sie blieb beharrlich sitzen und lies sich die Sonne aufs Gefieder scheinen.
Der Friedhof hatte sich in einen blühenden Garten verwandelt. Sonnenstrahlen fingen sich im Grün der Bäume und Büsche. Die ersten Blümchen schossen farbigen Tupfern gleich aus der Erde. Das Gras duftete und der Himmel war frühlingsblau.
Die kleine Kirche konnte die Menschenmenge nicht fassen, die sich durch ihre Portale drängte. Der Pfarrer predigte auf einem Podest stehend zwischen den Gräbern. Nach der Predigt formierte sich der Prozessionszug. Ein großes Holzkreuz wurde vorangetragen. Dicht dahinter ging der Pfarrer mit dem Allerheiligsten und seinen Ministranten, die brennende Kerzen trugen. Kinder mit Palmzweigen in den Händen bildeten den Abschluss des Zuges. Bittgesänge Kirchenlieder und Gebete wurden angestimmt. Pat, der vor den Augen der Welt ein schuldbeladener war, musste in seinem Häuschen bleiben.
Als die Menschenmenge zur Kirche zurückkehrte, wagte Pat sich ins Freie. Draußen hatte er Mühe mit dem Viehzeug, das auf dem Friedhof rannte, flog, und zum Tor hinauswollte. Die Henne half Pat mit lautem Gegacker und aufgeregtem Flügelschlagen, das Federvieh zusammenzutreiben.
Nach der Messe flanierten die Menschen zwischen Buden und Ständen. Es wurde gekauft, gefeilscht, gehandelt. Zur Feier des Tages gönnte sich mancher einen Krug Bier oder einen Becher mit Wein. Flöten erklangen, Gaukler, Zauberer und Jongleure traten auf. Einige lärmten und feierten, bis die Sonne glutrot hinter den Wolken versank. Dann stolperten sie über nachtdunkle Wege und Felder in die Dörfer zurück.Pat war den ganzen Tag wie ein Hansdampf in allen Gassen herumgegangen. Er scheuchte Kleinvieh, brachte Kinder zu ihren Eltern stellte eine zusammengebrochene Bude auf und briet Würste. Bei all dem wich die Henne, der er den Namen Puttchen gegeben hatte, nicht von seiner Seite.
Nun saß die Henne neben ihm gackerte leise und steckte den Kopf ins Gefieder. „Du bist mir eine treue Gefährtin, auch wenn ich nicht weiß, warum du nicht von meiner Seite weichst,“ sagte Pat. Dieser Gedanke tröstete ihn ein wenig. Pat dachte an die Dörfler. Sie konnten in ihrer Stube sitzen, frei, und ohne sich zu fürchten. Er schleppte die Last der Ungewissheit mit sich herum. Auf den Brief, den der Pfarrer in die Stadt geschickt hatte, musste bald eine Antwort kommen. Je nachdem wie diese ausfiel, wollte er entscheiden, ob er weiterleben konnte. Er würde nicht warten, bis er zum Tode am Galgen verurteilt wurde. Er wollte sein irdisches Dasein abstreifen wie ein zu eng gewordenes Hemd. Pat hoffte, dass Gott seiner Seele gnädig sei und er nicht auf der Höllenrutsche, von der er geträumt hatte, in das Reich des Teufels fahren musste.
Der Sommer ging in einen sanften Herbst über. Die Blätter wurden goldgelb und über Nacht hingen Nebeltücher zwischen den Bäumen. Die Tage schienen Pat endlos zu sein. Nachts quälten ihn Albträume. Er aß wenig und wusch sich selten. Solche Dinge waren nichtmehr wichtig. Er würde bald ins ewige Dunkel der Nacht flüchten.
Eine kraftlos werdende Sonne schob sich über die Berge und Dunst nahm dem Morgen das Licht, als Pat, den Kopf in die Hand gestützt wieder auf der Kirchentreppe saß. Die Kirchentür knarrte, der Pfarrer kam heraus. „Nachricht ist gekommen, gute Nachricht“, sagte er und zeigte Pat einen Brief. Pat sah den Pfarrer mit leerem Blick an. Puttchen, die nicht von Pats Seite gewichen war, gackerte laut und schlug mit den Flügeln. Pats Kopf dröhnte, als der Pfarrer vorlas: „Man hat in der Fischerhütte Blutflecken und Spuren eines Kampfes gefunden, jedoch keinen Verletzten und keinen Toten. Man geht davon aus, dass es sich bei dem Unbekannten um das Mitglied einer Räuberbande handelte, die sich zu dieser Zeit am Fluss herumtrieb. Bei dieser Bande war einer mit großer Platzwunde am Kopf und blauen Flecken im Gesicht. Man hat die Bande verfolgt, sie ist entkommen. Wo kein Toter ist, kann kein Mörder sein. Der Verdächtige ist frei.“
„Frei“, dachte Pat. Keiner würde ihn aufhalten, wenn er durch das Friedhofstor ging! Seine innere Spannung löste sich in einem gewaltigen Freudenschrei. Er sprang auf und umarmte den Pfarrer. „Denk über alles nach lass dir Zeit, und vergiss nicht, dem Herrgott zu danken, “ sagte der mit einem Lächeln.
Pat durfte das kostbare Dokument mit in sein Häuschen nehmen. Der kleine Raum war voll Licht und Farben, die Morgensonne schien, und malte glitzernde Ringe auf den Fußboden. Lachend rannte er hinaus, übers Gräberfeld zu Ständen und Buden. Und das zwielichtige Volk freute sich mit ihm. Totengräber, Passanten, Budenbesitzer, Gaukler Hehler Diebe und die Henne begleiteten ihn, als er zum Tor hinausging.
Pat ging schnell und mit energischen Schritten. Zurück zum Boot zum See und den Fischen. Er würde wieder Fischer sein, Freisein, leben, wie es ihm gefiel. Und der Weg zu Leganda war frei! Als er einige Zeit gelaufen war, zogen schwarzgraue Gewitterwolken auf. Pat achtete nicht darauf. Er wollte schnell an sein Ziel kommen. Puttchen krähte verzweifelt und schlug mit den Flügeln. „Pat nahm sie in die Arme. Keine Last war ihm zu schwer, endlich war es ihm wieder leicht ums Herz. „Na da will ich sehen was ich in meiner Hütte mit dir mache, du verrücktes Federvieh. Nur Fische kann ich dir zum Essen anbieten, “ sagte er lachend. Puttchen gackerte zufrieden hob den Kopf, und blinzelte mit ihren kleinen braunen Knopfaugen, als ob sie sagen wollte: „Ich esse auch Fisch, wichtig ist, dass ich bei dir bin.“
Plötzlich zuckte ein Blitz herab und färbte die Welt purpurrot. In seinem grellen Licht sah Pat am Waldrand ein Wesen mit hängenden Schultern schwarzen Augen und großen aufgestellten Ohren. Pat rieb sich die Augen und setzte Puttchen ab, deren Gefieder sich sträubte. Dann schloss er die Augen und öffnete sie wieder, in der Hoffnung, er habe eine Illusion gehabt. Das Wesen stand am selben Platz, regungslos wie eine Statue. Er musste durch diesen Wald gehen, wenn er nach Hause wollte.
Das Wesen öffnete den Mund. Pat sah spitze gelbe Zähne und eine rosarote Zunge. Ein grässliches Grunzen kam aus seiner Kehle. Die schwarzen Augen glühten. Es streckte die Arme aus und lief mit schwerfälligen Schritten auf Pat zu. Puttchen flatterte kreischend davon. Pat tastete instinktiv nach einem Messer in seiner Tasche. Das Wesen hob den Arm. Als ihn der Schlag traf, kippte er um wie ein gefällter Baum.
Als Pat erwachte dröhnte in seinem Kopf ein Bienenschwarm. Er hielt sich mühsam an einem Strauch fest und raffte sich hoch. Das merkwürdige Wesen war verschwunden. Kalter Regen fiel vom Himmel und durchnässte seine Kleider. „Puttchen, wo bist du?“ rief er. Er konnte die Henne nicht sehen. Die ganze Zeit über war sie nicht von seiner Seite gewichen. Er musste sie finden. Pat ging in den Wald, er spähte hinter jeden Baum um zu sehen ob Puttchen sich in ihrer Angst versteckt hatte. Er ging, immer mit dem Gefühl im Nacken, das unheimliche Wesen könne ihn aufspüren und totschlagen. Puttchen war nicht zu finden. So ging er bekümmert in Richtung seiner Fischerhütte.
Die verstreut stehenden Häuser Hütten und Gehöfte wirkten kalt und abweisend, als Pat nach einem Tagemarsch seine Kate erreichte. Das Dach war eingebrochen, die Räume feucht klamm und schimmelig. In den Ecken hingen Spinnennetze und über den Boden huschte Ungeziefer. Am Holzpflock, den er in den Boden getrieben hatte, baumelte ein Stück Seil als Erinnerung an sein Boot. Stinkende Reste eines vergangenen Lebens. Seine Hütte war keine Heimat mehr.
Pat ging hinaus, am Fluss entlang, roch Feuchtigkeit und Tang, hörte das Glucksen der Wellen, sah Fische springen. Als glitzernde Fontänen standen sie in der Luft, bevor sie wieder zurück ins nasse Element fielen. Pat dachte an Legandas herzerfrischendes Lachen und die sanfte Berührung ihrer Hände. Er würde zur Hütte ihres Vaters gehen, und ihn um die Hand seiner Tochter bitten. Zusammen konnten sie seine Hütte wieder aufbauen. Sie würden sich lieben, gemeinsam auf den See hinaus fahren Fische fangen, und sich so ihr Einkommen sichern.
Doch als er Odu, Legandas Vater, gegenüberstand, sah er mit Entsetzten, dass dieser vorher so energiegeladene Mann im besten Alter sich in einen alten Greis mit tiefen Sorgenfalten im Gesicht verwandelt hatte.
„Leganda ist seit einem Jahr verschwunden, ich habe überall nach ihr gesucht. Ich konnte sie nicht finden, “ sagte er mit niedergeschlagenen Augen. Eneri, Legandas Mutter war schwarz gekleidet saß still in einer Ecke und starrte zum Fenster hinaus. „Eneri ist seit diesem Ereignis stumm. Sie sieht Tag für Tag zum Fenster hinaus und wartet darauf, dass Leganda wieder kommt. Bleib wenigstens für eine Nacht bei uns ich, bin zufrieden, wenn ich jemanden zum Reden habe, “ sagte Odu. „Pat nickte wortlos. Er war müde und ausgelaugt. Odu holte einen Krug mit Bier und stellte ihn auf den Tisch. Und Pat setzte sich, froh darüber, dass er eine Unterkunft gefunden hatte.
Dann erzählte Pat Legandas Vater alles, was ihm geschehen war. Odu hörte stumm und mit gesenktem Kopf zu. Als Pat seinen Bericht beendet hatte, nickte er räusperte sich, und in seinen Augen standen Tränen. „Ich vermute dieses Wesen, das dir im Wald begegnet ist, war dasselbe das Leganda mitgenommen hat. Es ist nicht der Sturmteufel. Der Sturmteufel kümmert sich nur um die, die tot sind. Er hat die Aufgabe, die Sünder aus ihren Gräbern zu holen, die dem Satan entkommen sind. Er ist dir auf dem Friedhof begegnet. Das andere Wesen heißt Tongrek und ist ein grässliches Untier, das im Wald lebt und die Fähigkeit hat, Menschen in Tiere zu verwandeln. Du sagtest, eine Henne sei die ganze Zeit nicht von deiner Seite gewichen?“ „Ja so war es“, antwortete Pat zögernd, während seine Augen groß wurden und sein Mund vor Erstaunen offen stehen blieb. „Du meinst, die Henne war Leganda?“
„Leganda war furchtlos, sie ging allein in den Wald, obwohl ich es ihr verboten hatte. Als ich sie das letzte Mal sah, sagte sie: „Ich suche Pat, es kann nicht sein, dass er einfach verschwindet.“
Pat kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Du willst mir sagen, dass Leganda die ganze Zeit bei mir war?“
„Ja gewiss, das will er dir damit sagen. Lass uns aufbrechen und Leganda suchen!“
Vor ihnen stand Eneri. Ihre Augen glühten vor Eifer. Und ihre Lippen, die so lange stillgestanden hatten, zuckten erregt. „Du redest wieder“, stellte Odu erstaunt fest. Er stand auf und umarmte seine Frau. Freudentränen liefen über seine Wangen.
„Lasst uns gehen. Nehmt Waffen mit. Unbewaffnet können wir diesem Ungeheuer nicht gegenübertreten, “ sagte Eneri mit rauer Stimme und löste sich aus der Umarmung.
Während Pat in fieberhafter Eile nach dem Holzpfahl griff, den ihm Odu gab, erinnerte er sich an die Worte seines Vaters:
„Des Nachts gaukeln grüne Flämmchen über den Wassern, und die Geister der unerlösten heulen. Sie sind Wesen zwischen Mensch und Tier, so sagen die, die sie gesehen haben, und lebend davon gekommen sind.“
Pat schauderte. Die Haare an seinen Armen stellten sich senkrecht auf, Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Dieses Wesen hatte die Fähigkeit zu zaubern und somit bestehende Gegebenheiten und Menschen mit einer Handbewegung zu verändern. Es musste ein Wesen, stärker als der Teufel sein! Ein ganzes Jahr hatte er auf dem Friedhof sein Leben geführt wie jeder andere und zuletzt war es ihm natürlich vorgekommen, täglich die bleichen Gebeine Verstorbener zu sehen, und die Klagen der Hinterbliebenen zu hören. Angst hatte er nur bei der Begegnung mit dem Sturmteufel gehabt. „Wisst ihr, welche Nacht uns bevorsteht? Flüsterte Eneri mit heiserer Stimme, während sie nach draußen hetzten. „Heute ist Walpurgisnacht, heute öffnen sich die Türen zur Anderswelt. Die besten Bedingungen um unsere Tochter wieder zu bekommen!“ “Du hast Recht, lasst uns unter unserer Linde die Nacht abwarten. Die Linde schützt uns vor bösen Geistern. Es ist ein absurdes Ding, das im Wald wohnt. Es heißt Tonrek. Es lässt die Menschen umherlaufen, bis sie Angst haben. Wenn du sein Gesicht siehst, wirst du verrückt. Achte darauf, dass du ihm nicht ins Gesicht siehst,“ sagte Odu.
Sie kauerten sie sich unter die Linde, beobachteten die langsam sinkende Sonne und warteten angespannt auf die einbrechende Dunkelheit. „Wenn er kommt, müssen wir ihn festhalten, und ihm den Holzpfahl durchs Herz stoßen, nur so können wir Leganda erlösen“, flüsterte Eneri. In ihren Augen war ein seltsames Funkeln, sie presste ihre schmalen Lippen aufeinander. Auch Odu war kampfbereit. Er beobachtete aufmerksam den Waldrand.
Die Sonne ging unter, einige ihrer Strahlen die Diamanten gleich auf dem Gras unter der Linde glitzerten, waren noch zu sehen. Der Himmel verfinsterte sich. Weiße Wolken glitten in die Dunkelheit.
Ruckartig schien die Hölle auszubrechen. Blaue, rote und gelbe Blitze erhellten die Nacht. Ob sie aus dem Wald kamen, oder vom Himmel war nicht zu erkennen. Pat schloss geblendet die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand das hässliche Wesen vor ihm. Es verzog die Lippen und Pat fragte sich, ob es lächelte. Seine Augen glichen glühenden Kohlen und aus dem geöffneten Mund kam ein boshaftes Kreischen. Pat dachte an Odus Warnung und blickte zur Seite. Aber Tonrek legte seine Klauenhände um Pats Hals und drückte zu. Er konnte nicht zulassen dass einer wie Pat weiterlebte. Er wusste, der war gekommen, um Leganda zu holen. Pat röchelte und rang nach Luft. Flammend rote flaschengrüne und schwefelfarbige Sternchen tanzten vor seinen Augen. Kurz bevor er ohnmächtig wurde, sah er, wie Eneri sich auf das Wesen stürzte. Sie umklammerte es von hinten und hielt es mit aller Kraft fest. Und Pat hörte ihren Schrei: „Odu, mach diesem Teufel den Garaus!“ Als Pat erwachte und mühsam wieder auf die Beine kam, war sein Hals trocken und schmerzte. Unsicher sah er sich um. Die Blätter rauschten leise im Wind. Das Mondlicht streute funkelnde Tüpfelchen über den dunklen Waldboden. Eine unheimliche Stille umgab ihn. Wo waren Eneri und Odu? War es ihnen gelungen, Leganda zu erlösen?
Ein unheimliches Knurren ließ ihn zusammenschrecken. Mühsam kam er auf die Beine. Er hörte die Stimme Odus in seinem Innern: „ Es ist ein absonderliches Ding, das im Wald wohnt. Es lässt die Menschen umherlaufen, bis sie vor Angst zittern. Könnte dich jemand hören, würde er glauben, du schreist. Aber du lachst. Das tun Verrückte, wenn ihr Leben endet. „
Im Dunkel der Nacht konnte Pat das Licht einer Kerze flimmern sehen. Er lief der Lichtquelle entgegen, stolperte über Zweige, Laub raschelte unter seinen Füßen. Ein Stöhnen kam aus seiner Kehle. Als er näher kam, sah er eine Frau mit langen blonden Haaren und einem weißen Gewand, das zerknittert um ihren Körper hing. Sie beugte sich über etwas das auf dem Waldboden lag und hatte die Kerze in der Hand. Pat schloss die Augen und öffnete sie wieder. Da stand Leganda! Und das Etwas auf dem Waldboden war Tonrek! “Dem Himmel sei Dank, “ murmelte er. Dann schrie er es laut hinaus: „ Dem Himmel sein Dank! Er streckte die Arme nach Leganda aus und sie fiel ihm lachend um den Hals. „Vater hat Tonrek den Holzpflock mit solcher Wucht in den Leib gerammt, dass er sofort umgefallen ist. Und flugs war ich wieder Leganda“, erklärte sie mit ruhiger Stimme so, als ob es die natürlichste Sache der Welt sei.
Pat lachte befreit auf und drückte Leganda an sich. „Stell dir vor, Tonrek hat mir vorgegaukelt er sei du, als ich ihn Wald getroffen habe. Ich freute mich so sehr, als ich dich wieder sah, dass ich die böse Absicht dahinter nicht erkannte. Es war nicht leicht Tonrek abzuschütteln, als ich bemerkt hatte, dass er nicht mein Pat ist. Aber es ist mir gelungen. Allerdings möchte ich nie wieder eine Henne sein, “ sagte sie dann lachend. Aus dem Dunkel des Waldes kamen Eneri und Odu. Beide hatten ein glückliches Lächeln auf dem Gesicht.
Gemeinsam gingen sie in die Fischerhütte und feierten dort ihren Sieg über Tonrek bis in die frühen Morgenstunden. Ein neues Leben begann.