Große graue Augen blickten der Fai entgegen. Augen, wie ihre eigenen. Sie blinzelte und wiegte den Kopf amüsiert zur Seite.
„Nein. Einfach nein“, lachte Liadan als sie ihre Schwester sah, die einen Hundeblick aufgesetzt hatte, um sich vor diesem Abend zu drücken.
Fast ein Mondzyklus war vergangen, seit sich Lad mit Nyal ausgesprochen hatte und von den Briefen erfahren hatte. Eine Zeit, in der sie gedacht hatte, dass sich nun einiges ändern würde und dem war auch so. Allerdings nicht gerade nach ihrem Geschmack. Der Winter erreichte seinen Höhepunkt und dieser wurde gebührend mit dem Fest der Lichter gefeiert, bei dem ein jeder die Wende hin zum Frühling feiern wollte, der bald wiederkommen würde. Ein Frühling auf den sie, Lad, insbesondere hoffte, denn das Heimweh plagte sie und die Briefe, die Merenwen ihr geschickt hatte, waren voller Rätsel. Sie schrieb von einem großen Ereignis, aber verriet nichts Genaueres und hatte damit ihre Neugier geweckt. „Du wirst es noch früh genug sehen!“, hatte in einem Brief gestanden, den sie am Kamin gelesen hatte. Früh genug... Lad hatte die Zeilen angestarrt und wieder und wieder gelesen. Weshalb war 'früh genug' nicht schon morgen?
Diese Frage ging ihr nicht aus dem Kopf. Auch nicht, als Nyal beschlossen hatte, dass sie ihrer Jüngsten alles beibringen musste, was es zu wissen gab an Regeln, Vorschriften, Bräuchen und dem richtigen Verhalten auf dem Fest. Schließlich war sie, mittlerweile zu ihrem Leidwesen, die Nichte des Königs, Tochter einer Prinzessin Aureniens und sollte ihrer Familie keine Schande bereiten.
Liadan kannte die Prozedur bereits, denn sie hatte jene als Kind miterlebt und half ihrer Schwester, wo sie nur konnte. Doch auch sie war der Ansicht, dass es an der Zeit war aus dem Wildfang eine standesgemäße Dame zu schaffen, die nicht nur auf dem Schlachtfeld glänzen konnte, sondern auch im Rock eine gute Figur machte.
Nun war der Abend gekommen, den die Fai herbeigesehnt hatten und vor dem Lad sich fürchtete. Es war der Nachmittag am Tag des Festes der Lichter und sie stand vor Liadan. Gehüllt in ein nachtblaues Kleid, das mit silbernen Perlen verziert war, die wie Sterne schimmerten, wenn sie sich bewegte. Ihre Füße steckten in neuen Stiefeln aus dunklem Leder und ihr langes Haar war zu einem lockeren Zopf geflochten.
„Für das Fest im Herbst habt ihr auch nicht so einen Aufwand betrieben“, kam es murrend von ihr, „Bitte Lia! Sag Nyal, das ich krank bin oder mir den Knöchel verstaucht habe und nicht reiten kann. Bitte!“
„Nein“, die blonde Fai lachte. Sie trug ebenfalls ein elegantes Kleid, jedoch von der Farbe roten Weins. „Du weißt, sie würde herkommen und sich selbst überzeugen wollen, dass es dir nicht gut geht. Wenn sie nicht sogar eine Horde Heiler anschleppt. Sie liebt dich, Lad“, Liadan trat auf ihre Schwester zu und tätschelte dieser aufmunternd die Schulter, „Du schaffst das schon. Mittlerweile kennst du doch ein paar der Fai, die dort sein werden. Ich habe Roland und Fenrod als Begleiter eingeladen.“
„Nyal sagt, ich muss auch tanzen, weil alle tanzen werden“, Lad verdrehte die Augen und seufzte. Allein der Gedanke, das sie vielleicht mit Liadan eine der Ersten sein könnte, die den Tanz eröffnete, ließ eine leichte Übelkeit in ihr ansteigen.
„Ach komm. Es ist nicht so schlimm und wir haben doch geübt. Daeron erklärte sich sogar bereit, dein Tanzpartner zu sein, falls du dich mit niemandem sonst traust. Fürs Erste jedenfalls. Seine Frau wird ihn sicher ungern teilen“, sie schob sich hinter Lad und begann diese mit Nachdruck zum Gehen zu bewegen.
Die Hacken ihrer neuen Schuhe fest in den Boden gestemmt, stolperte Lad die ersten Schritte nach vorne, als Liadan sie schob. Dann ergab sie sich seufzend ihrem Schicksal, ergriff den langen Umhang und warf ihn sich über. Draußen schneite es und sie mussten erst zum Fest reiten. Nyal hätte ihnen liebend gern einen Schlitten geschickt, aber Liadan wollte nicht, dass wegen ihnen besonderer Aufwand betrieben wurde.
Es reichte, dass Lad so schon ein Nervenbündel war, das mehr missgelaunt als fröhlich auf ihr Pferd kletterte und skeptisch die Schleifen und Glöckchen in der Mähne in Augenschein nahm.
Schneeflocken verfingen sich auf ihrem Ritt in die Königsstadt in ihren Haaren. Schimmerten hell in Lads dunklem Zopf.
„Warum kann ich nicht einfach im Haus bleiben und ein Buch vor dem Kamin lesen?“, fragte sie erneut, in einer letzten Hoffnung ihre Schwester doch noch umzustimmen und rutschte unruhig auf ihrem Sattel. Es war nur eine Fassade, die sie zeigte. Ein Schauspiel, das sie an den Tag legte, so kam es ihr vor. Ein Kleid zu tragen war ein eigenartiges Gefühl, vor allem ein Festliches. Sie warf einen nachdenklichen Blick zur Reiterin. Die blondgelockte Fai erblühte sowohl in ihrer Rolle als Kommandantin, bei der sie einen festen Schritt an den Tag legte, als auch in der Rolle als Köngisnichte. Mit unverhohlenem Neid blickte sie ihre Schwester an. Auch nach den langen Tagen in Aurenien fühlte sich Lad noch wie ein Frischling und wünschte jeden Sonnenuntergang herbei, um ein Stück näher an ihrer Reise nach Hause zu sein. Ihr Zuhause. Fast einen gesamten Monat entfernt von der Heimat ihrer Familie. Ein Ort, an dem es egal war, wie sie sich gab und wo sie alles sein konnte, was sie wollte. Sie musste niemandem Rechenschaft schulden oder ein Bild wahren, dass der Anstand gebot. Wie gern würde sie sich verkriechen, anstatt sich unters Volk zu mischen. Die Fai hatten ihre eigene Art gefunden, wie man mich ihr umgehen konnte. Die einen behandelten Lad wie ein rohes Ei, die anderen scharrten sich um sie mit Fragen zu ihrer Heimat, die dann erstaunte Blicke auslösten und wieder andere mieden sie, denn sie war fremd. In Carrakas war dieser Kontrast nicht so stark ausgeprägt, denn die Soldatenfamilien nahmen die Dinge, wie sie kamen, doch zu Hofe spürte sie stets neugierige und argwöhnische Blicke auf sich ruhen, die ihr eine Gänsehaut verschafften.
Liadans belustigtes Lachen durchbrach ihre Gedanken. Natürlich kam es einem Fauxpas gleich, wenn ausgerechnet sie, Lad í Sathil, die wiedergefundene Tochter von Nyal und Khirani, einem der größten Feste der Fai fernblieb.
Kurz vor Sonnenuntergang erreichten sie die verschneite Hauptstadt. Wie bereits bei ihrem ersten Besuch hier, war auch heute der Zugangsweg vom Tor zum Palast erleuchtet. Blaue und weiße Girlanden waren an den Seiten befestigt und Kerzen brannten in bunten Gläsern am Boden zu beiden Seiten.
Liadan hatte Roland und Fenrod als Begleiter für sie beide eingeladen. Beide Fai warteten schon bei den Ställen auf sie. Lad schmunzelte. Die beiden waren einfache Soldaten von Liadans Reiter-Turma und hatten offensichtlich ihr Bestes gegeben, um ein Gewand zusammenzustellen, das für den Abend angemessen war.
Mit Unsicherheit im Gesicht ergriff Lad die angebotene Hand von Roland, der leicht mit den Achseln zuckte. Sie konnte das nervöse Schlagen seines Herzens beinahe hören. Er war ebenso aufgeregt wie sie.
Gemeinsam schritten sie über den von Schnee geräumten Weg in Richtung der großen Flügeltüren. Musik schallte bereits zu ihnen herüber und das Gelächter der Fai, die sich auf dem Fest amüsierten. Neugierig überflog Lad die Versammlung, die sich ihr bot. Ein herrlich bunter Anblick im verschneiten Aurenien und Lichter. Überall Lichter in Girlanden, Laternen und großen Kerzen am Boden.
Tanis breitete die Arme weit aus, als seine Nichten den Eingang erreichten. Sein Gewand war prachtvoll mit den golden bestickten Säumen und dem großen Wolf, der seinen Rücken zierte. Sein Haar trug er offen, nur gebändigt von einer Binde, die sich an seine Stirn schmiegte. Nyal, die an seiner Seite stand, schloss Liadan fest in die Arme. Auch ihr Kleid war golden bestickt und vom gleichen Mitternachtsblau wie das von Tanis. Ihre Stirn wurde von einem Diadem gekrönt, das einen Halbmond in der Mitte aufwies.
„Ich freue mich so sehr, dass ihr hier seid“, flüsterte sie ihrer Älteren ins Ohr und zog, nachdem sie diese entließ, Lad eng an sich, die die Umarmung erwiderte.
„Nun scheinen die meisten Gäste endlich eingetroffen zu sein. Los doch. Amüsiert euch. Der Tisch ist reichlich gedeckt und es wird gefeiert, bis die Kerzen erlöschen!“, erklang die Stimme des Erzmagiers, der sich zu den Ankommenden gesellte und sie weiter in die große geschmückte Halle führte. An den Wänden standen lange Tische. Fein gedeckt mit weißen Tischtüchern und beladen mit einer reichlichen Auswahl an Speisen. Kerzen erleuchteten den Saal und Lad erblickte Fai, die auf einer erhöhten Bühne die Musik erzeugten, die alle in eine vergnügliche Stimmung versetzte.
„Möchtest du tanzen?“, Roland blickte sie fragend an und sie nickte, ermutigt durch die Melodie, die die geschickt gezogenen Saiten hervorbrachten.
Er führte sie in die Mitte des Saales, wo bereits Tanzpaare ihren Rhythmus miteinander gefunden hatten und sie ließ sich treiben. Die dunkelbraunen Augen, die er auf ihr ruhen ließ, halfen ihr, sich fallen zu lassen und für einen Moment zu vergessen, wo sie war und welche Sorgen auf diesem Land ruhten.
Dies war die Nacht der Lichter, das Fest der Fai, um das Ende und den Anfang zu feiern. Ein Anlass zur Freude, zum Tanzen und zur Musik. Der Kummer, der auf so vielen Schultern ruhte, schien durch die Macht des Gesanges einer einzelnen Sängerin abzufallen und alle in ein Land der Träume zu schicken.
Wirbelnd bewegten sie sich über das Parkett und sie lachte erst Mals frei auf, wie sie es seit Tagen nicht mehr so richtig getan hatte, als er ihre Taille erfasste und sie ein Stück hochhob, um sich mit ihr zu drehen. Stück für Stück lösten sich einzelne Strähnen aus dem Zopf und schon bald, fielen die Nadeln klimpernd zu Boden, die ihn gehalten hatten. Keiner achtete darauf. Am allerwenigsten Lad selbst, die den Kopf schwungvoll drehte, um ihre unbändige Mähne über die Schulter zu werfen.
Unermüdlich schienen die Finger der Musiker die Saiten zu zupfen, die Lippen zu Spitzen und der Flöte Töne zu entlocken. Auch der Gesang der Sängerin riss nicht ab.
So vergingen die Stunden und die Kerzen brannten immer weiter ab. Das Fest würde gehen, bis die Lichter im wahrsten Sinne ausgingen. Nyal hatte Lad erklärt, dass dies Tradition sei. Sobald die letzte Kerze abgebrannt wäre, würde man eine Neue entzünden, die von draußen hereingebracht wurde. Damit wollte man den neuen Anfang eines Jahres symbolisieren.
Noch immer lachend und mit erhitzten Wangen, wanderten Roland und Lad zum angerichteten Buffet, um eine Pause vom Tanzen einzulegen. Fenrod stand bereits dort und reichte ihnen ein Glas des Nektars, den Lad bei ihrem Eintreffen in Aurenien schon kennenlernte.
„Wo ist Liadan?“, fragte sie schmunzelnd und ließ den Blick für einen Augenblick wandern, bevor er zu den beiden zurückkehrte.
„Sie wollte mit Nysander sprechen. Vermutlich aus dem gleichen Grund wie letztes Jahr.“
„Welcher Grund?“, sie zog fragend eine Braue nach oben.
Roland wich ihren silbernen Augen scheu aus und auch Fenrod senkte die Lieder, bevor er antwortete: „Sie möchte, dass er die Geister befragt. Das ist zu dieser Stunde möglich. Um euren Vater zu finden, um zu wissen, wo er ist. Ob er wirklich gegangen ist oder was mit ihm geschehen ist. Nysander hat ihr schon letztes Jahr erklärt, dass dies ein kompliziertes Verfahren ist und die Geister gern in Rätseln sprechen, wie eben auch Orakel.“
„Ihr meint Khirani?“
Fenrod nickte. „Deinen und ihren Vater, Lad. Sag bloß, du hast dich nie gefragt, wo er ist.“
„Sie erwähnte, dass er verschwunden ist. Vor nun mehr zwei Sommern. Nyal und sie reden kaum über ihn. Es ist wohl zu schmerzhaft“, nun war es an ihr, die Augen niederzuschlagen.
„Verzeih. Ich wollte keine Wunde aufreißen“, Fenrod hob die Hände.
Die dunkelhaarige Fai schüttelte auflachend den Kopf: „Da gibt es nichts zu verzeihen. Manche Dinge sollen eben nicht sein und vermutlich war es unser Schicksal, dass wir uns nie besser kennenlernen durften. Aber erzählt mir doch bitte von ihm. Genauer von seinem Verschwinden. Es würde mich wirklich sehr interessieren, zu wissen, was geschehen ist. Liadan kann ich dazu nicht fragen. Sie würde mir nie Antwort geben und Nyal… Nyal würde vermutlich in Tränen ausbrechen.“
„Da magst du Recht haben. Lia hasst das Thema. Sie spricht nur mit Nysander darüber und da auch nur an einem Abend wie heute. Die Geister anrufen zur spätesten Tagesstunde, wenn alle Lichter erlöschen und eine neue Flamme geboren wird. Viele Fai pflegen diese alten Bräuche. Komm mit. Lass uns nach draußen gehen. Es muss nicht jeder hier im Umkreis mitanhören, was wir dir erzählen. Wir sind schon sehr lange in Khiranis Einheit gewesen, weißt du? Fenrod und ich haben zudem überlebt, was uns einige durchaus übelnehmen. Schau nicht so. Die Menschen sind doch genauso, so viel ich gehört habe. Wenn jemand stirbt oder verschwindet und ein anderer überlebt, dann nehmen es ihm seine Freunde und Verwandten übel, wenn der andere mehr geliebt wird.“
Roland öffnete die Flügeltüren auf den großen Balkon des Palastes. Die verschneiten Gärten lagen unter ihnen. Jemand hatte auch hier Sorge dafür getragen, dass die Wege beleuchtet waren. Mit einem mulmigen Gefühl trat Lad in die kühle Luft. Das letzte Mal, als sie hier stand, gab es einen Angriff auf die Stadt. Sie hoffte, dies würde in der heutigen Nacht nicht der Fall sein. Die Fai am Fest lachten, tanzten und sangen. Nur sie drei suchten den Schutz der Kälte, die unerwünschte Zuhörer fernhielt. Fenrod löste mit einer Bewegung den festlichen Umhang von seinen Schultern und legte ihn ihr um. Sie zuckte unter seiner unerwarteten Berührung zusammen und zog ihn dann dankend enger um sich.
„Wo soll ich beginnen?“, Roland lehnte sich mit dem Rücken an die Brüstung des Balkons, „Khirani entstammte einer alten Familie, die schon einige hervorragende Strategen und Soldaten hervorgebracht hatte. Er gelangt durch seinen Vater an den Hof und traf dort auf deine Mutter, Nyal. Es heißt, die beiden seien sofort Feuer und Flamme füreinander gewesen. So sehr er sie aber auch liebte, so sehr vermisste er das einfache Leben als Soldat, denn er war in einer Stadt im Süden von Aurenien, Carrakas nicht unähnlich, aufgewachsen und hatte sich dort einen Namen gemacht. Liadan ist bei der Reiter-Turma, wie du ja weißt. Dein Vater war mehr ein Mann zu Fuße. Sicher konnte er auch reiten, aber er war ein guter Kämpfer der Infanterie. Nicht fehlerlos, keinesfalls. Mit einem Langschwert war er längst nicht so gut wie mit Dolchen in den Händen, doch die konnte er ausgezeichnet einsetzen. Auf dem Schlachtfeld war er Stratege hinter den Linien. Am liebsten aber an vorderster Front bei seinen Männern. Fenrod und ich kämpften einige Male direkt neben ihm. Ich kann nur hoffen und üben, das ich einmal diesen Kampfgeist erlange, der ihn zu erfüllen scheint. Khirani hatte dieses Feuer in seinen Augen, verstehst du? Es war eine Leidenschaft, nicht nur eine Ausübung der Pflicht. Der Tag, an dem er verschwand, war ein dunkler für alle Soldaten seiner Einheit, nicht nur seiner Familie. Hätte man seinen Körper gefunden, wäre es vielleicht einfacher. Für alle. Versteh mich bitte nicht falsch, Lad.“
„Wie könnte ich? Es wäre möglich sich zu verabschieden, wenn man den Leichnam begraben könnte“, wandte sie ein und wandte den Blick Fenrod zu, der nun das Wort erhob: „Lia könnte dann auch zur Ruhe kommen… Hach ja. Der Tag, an dem das passiert ist. Es war ein Sommerabend und die Luft war noch so heiß wie der Boden der Ebene. Die Sonne war gerade untergegangen und wir waren darauf vorbereitet, dass die Skalaner angreifen würden. In Küstennähe. Dort haben wir bei den Dünen Aufstellung genommen und waren für alles gewappnet. Das dachten wir zumindest. Wir waren nicht für das gewappnet, was dann kam. Es würde zu lange dauern, um alles zu beschreiben. Kurzum, sie hatten ein paar ihrer Magier dabei und die löschten die magischen Lichter auf unserer Seite. Vollkommene Finsternis verschluckte alles und ich hörte nur mehr Schreie. Schreie und Gebrüll der anstürmenden Feinde. Schreie der Furcht und des Entsetzens aus den eigenen Reihen. Dann hörte ich Khirani, der uns zurief, wir sollen den Mut nicht aufgeben und ich sah ein Feuer auflodern. Nicht weit weg von mir. Ich sah Khiranis Gesicht, das von den Flammen erhellt wurde und den Ernst seiner Miene. Blut lief ihm darüber. Eine Schnittwunde an der Stirn. Irgendwie hat er es geschafft eine Flamme zu entfachen, denn er hielt eine Fackel in der Hand und wandte sich uns zu. Er rief uns zu, dass wir Stand halten sollen. Wir seien stark und würden diesen Kampf gewinnen. Nie werde ich vergessen, dass meine Beine schwach wurden und ich mich nicht bewegen konnte. Ein Gesicht, halb verborgen durch eine Kutte, tauchte auf hinter Khirani. Ein grausames Grinsen lag darin. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob es eine Skalaner war, ein Verräter oder ein Verbündeter von ihnen. Die Fackel spendete gerade genug Licht, als sie seinem Griff entglitt, um zu enthüllen, wie seine Augen sich weiteten, als Hände ihn packten. Die Pranken eines Ogers und noch andere waren darunter. Der Vermummte muss ein Magier gewesen sein. Anders kann ich mir nicht erklären, wie es sein konnte, dass Khirani sich nicht gewehrt hatte. Er wirkte so steif wie ein Stück Holz. Das blanke Grauen in seine Züge geschrieben und wir konnten uns nicht rühren. Ich wusste, dass Roland direkt neben mir war. Ich hörte seinen Aufschrei und ich wollte nach vorn stürmen, doch ich konnte nicht. Ich kam nicht vom Fleck. Das Schwert war schwer wie Blei in meinen Händen und sein Gewicht zwang mich in die Knie. Gezwungen tatenlos zuzusehen. Zu sehen, wie das Feuer erlosch, als Sand darauf fiel. Wie Khirani fortgeschleift wurde und der Schrei, der auf einmal alles übertönte. Danach war es still. Unheimlich still.“
Fenrods Wangen waren blass geworden und sein Blick war in eine Ferne geglitten, in die ihm niemand zu folgen vermochte.
Ihre grauen Augen ruhten auf den beiden und sie schluckte. Verwundert hob sie die Hand. Ihre Wangen waren nass und sie blinzelte. Woher kamen die Tränen?
„Was treibt ihr hier draußen? Kommt wieder rein in die Wärme oder wollt ihr euch den Tod holen?“, Daerons Frage riss die drei aus den Gedanken, die jeder von ihnen verfolgt hatte. Er war auf den Balkon gekommen, als er die drei im Festsaal nicht finden konnte.
Fenrod und Roland, zurückversetzt in eine Vergangenheit, die beide sehr berührte und ihre Herzen trübsinnig stimmte, zuckten zusammen und seufzten tief auf. Lad, berührt von der Erzählung und verwirrt davon, dass sie so gerührt sein konnte, dass sie echte Trauer in sich verspürte wegen eines Mannes, eines Vaters, von dem sie so wenig wusste, senkte den Kopf.
Daerons grüne Augen überflogen die kleine Versammlung mit Neugierde und blieben auf den Tränen in Lads Augen hängen. Rasch war er an ihrer Seite und fasste ihr Kinn, um es sanft anzuheben. „Was haben die beiden getan?“, fragte er mit nunmehr besorgtem Klang in der Stimme.
Lad schüttelte leicht den Kopf und hob den Arm, um die Tränen mit ihrem Ärmel fortzuwischen: „Sie haben nichts getan. Sie waren so freundlich mir mehr über meinen Vater zu erzählen.“
Im nächsten Moment bereute sie ihre Worte bereits, denn Daeron versteifte sich. Er wirbelte herum: „Von Khirani? An diesem Tag? Jetzt weint Tanis´ Nichte an solch besonderem Abend. An einem Fest der Freude. Ich hoffe, ihr seid nun zufrieden. Kommt mit. Lasst uns reingehen, bevor Liadan davon Wind bekommt. Kein Wort zu niemanden. Ihr solltet es besser wissen als mit diesem Thema zu beginnen.“
„Daeron… Sie haben nichts getan. Ich bat sie darum.“
„Lad, ich verstehe, dass du den Wunsch hast, mehr zu erfahren, aber du solltest deine Schwester zu diesem Thema fragen. Sie kann dir alles am besten berichten“, Daeron ließ die Schultern sinken, „Es ist für uns alle nicht leicht, aber immerhin ist Liadan auch seine Tochter gewesen.“
„Wer könnte es besser erzählen, als die, die auch dabei waren? Soweit ich weiß, war Liadan an diesem Tag nicht dort“, wandte Lad leiser ein, „Sie würde nie mit mir darüber sprechen und ich musste es einfach wissen. Wenn du also jemandem die Schuld geben musst, dann mir.“
„Ich gebe niemandem die Schuld. Auch ich diente in seiner Einheit, bevor ich zu Liadan kam und ich verfluche den Tag an dem es passierte, denn ich war nicht dort“, er legte eine Hand an ihre Schulter, „Es tut mir leid.“
Etwas in dem Tonfall seiner Stimme, ließ sie aufhorchen. „Weshalb tut es dir leid? Du warst nicht dort und hättest nichts tun können.“
„Ich…“, Daeron wandte den Blick ab. Seine Hand glitt von ihrer Schulter und er sah zu Fenrod und Roland, die bereits durch die Türen wieder in den Saal traten. „Ich hätte es verhindern müssen“, flüsterte er so leise, dass es fast nicht zu hören war. Doch Lad hörte es und sie bedachte ihn mit einem verwunderten Blick, bevor sie sich einen Ruck gab, ihm eine Hand an den Rücken legte und mit ihm zurück in die feiernden Fai eintauchte.
Wenig später hatten alle vier ihre gute Laune wiedergefunden und sich der Musik hingegeben. Lad tanzte gerade mit dem Erzmagier, als Tanis in die Hände klatschte und seine tenore Stimme um Ruhe im Saal bat. Alle Blicke wandten sich gespannt den Kerzen zu, deren Licht immer schwächer wurde.
„Nur wenige Momente trennen uns noch von dem neuen Jahr“, verkündete der König Aureniens und strahlte übers ganze Gesicht, „Wir haben viel erreicht. Viele von uns haben jemanden verloren. Viele jemanden gewonnen. Ich selbst bin über alle Maßen glücklich, meine lang verloren geglaubte Nichte wiederzuhaben. Ebenso erfreut bin ich über die diplomatischen Erfolge, die wir mit den Skalanern erreicht haben. Vielleicht gelingt es uns endlich Frieden zu schließen. Leider muss ich sagen, sind einige noch immer nicht überzeugt davon. Weder auf ihren, noch auf unseren eigenen Reihen. Es wird immer Unstimmigkeiten geben und Kompromisse, die geschlossen werden müssen. Doch nun hoffe ich, mit dem letzten Aufleuchten der alten Flammen, dass wir ein frohes, ein von unseren Göttern gesegnetes, neues Jahr begrüßen dürfen. Ich bitte euch mir hinaus zu folgen.“
Den Arm um Nyals Schulter legend, um sie zu geleiten, wandte sich Tanis ab und führte sein Volk hinaus in den Hof, wo eine große Kerze stand, die noch nicht entzündet war. Nysander gesellte sich neben ihn und gebannt warteten die versammelten Fai, wie die Lichter ausgingen und Dunkelheit sich über den Palast und die gesamte Stadt Narth`Mahat legte.
Lad erblickte Liadan in ihrer unmittelbaren Nähe, sie sprach mit Daeron und als sie ihren Blick auffing, lächelte sie ihr aufmunternd zu. Dann wurde es dunkel und sie hörte den Atem der Fai, die in der Kälte fröstelten und in dem kurzen Moment der Finsternis unruhig wurden. Sie selbst genoss diesen Augenblick und blickte hinauf zu den Sternen in der mondlosen Nacht.
Dann loderte eine kleine Flamme auf. Nysander hatte die große Kerze entzündet, die ein immer stärker werdendes Licht verbreitete. Rings um sie herum entzündeten Diener weitere neue Kerzen und ein Jubeln ging durch die Reihen der Fai, die das neue Jahr begrüßten.
Liadan eilte an die Seite ihrer Schwester und umarmte sie fest: „Ich freue mich, diesen Moment mit dir zu verbringen. Hoffentlich wird es ein gutes Jahr.“ Ihr Lachen ließ die grauen Augen funkeln.
„Ich hoffe ebenso“, Lad drückte sie an sich und schloss, mit einem Blick auf ihre Mutter, die ihnen zuwinkte und dann auf sie zukam, die Augen. Bald schon würde der Winter um sein und ihr Herz konnte es kaum erwarten nach Hause zu kommen.