Der Spandauer Weihnachtsmarkt lockte auch dieses Jahr wieder viele Besucher an - nicht nur aus Spandau oder Berlin, sondern tatsächlich aus ganz Deutschland. Dieses Jahr war er sogar wieder etwas schöner als die Jahre davor in denen viele Stände nur noch mit billigem Spielzeug aus China bestückt gewesen waren und das wunderschöne Kunsthandwerk verdrängt hatten. Sky hatte sich die traditionelle Eröffnung angesehen, bei der der Bürgermeister mit vielen Worten allen möglichen Leuten gedankt und dann mit einem großen »Oh!« den prächtigen Weihnachtsbaum erleuchtet hatte. Es war jedes Jahr dieselbe Prozedur und doch, es hatte irgendwie etwas Festliches. Für Sky war Weihnachten ein zweischneidiges Schwert. Einerseits bedeutete es, dass die vermeidlich kalte Jahreszeit endgültig begonnen hatte. Auch waren seine Lieblingsplätze in der Altstadt mit Menschen überfüllt und die Polizei griff härter durch, wenn man irgendwo herumlungerte. Andererseits gab es überall Ecken, um sich zu wärmen, und die Leute waren in größerer Spendierlaune.
Skys Revier, wenn man es so nennen wollte, waren neben der Spandauer Altstadt auch die angrenzenden Bezirksteile, aber er hatte sich Hals über Kopf in die alten Gebäude und vor allem St. Nikolai verliebt, eine wunderschöne Kirche im Herzen der Fußgängerzone. Auch heute hatte er sich hier auf seinem zusammengerollten Schlafsack niedergelassen. Direkt nebenan feierten die Besucher auf dem Mittelalterteil des Weihnachtsmarkts mit Dudelsackmusik und Flöten den Freitagabend und den Beginn des Wochenendes. Für Sky, der mittlerweile zwei Jahre mehr oder weniger auf der Straße lebte, war jeden Tag Wochenende. Entspannt nahm er einen Schluck des Glühweins, den er sich gegönnt hatte. Vier Euro waren eine große Ausgabe für eine Tasse gewesen, aber jeden Schluck wert. Die Temperaturen in den Nächten lagen momentan knapp um null Grad und waren somit noch vergleichsweise mild und angenehm auszuhalten. Die Augen geschlossen, lauschte er der Musik und gab sich einen Moment den Gedanken an seine Familie hin.
Er war in einer ganz normalen Familie aufgewachsen. Keine Alkoholdramen, keine Schläge, keine schlechte Bildung. Sein Vater war Mechaniker, seine Mutter arbeitete in einer Grundschule als Sekretärin, seine kleine Schwester war manchmal eine Pest gewesen, aber trotzdem liebte er sie. Ihre Wohnung, hier in Spandau, lag etwas außerhalb in einem ruhigeren Teil des Bezirks mit Blick auf den Wald. Manchmal wenn er zurückdachte, wäre ihm fast lieber, er könnte zerrüttete Familienverhältnisse für seine Situation, nein seine Lebensentscheidung, verantwortlich machen.
Mit siebzehn, damals war er noch Sebastian genannt worden, hatte er sich bei Nacht und Nebel vom Acker gemacht. Seinen Eltern hatte er einen Brief hinterlassen und sein Konto leer geräumt. Er hatte gerade seine Mittlere Reife abgeschlossen und war drauf und dran gewesen, noch sein Abitur zu machen. Nun ja, jedenfalls hatten seine Eltern dies gewollt. Der Abend, an dem seine Eltern ihm ihre Pläne für seine Zukunft mitgeteilt hatten, war ihm bis heute in Erinnerung geblieben.
Zwei Wochen nach seinem Abschluss hatten seine Eltern ihn ins Wohnzimmer gerufen und ihm ihre Pläne für seine Zukunft mitgeteilt. Sie selbst hatten zwar kein schlechtes Leben geführt, aber für ihn und seine kleine Schwester Lisa hatten sie definitiv höhere Ziele gesteckt. Dieses Verhalten legten sicherlich viele Eltern an den Tag, doch warum es ihm irgendwann passieren musste, wusste er nicht. Bisher hatten sie es in Grenzen gehalten. Sein Vater hatte gewollt, dass er in einen Sportverein eintrat, seine Mutter lieber, dass er ein Instrument lernte. Am Ende hatte er beides getan. Immerhin war er den Ballettstunden entkommen, die seine kleine Schwester hatte erdulden müssen, obwohl sie keine Lust darauf gehabt hatte. Etwas Gitarre zu spielen und sich im Handball zu versuchen, hatte ihn nicht umgebracht, doch eigentlich hatten seine Interessen bei wesentlich simpleren Dingen und dem Reisen gelegen.
An jenem Abend eröffneten ihm seine Eltern, dass sie ein Gymnasium für ihn ausgesucht hatten. Sie wollten keine Kosten und Mühen scheuen - sogar zweisprachig, in Deutsch und Englisch, wurde dort unterrichtet. Alles nur, um danach ein gutes Studium beginnen zu können. Sie versicherten Sebastian immer wieder, dass sie alles für ihn und Lisa tun würden. Egal wie hoch die Kosten sein würden.
Sebastian hatte sie angesehen und vor seinem Auge hatte er sich ausgemalt, wie er noch viele Jahre lang lernen musste. Erst in staubigen Klassenräumen, danach in Hörsälen. Bei diesem Gedanken war ihm kalt geworden. Damals hatte er seine Eltern gefragt, was aus seiner Idee mit dem Freiwilligen Ökologischen oder Sozialen Jahr geworden war. In seiner Vorstellung hätte er sich irgendwo in der Welt ein Projekt suchen können. Vielleicht in Europa, vielleicht aber auch in der Entwicklungshilfe. Hauptsache erst einmal die Welt erkunden und dabei zu sich selbst finden. Die Hilfe, die er dabei für andere hätte sein können, wäre dabei nur ein Bonus gewesen. Es hatte ihn hinaus in die Welt oder zumindest raus aus Berlin gezogen. Wenigstens raus aus Spandau, denn das war im Grunde ja nicht Berlin. Doch das war eine andere Geschichte.
Sebastian hatte sich die Pläne seiner Erziehungsberechtigten ruhig angehört, danach hatte er versucht, sie von seinen eigenen Plänen zu überzeugen. Daraufhin hatten sie sich lautstark gestritten und er war auf sein Zimmer geschickt worden. Dort waren die ersten zaghaften Gedanken, wie es wohl wäre, alles einfach auf eigene Faust zu machen, gekommen. Natürlich war er noch minderjährig gewesen, aber nicht mehr für sehr lange. Danach hatten seine Eltern ihm sowieso nichts mehr befehlen können. Die Frage war nur gewesen, wie sich das Ganze umsetzen ließ.
Seine Pläne zu vollenden, hatte noch einige Monate in Anspruch genommen, in denen seine Entscheidung aber mit jedem Tag gefestigt worden war. Die Auseinandersetzungen mit seinen Eltern hatten immer weiter zugenommen. Die Strafen hatten mit Hausarrest begonnen, dann hatten sie ihm jegliches Taschengeld gestrichen und am Ende hatte er sich praktisch eingesperrt gefühlt. Zwei Tage vor seiner Flucht, hatte er von seinem Sparkonto bis auf wenige Euro alles Geld abgehoben. Er hatte gewusst, dass es nicht ewig reichte, aber wenn er nebenbei immer mal etwas arbeitete, würde er sich schon einige Zeit über Wasser halten können. Am ersten Advent hatte er seiner Familie einen Brief hinterlassen, seinen großen Reiserucksack genommen und sich auf das erste große Abenteuer in seinem bisher tristen, gradlinigen Leben begeben.
Ein Schatten fiel auf Sky und brachte ihn zurück ins Hier und Jetzt. Ein zahnloses Gesicht, das er zu kennen glaubte, schaute auf ihn herab. Sky blickte den Mann an, der Fremde sah zurück, sagte aber nichts. Sky vermutete, dass er einer der vielen Obdachlosen war, die man eben traf, wenn man selbst auf der Straßen lebte. Ein paar Sekunden starrten sich die beiden ungleichen Männer an, dann verschwand der Ältere ohne ein Wort. Sky sah ihm stirnrunzelnd nach. Ja, er war nun auch einer von ihnen.
Das erste Weihnachten weg von Zuhause hatte er in Portugal verbracht. Von Deutschland aus, war er mit dem Zug durch Frankreich und Spanien gefahren, hatte sich die Märkte angesehen und war am Ende in Lissabon gelandet. Dort hatte er sich ein billiges Zimmer genommen und sich den Einheimischen zur Mitternachtsmesse angeschlossen, auch wenn er kein Wort verstanden hatte. Die Freiheit zu haben, alles in Ruhe zu erkunden, die Welt auf sich wirken zu lassen, hatte ihm eine tiefe innere Ruhe gegeben. Es hatte ihn ein paar Wochen dort gehalten, bevor es ihn weitergezogen hatte. An die meisten Dinge erinnerte er sich noch sehr gerne. Wie die durchzechte Nacht in Rom, als er seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert hatte und nicht allein in seinem Hotelzimmer gelandet war, oder die Arbeit auf einem kleinen Bauernhof in Griechenland. Aber auch dunkle Dinge waren ihm auf seiner Reise passiert. Einen Raubüberfall hatte er mit leichtem Schock und zum Glück wenig Verlust überstanden, genauso wie den Marktstandbetreiber, der ihn für seine Arbeit nicht hatte bezahlen wollen. Auch ein bisschen Liebeskummer war ihm vergönnt gewesen, aber für ihn hatte das alles dazugehört, um sich selbst und herauszufinden, was er aus seinem Leben machen wollte.
Der Tag, an dem er beschlossen hatte, endgültig in seine Heimat zurückzukehren, war ein dunkler Moment in seinem jungen Leben gewesen. Daran zurückzudenken, brachte ihn noch immer fast um den Verstand. Rückblickend konnte er selbst heute nicht verstehen, wie das alles geschehen war. Er hatte Jesko in London kennengelernt. Zu diesem Zeitpunkt war er praktisch pleite gewesen und hatte bereits dort auf der Straße gelebt. Wenn eine Stadt wirklich teuer war, dann die Hauptstadt Großbritanniens. Jesko war ihm in einem Club aufgefallen, weil er sich völlig losgelöst und fast wie verrückt benommen hatte, allerdings ohne dabei gefährlich zu wirken. Es hatte ein bisschen den Anschein gehabt, als hätte er nichts zu verlieren, und Sebastian war fasziniert gewesen, da es ihm selbst gelinde gesagt beschissen gegangen war. Er hatte sich ein Herz genommen und ihn angesprochen und sie hatten sich auf Anhieb verstanden. Wie sich herausgestellt hatte, hatte Jesko, der ursprünglich aus Bulgarien kam, seit etwas mehr als einem halben Jahr in London gelebt, ursprünglich hier studieren wollen, dann aber beschlossen, dass er lieber arbeiten wollte. Seitdem hatte er fünf Tage die Woche in einem Restaurant geschuftet, was ihm immerhin so viel Geld eingebracht hatte, dass er sich ein kleines Zimmer in einer Wohngemeinschaft hatte leisten können. Da Sebastian mehr oder weniger ein Streuner gewesen war, hatte der Bulgare ihn unter seine Fittiche genommen. Fast hatte er sich wie ein Straßenkater, der ein neues Herrchen bekommen hatte, gefühlt.
Ein paar Wochen hatte er so ein Leben zwischen Londons Straßen und Jeskos Wohngemeinschaft geführt und tatsächlich begonnen, sich heimisch zu fühlen. Sebastian hatte begonnen, sich zu informieren, wie man auch als Ausländer eine Arbeitsgenehmigung bekam oder ob es möglich war, sogar eine Ausbildung anzufangen. Er hatte seine Zukunft dort gesehen und dies auch Jesko an einem Abend, als sie gemeinsam am Ufer der Themse gesessen und in den Himmel gesehen hatten, erzählt. Man hatte dort leider fast keine Sterne sehen können, aber er hatte gewusst, dass sie da gewesen waren. Es war sehr düster gewesen und nur wenig Mondlicht hatte den Himmel, der beinahe grau ausgesehen hatte, erhellt. Jesko hatte ihn lächelnd angesehen ihm gesagt, das seine Augen die gleiche Farbe hätten wie der Himmel über ihnen. Dann hatte er ihm seinen neuen Namen verpasst. Sebastian hatte den Spitznamen sofort gehasst und gewusst, dass es die leichten Drogen gewesen waren, die Jesko zu so einem Einfall verleitetet hatten. Ihm fiel immer nur dieser Schauspieler ein und es klang so klischeehaft und schmalzig. Jesko war jedoch dabei geblieben und so war sein neuer Name geboren gewesen: Sky.
An das was kurz darauf geschehen war, wollte er sich nicht erinnern. Zu schmerzvoll waren die Gedanken an den Moment, indem er realisieren musste, dass nicht nur Jeskos Leben in London ein Ende gefunden hatte. Nur vage ließ er die Erinnerung an den Körper, den er gemeinsam mit Jeskos Mitbewohnern gefunden hatte, zu.
Nichts war von dem vor Leben sprühenden Mann übrig geblieben, nur die Hülle und ein kleines Tütchen, mit irgendeinem verschnittenen Zeug. Für die Polizei war er ein weiterer Drogentoter gewesen, für Sky das Ende seines friedlichen Lebens. Wortwörtlich, denn Jeskos Name bedeutete genau das und im übertragenen Sinn. Es war wieder beinahe Weihnachten gewesen und sein Leben hatte sich ein weiteres Mal drastisch geändert. Bis heute war ihm schleierhaft, wie er den Weg über den Kanal zurück nach Deutschland geschafft hatte. Alles was zwischen dem grauenhaften Moment in der Wohnung und seiner Ankunft in Berlin stattgefunden hatte, war eine gruselige Mischung aus Verdrängung und Alkohol, aber ohne Drogen.
Langsam wischte Sky sich eine Träne von der Wange. Er würde ihn nie vergessen und zu seinem Gedenken auch seinen neuen Namen weiter behalten. Sebastian war damals in London verschwunden und Sky war geboren worden. Mittlerweile waren auch über Spandau die Sterne aufgegangen und hier konnte man tatsächlich ein paar davon sehen. Zitternd erhob er sich von seinem Lager und streckte sich erst einmal ausgiebig. Seinen Schlafsack verstaute er in seinem großen Rucksack und machte sich auf den Weg zum Glühweinstand, um seinen Becher zurückzubringen. Heute Nacht würde er wahrscheinlich draußen schlafen, danach konnte er sich überlegen, wie es weitergehen würde. An manchen Abenden konnte er bei Bekannten unterkommen oder in einer Einrichtung, aber eigentlich wollte er endlich wieder auf die Beine kommen.
Gedankenverloren machte er sich auf den Weg durch die gut besuchten Straßen. Meistens schaffte er es, die Erinnerungen zu verdrängen, doch so kurz vor Weihnachten holte sie ihn nun wieder ein. An einem Stand mit Papiersternen, die man beleuchten konnte, hielt er einen Moment inne. So einen würde er sich holen, wenn er je eine eigene Wohnung bekommen sollte. In London hatte er die ersten Schritte getan und hier in Deutschland würde er es auch schaffen. Hilfsstellen gab es eigentlich genug und solange sie ihm eine gewisse Unabhängigkeit erhielten, war er auch bereit, etwas dafür zu tun. Am Rathaus setzte er sich auf die Mauer und sah den Menschen dabei zu, wie sie sich treiben ließen. Die Weihnachtsmusik lullte ihn ein und so bemerkte er nicht sofort, dass eine Gruppe junger Mädchen vor ihm angehalten hatte. Als er sie dann doch direkt ansah, legte er nachdenklich den Kopf zur Seite und musterte die Mädchen. Besonders eines, das ihn direkt anstarrte und dafür von ihren Freundinnen kichernde Kommentare erhielt. Wie alt mochten die Gören sein? Vielleicht fünfzehn oder sechzehn? Erst als er genauer hinsah, dämmerte ihm so langsam, warum das Mädchen mit der lächerlichen Weihnachtsmütze stehen geblieben war. Die grauen Augen sahen ihn entsetzt an, die braunen Haare, die unter der Mütze hervorschauten, waren ihm so vertraut, denn wenn er in den Spiegel sah, konnte er die Gleichen sehen. Lisa.
Es dauerte einen Moment, bis er sich soweit gefangen hatte, dass er sich der Lage bewusst war. Hier, mitten auf dem Weihnachtsmarkt, stand ihm seine kleine Schwester gegenüber, mitten in einer Schar schnatternder Gänse, die sich scheinbar über ihn lustig machten. Sie war groß geworden in den zwei Jahren, die sie sich nicht gesehen hatten. Fast erwachsen wirkte sie mit ihren sechzehn Jahren. Lisa selbst hatte ihre Sprache endlich wiedergefunden und es geschafft, ihre Freundinnen vorerst weiterzuschicken. Diese verstanden natürlich nicht den Hintergrund ihrer Reaktion und zogen sie weiter mit Sprüchen auf, die auch anzüglich waren oder sie mit »Liebe auf den ersten Blick« neckten. Erst nachdem die anderen weg waren, setzte sie sich schweigend zu ihm.
»Du lebst also«, stellte sie nüchtern fest. Ihre Stimme war etwas tiefer und dunkler geworden als er sie in Erinnerung hatte. »Ich habe dich gleich erkannt, Sebastian.«
Seinen richtigen Namen aus ihrem Mund zu hören war so ungewohnt, dass er kurz versucht war, sich umzudrehen und sich zu fragen, wen sie meinte.
»Ja«, brachte er armselig hervor. »Wie du siehst.«
Lisa sah ihren Bruder nachdenklich an. »Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, was ich nun sagen soll. Es ist so lange her und es ist so viel geschehen, seitdem du einfach abgehauen bist.« Nachdenklich ließ sie die Beine baumeln und sah zum Himmel auf. Die vielen Menschen um sie herum waren vergessen.
»Sie haben mir keine Wahl gelassen, Lisa.« Sky sah sie nun von der Seite an. »Ich habe versucht, ihnen zu erklären, was ich möchte, doch sie wollten mich in eine Welt zwingen, die nicht meine war. Es tut mir leid, dass ich dich mit ihnen allein gelassen habe. Aber ich habe doch ab und zu geschrieben.«
Es war eine sehr lahme Entschuldigung und er wusste es.
»Die paar Postkarten? Seit fast einem Jahr haben wir nicht einmal so eine bekommen. Die Letzte war aus London.«
London. Allein der Name der Stadt brachte sein Herz beinahe zum Stillstand.
»Lass uns nicht über meine Reisen reden. Wie geht es Mama und Papa?« traute er sich, nun vorsichtig zu fragen.
»Interessiert dich das wirklich?«
Sky dachte einen Moment über die Frage nach und nickte dann. Seit er wieder hier war, hatte er mehrfach überlegt, seine Familie aufzusuchen. Er war sogar öfter zu ihrem Mietshaus gefahren und hatte zum Fenster hochgeschaut, doch den Weg bis zur Klingel hatte er nicht gewagt. Einmal hatte er auch geglaubt, seine Mutter in einem Supermarkt gesehen zu haben, doch sicher war er sich nicht gewesen.
»Sie hatten schwer mit deinem Weggang zu kämpfen, aber im Großen und Ganzen geht es ihnen gut. Ich glaube, sie haben dich zwar nicht abgeschrieben, aber sie haben sich wohl damit abgefunden, dass du nicht zurückkommen willst. Willst du doch nicht, oder? Obwohl du hier bist, ganz in unserer Nähe?«
Lisa sah dabei auf seinen großen Rucksack, der aussah, als würde er gleich wieder auf Reisen gehen wollen. Ihre Stimme klang sehr vorwurfsvoll und Sky konnte es ihr nicht einmal verdenken.
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, Lisa. Immerhin bin ich sogar nach Spandau zurückgekehrt oder? Hab eine Zeit in Berlin auf der Straße gelebt, aber ich dachte, das kann ich auch genauso gut hier.«
Zu seiner Freude lächelte seine Schwester nun doch über diesen Insiderwitz, den man wohl nur hier verstand.
»Ich habe dich vermisst,« nuschelte sie dann leise und bevor Sky richtig reagieren konnte, hatte sie sich ihm an den Hals geschmissen. Ohne genau zu wissen, wie er damit umgehen sollte, erwiderte er die Umarmung vorsichtig und unsicher, genoss es aber tatsächlich irgendwie. Lisa strahlte eine Wärme aus, die nicht nur Körperwärme war, sondern auch sein Herz etwas auftaute.
»Du müffelst«, brachte sie dann leicht schniefend hervor und Sky musste lachen.
»Nun ja, ich habe auch keine Wohnung, wo ich regelmäßig duschen könnte. Du hast dafür viel zu viel Vanilledeo an dir.«
»Das sagt Papa auch immer. Willst du nicht .... sollen wir .... möchtest du sie nicht doch sehen? Ich komme auch mit und halte deine Hand. Es wäre so schön, wenn du Weihnachten wieder bei uns wärst.«
Sky schüttelte den Kopf. Dafür war er noch nicht bereit und hier neben seiner kleinen Schwester zu sitzen, war zwar schön, aber auch unwirklich und beinahe etwas zu viel.
»Es tut mir leid, aber noch geht das nicht, Lisa. Vielleicht bald, aber ich bin noch nicht bereit mich ihrer Enttäuschung und den Vorwürfen zu stellen.«
»Darf ich ihnen erzählen, dass ich dich getroffen habe?«
Sky dachte ernsthaft darüber nach. Was würde es schon ändern, wenn seine Eltern wüssten, dass er am Leben war und es ihm einigermaßen gut ging? Vielleicht würde das ein mögliches Wiedersehen etwas erträglicher machen. Langsam nickte er seiner Schwester zu.
»Ja, aber sag ihnen gleich, dass wenn ich nach Hause komme, es nur zu Besuch ist und ich mich ihnen nicht unterordnen werden.«
Lisa sah ihn traurig an. »Du lebst also lieber auf der Straße, als deine Familie um Hilfe zu bitten.«
Darauf konnte er nichts sagen und immer wenn er nicht wusste, wie er mit einer Situation umgehen sollte, entschied er sich zur Flucht. Langsam stand er auf, legte Lisa eine Hand auf die Schulter und lächelte sie bitter an.
»Ich möchte mir hier ein neues Leben aufbauen, ein eigenes vor allem. Auf meinen Reisen habe ich viel gelernt und weiß, dass ich mich nie wieder jemandem wirklich werde unterordnen können. Auf der Straße ist es gar nicht so schlimm, wenn man weiß, wie es geht, auch wenn es im Winter verdammt ungemütlich werden kann. Mach dir keine Sorgen. Gib mir deine Handynummer und ich verspreche dir, ich melde mich. Dann können wir noch mal in Ruhe reden und du erzählst mir davon, wie es dir ergangen ist. Aber ich brauche Zeit.«
Lisa schob ihre Unterlippe vor und sah ihn trotzig an, ein Ausdruck, der sich in den Jahren nicht verändert hatte. Dann zog sie einen alten Kassenzettel aus ihrer Handtasche und kritzelte ihre Nummer darauf.
»Versprochen?«
»Versprochen!«
Lisa lächelte ihn an, umarmte ihn noch einmal und lief dann in die Richtung, die ihre Freundinnen eingeschlagen hatten. Nun wusste er zumindest, dass seine Schwester ihn nicht völlig hasste. Vielleicht war das ein gutes Zeichen. Tief durchatmend, sah er zum Himmel, der ganz anders zu sein schien als der, der ihm seinen neuen Namen eingebracht hatte, und sah direkt auf den Polarstern. Es war keine Sternschnuppe, aber vielleicht ein Zeichen, der Sache eine Chance zu geben.