Der Wind peitschte den kalten Regen in ihr Gesicht. Ihre Füße flogen beinahe über die gepflasterte Straße, so schnell rannte sie, um diesem Unwetter zu entkommen.
Ihr langes Haar klebte bereits strähnig an ihrem Kopf, genau wie ihr Gewand. Heute ignorierte sie selbst den See, an dem das Ziel ihrer hastigen Schritte lag und den Garten, in dem Rosen erblühten.
Keuchend kam sie vor der hohen Tür des Schlosses in Telrúnya zum Stehen.
Sie blickte hinauf zum Fenster, das über den Türflügeln angebracht war. Es stand offen und so hob sie die Hände wie ein Sprachrohr an ihren Mund und rief: „Merenwen! Öffne die Tür oder soll ich hier draußen Wurzeln schlagen? Es gießt in Strömen.“
Kurz war die Schnauze eines Wolfes am Fenster zu sehen und schon bald öffnete sich der Türflügel knarrend. Merenwen stand in voller Größe da. Ihr schwarzes Haar fiel schulterlang herab und ihre braunen Augen lächelten vergnügt.
„Ich wusste nicht, dass du ein Setzling bist wie meine Rosen, Lad“, lachte sie und ergriff ihre Freundin am nassen Ärmel, um sie hereinzuziehen. Hinter ihr schloss sie die Tür und schob den Riegel davor.
Lad fuhr sich durch ihr nasses Haar und lachte auf. „Komm bloß nicht auf die Idee und grab mich ein. Das würde mir gar nicht gefallen.“, scherzhaft drohend hob sie einen Finger und streifte die Stiefel ab, trat jene in eine Ecke neben der Tür, „Wie geht es den anderen? Ist Edwin wieder gesund?“
„Gesund und Xantha vollends verfallen, seit sie sich so gut um ihn kümmerte. Er schwärmt nur von ihr, wenn ich nach ihm sehe.“, Merenwen gluckste kichernd und folgte Lad, die zielstrebig in ihr Zimmer ging. Ein Zimmer, dessen steinerne Wände mit Landkarten und Schriften verhangen waren, dessen Bett aus Rosenholz war und in dem sie jetzt seit einer halben Ewigkeit wohnte.
Sie öffnete die Türen ihres Kleiderschrankes und holte frische Sachen heraus. Merenwen wartete geduldig, bis sie sich in trockeneres Gewand gehüllt hatte und begleitete sie dann zu Edwins Zimmer.
Edwin, ein Soldat des Landes Astila, war seit dem letzten Herbst der jüngste Gast in Merenwens Schloss. Als Xantha ihn eines Abends herbrachte, war er verwundet und hatte hohes Fieber. Lad war losgeeilt, um Kräuter für Medizin zu sammeln und gemeinsam hatten sie seine Wunde versorgen können. Seit diesem Tag lebte er hier mit ihnen. Das Schloss war groß und er konnte ein eigenes Zimmer haben und als sie merkten, dass sein Bein gebrochen war, versorgten sie auch das über viele Monate hinweg. Anfangs hatte er sich noch gesträubt und wollte zurück zu seiner Einheit, doch irgendwann brach sein Widerstand und er ließ die Behandlung über sich ergehen. Als er genesen war, hatte er keinen Grund gesehen, um gleich aufzubrechen und blieb bei ihnen, um ihnen mit der Gartenarbeit und dem Dach des Schlosses zu helfen, das an manchen Stellen durch die Last des Schnees im Winter Schaden erlitten hatte. Daneben nutzte er die Zeit, um seine Schwerttechnik an der alten Vogelscheuche zu verbessern und Xantha nachzustellen, in deren dunklen Rehaugen er sich verlaufen hatte.
In der letzten Woche hatte er sich nach einem Bad im See über ein Kribbeln in der Nase beschwert und bald darauf blieb er im Bett liegen und jammerte über Kopfschmerzen und die Tatsache, dass er nicht genug Taschentücher besaß. Merenwen rächte sich, in dem sie ihrem Erkältungstrunk nicht das beifügte, was ihn zumindest angenehmer schmecken ließ. So war die Medizin bitter und selbst Xantha musste lachen, als Edwin sich vor Grauen schüttelte.
„Guten Morgen Schlafmütze!“, sang Merenwen als sie Edwin sah, der sich im Bett räkelte und die müden Augen rieb, „Wie lange gedenkst du noch zu schlafen?“
Edwin war ein junger Mann, der einen halben Kopf größer als Lad war, mit brünettem Haar und stechend grünen Augen. Sie konnten beide verstehen, warum Xantha ihn vom Rand des Schlachtfeldes entführt hatte.
Gähnend blinzelte er zur Tür, von wo aus ihn zwei Augenpaare, ein braunes und ein graues, beobachteten. Er schmunzelte und griff nach einem Kissen, um es in ihre Richtung zu werfen: „Solange wie mich eine Elfe und ein Wolf lassen! Kann ein Mann sich hier gar nicht ausruhen?“
Lad wich dem Kissen elegant aus und schob sich ins Zimmer. „Gib es zu, wenn es Xantha wäre, wärst du glücklich und würdest vor Freude aus dem Bett springen.“
„Vermutlich“, eine tiefe Röte schlich sich in sein Gesicht und er zog die Decke über den Kopf, „Haut schon ab. Ruft mich, wenn es Essen gibt.“, klagte er, doch seine Stimme verriet ein unterdrücktes Kichern. Sie waren schon ein eigenartiger Haushalt, wie er es bereits vom ersten Tag an empfand. Ein Mensch, eine Elfe und eine Wölfin teilten sich in einem alten Schloss, dessen zweiter Turm schon vor langer Zeit eingestürzt war, ihr Zuhause und hatten ihm, Edwin, ebenfalls ein Zimmer hergerichtet.
„Eindeutig gesund“, stellte Lad fest und wandte sich um, um das Kissen aufzuheben und zurück aufs Bett zu schleudern.
Später saßen sie zusammen mit Xantha vor dem Kaminfeuer des Wohnzimmers. Merenwen hatte ihre Wolfsgestalt angenommen und Lad sich mit dem Rücken an ihre weiche Flanke gelehnt. Ihr Haar war inzwischen getrocknet und wellte sich leicht.
Auch Xantha hatte am Boden auf einem Kissen Platz genommen. Die Lehnstühle und Bänke des Raumes setzten bereits Staub an, so selten wurden sie von den Dreien verwendet. Ihnen reichten ein paar große Polster vor dem offenen Feuer.
„Gibt es Neuigkeiten?“, fragte Xantha und musterte Lad eindringlich aus ihren dunklen Augen. Sie meinte damit, was ihre spitzohrige Freundin in der Stadt über die Schlacht, die vor einiger Zeit stattgefunden hatte, in Erfahrung bringen konnte, denn in diese Schlacht war jemand gezogen, an den Lad ihr Herz verschenkt hatte oder zumindest glaubte sie, ihn gesehen zu haben. Aus weiter Ferne, denn das letzte Mal, dass sie ihn sprach, lag schon lange zurück.
„Nichts. Weder Gefangenschaft noch bestätigter Tod. Er ist einfach... weg. Seit fast einem Jahrzehnt“, sie hob die Hände, als wolle sie etwas greifen und ließ sie seufzend sinken, „Ich kenne nicht mal seinen Namen und trotzdem mache ich mir Sorgen. Ich verfolge jede Schlacht in dieser Gegend. Erkunde mich über jeden Krieg und sehe sein Gesicht nahezu überall, auch wenn es langsam vor meinem Auge verblasst. Vielleicht habe ich Angst, dass es nur mehr ein Schatten sein wird eines Tages. Eine Erinnerung, die sich meinen Fingern entzieht.“
„Das nennt man Liebeskummer“, murmelte Xantha in ihre Tasse und beäugte weiter ihre Freundin. Deren grauen Augen wirkten so betrübt, dass es ihr wehtat. Sie wünschte, sie könnte etwas für sie tun und dann wieder fiel ihr ein, dass früher oder später, sie selbst und Edwin ihr Kummer bereiten würden, denn sie waren Menschen, im Gegensatz zu Merenwen und Lad, die beide ein längeres Leben führen konnten.
„Hast du dich schon mal so sehr verliebt, Lad? Früher meine ich, bevor... Du weißt schon, bevor das passiert ist“, fragte sie neugierig und sah, dass auch Merenwen den großen Kopf hob und sie aus funkelnden Augen betrachtete.
Lad schüttelte energisch den Kopf. „Nein. Ganz sicher nicht.“, erwiderte sie mit eindringlichem Tonfall. Seufzend lehnte sie sich zurück, den Kopf soweit in den Nacken, dass er den Rücken des Wolfs berührte. Während das lange Fell ihre Ohren kitzelte, schloss sie nachdenklich die Augen. Sie war sich sicher noch nie etwas dergleichen gespürt zu haben. Erst recht nicht, bevor ihr Leben sich so drastisch veränderte hatte. Bevor sie solche Angst davor gehabt hatte zu sterben und bevor sie Merenwen kennenlernte, die sie aufnahm und akzeptierte, wie sie war. Sie würde der Wölfin immer dankbar sein für dieses Asyl, dieses Zuhause, dass sie Xantha und ihr gegeben hatte.
Es klopfte an der Tür, ehe sie mit einem leisen Quietschen der Scharniere aufging. Prompt wanderten drei Augenpaare zu dieser. Edwin steckte seinen Kopf mit einem entschuldigenden Grinsen durch den Türspalt. „Gibt es Essen? Ich bin am Verhungern. Es sind drei Frauen in diesem Haus und keine kocht mir was“, klagte er mit gespielt leidendem Tonfall, „Meint ihr etwa, ich wäre nun gesund genug, mich wieder selbst zu versorgen? Dann sagt Bescheid, bevor ihr mich rauswerft, ihr Unbarmherzigen.“
„Als dein Bein gebrochen war, warst du nicht so wehleidig. Möchtest du noch eine Tasse Kräutertee?“, Merenwen bleckte die Zähne und verzog ihr wölfisches Gesicht zu einem bösartigen Grinsen.
Sie konnten beinah sehen, wie sich Edwins feine Nackenhaare sträubten und er schüttelte sich beim Gedanken an den Geschmack seiner letzten Dosis. „Du bist wirklich ein Wolf, Merry“, winkte er mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen ab, „Ich trau mich nur nicht in die Küche, weil ich nicht weiß, ob das unserer guten Xantha recht wäre. Schließlich ist sie unsere Meisterköchin im Schloss, oder irre ich mich?“ Er zwinkerte der Angesprochenen schelmisch zu.
Xanthas Wangen erröteten sich schlagartig und sie ließ ihre Tasse sinken. Rasch erhob sie sich und fragte hastig: „Ich mach dir was. Hättest du gerne etwas Fleisch oder Eintopf? Kuchen?“ Schon war sie an seiner Seite und zwängte sich mit hochrotem Gesicht an ihm vorbei, dem bei dieser Nähe ebenfalls die Wangen zu glühen begannen, um mit ihm in die Küche zu gehen.
„Unsre beiden Turteltauben. So jung und süß“, Lad lächelte und fühlte sich zerrissen. Sie freute sich für Xantha, aber sie wünschte, sie könnte mit ihr tauschen. Wünschte, es wäre er und nicht Edwin, der vom Schlachtfeld hierhergekommen wäre, sich gesund pflegen ließ und bei ihr blieb.
Mit einem Ruck kam sie auf die Füße und fuhr sanft über Merenwens Fell, „Ich denke, ich werde auch gehen. Ein wenig Ruhe schadet sicher nicht.“
Sie winkte der Wölfin noch zu, als sie die Tür langsam schloss und die Treppe in ihr Zimmer emporstieg. Dort riss sie die großen Fenster auf und ließ die kühle Luft herein. Der Regen hatte noch nicht aufgehört, doch der Wind hatte sich gelegt. So lauschte sie, die Beine eng an sich gezogen, dem Gesang des Wassers, dass vom Himmel herabfiel.
Still und leise verharrte sie hier. Umgeben von all den Landkarten, die jene Orte zeigten an denen sie war und jene, an die sie noch reisen wollte. Landschaften mit ihren Flüssen und Bächen, Bergen und Tälern. Sie lehnte sich zurück und blickte um sich. Manche dieser Orte erkannte sie, obwohl sie selbst noch nie dort gewesen war, aber sie wirkten vertraut.
Ein Kummer hatte sich in ihr breit gemacht und sie schluckte schwer. Dieses Gefühl, das einst so warm war, war nun eine Bürde, die ihr Herz trug.
Es war nicht das erste Mal, dass sie jemanden verlor und bestimmt nicht das letzte Mal. Aber zum ersten Mal wollte sie es nicht wahrhaben. Sie wollte nicht glauben, dass die Erde ihn verschluckt hatte und ihre Augen ihr Streiche spielen sollten. Ihre Freundinnen hatten sie nicht gebremst. Sie ließen ihrer Sturheit den Platz, den sie brauchte und standen ihr bei, obwohl sie sich sicher war, dass Merenwen und Xantha längst alle Hoffnung aufgegeben haben.
Lad ließ ihren Blick über die Karten schweifen, bis er auf einer vergilbten, leicht angesengten Karte zum Ruhen kam. Abgebildet war das Land Aurenien und ihr Blick galt genau dem kleinen Punkt, der die Stadt Sideral markierte. Dort war sie aufgewachsen und dort hatte ihre erste Reise begonnen, nachdem sie aus dem Idyll, das ihre Eltern Astra und Meander für sie geschaffen hatten, gegangen war.
Sie schüttelte leicht den Kopf, um sich zu korrigieren. Nicht ihre Eltern, ihre Zieheltern. Sie hatten es ihr spät gesagt, doch sie hatte immer diesen Verdacht gehegt, denn sie sah ihnen nicht ähnlich. Dennoch liebte sie beide sehr und sie träumte noch heute, nach vielen Jahren, von dem Feuer, das sie verschlungen hatte.
Manchmal wachte Lad schweißgebadet auf, den Geruch von Rauch in der Nase, die Schreie Astras in ihren Ohren. Sie solle laufen und sich in Sicherheit bringen. Sie solle fortlaufen. Nur wohin, das wusste sie nicht.
Sie wusste noch genau, dass sie sich im nahen Wald der Stadt versteckt hatte und dort wartete, doch niemand kam und dann brach sie auf und verließ Aurenien.
Ihre Füße führten sie von einer Landkarte zur anderen. Ihre Finger malten die Routen nach, denen sie gefolgt war. Viele Städte hatte sich besucht, viele Bekanntschaften geschlossen. Die meisten flüchtig und ihr nicht allzu wichtig. Von hohen Bergen und grünen Tälern könnte sie erzählen, wenn man sie fragte. Doch das vorläufige Ende ihrer Reise fand sie in einer Stadt in der Wüste. Dort traf sie auch das erste Mal auf den Mann, der sie vom ersten Moment an faszinierte. Kurz schweifte ihr Blick hinüber zum Tisch, auf dem zwischen Kerzenständern ein Langschwert lag. Es war seins gewesen und er hatte es ihr gegeben, damit sie sich verteidigen konnte. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen als die Erinnerung sie einholte.