Sie wurden allesamt jäh aus den Gedanken gerissen, als Schreie von unten herauf klangen.
„Nein!“, schoss es Liadan durch den Kopf, das durfte nicht sein. Sie mussten hier verschwinden und zwar schleunigst! Wie konnten diese Kreaturen nur hier eindringen?
Tanis reichte ihr geschwind das Kästchen, das er aus der geheimen Kammer geholt hatte. Liadan öffnete es sich, nahm zwei Dolche heraus und schnallte sie sich um ihre Hüfte. Wenigstens würde sie so die Aufmerksamkeit weg von ihrer Familie und ihren Freunden auf sich lenken.
„Ihr müsst von hier verschwinden! Am besten durchs Fenster“, Tanis wollte gerade die Läden öffnen, doch Liadan war ihm bereits zuvorgekommen. Kühle Nachtluft drang nun in das Gemach ihres Onkels.
„Ich werde die Kreaturen unten in der Halle aufhalten und ihr versucht zu entkommen. Eilt euch und passt gut auf euch auf“, die letzten Worte fügte er mit einem besorgten Unterton hinzu, schon war er durch die Tür verschwunden und die Flure entlang gerannt.
Lad hatte sich bereits aufs Fensterbrett geschwungen und sah zur Tür, die Liadan flugs verriegelte. Nervös nagte sie an ihrer Unterlippe. Sie wünschte sich, sie könne die Tür besser sichern und beobachtete verwundert, wie dicke Ranken aus dem Boden herauf und von der Decke hinab schossen, die die Tür überwucherten. Verblüfft starrte sie die Pflanze an. Es war genau das eingetreten, was sie sich vorgestellt hatte.
Auch Liadan blinzelte erstaunt, sah zwischen ihrer Schwester und der Tür hin und her, doch entschied sie schnell, dass keine Zeit für lange Überlegungen gegeben war.
Lad wurde von ihr am Arm gepackt und mit hinaus durchs Fenster gezogen. Mit einem Satz ließen sie sich fallen, sausten die Tiefe hinab.
Sie kniff ihre Augen fest zusammen, Angst davor hart aufzuschlagen und blinzelte überrascht, als sie statt dem harten Pflaster, das sie unter dem Fenster erwartete, etwas Weiches spürte.
„Deine Fähigkeiten gefallen mir. Warum hast du mir gestern nicht davon erzählt?“, bemerkte Liadan und lief zu den Stallungen, um ihre Pferde loszubinden. Sie strich ihrem Freund über die Nüstern, flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Lad wagte es langsam die Augen zu öffnen und starrte auf dicke, fleischige Blätter, die unter dem Fenster gewachsen waren. Sie konnte zusehen, wie sie zu welken begannen, die grüne Farbe braun wurde und die Ränder bröselten.
War sie das gewesen? Reichte ein Wunsch von ihr aus, eine Angst, in die Tiefe zu stürzen und schmerzhaft aufzuschlagen, um so etwas Magisches zu vollführen?
Entfernt hörte sie Liadans Stimme an ihr Ohr klingen und einen Herzschlag später saß sie schon auf dem Rücken ihrer Stute, die langsam und gehorsam auf den Hof trabte, doch blieben sie im Schatten einer Mauer stehen.
Es schien alles ruhig zu sein und Liadan gab ein Zeichen, ihr zu folgen. Sogleich galoppierten sie über den Hof und durch das Tor hinaus. Der Lärm eines Kampfes schien von der anderen Seite des Palastes zu kommen. Lad warf einen Blick über die Schulter und sah Rauchschwaden in den Himmel ziehen. Ein bleiernes Gefühl lag in ihrer Magengegend und sie hatte das Gefühl, als könne sie nicht atmen. Nur mit Mühe konnte sie wieder nach vorne blicken und ihr Pferd antreiben. Elenya kannte den Weg und würde Korathan folgen, das wusste sie und in diesem Vertrauen, schloss sie die Augen, um alles auszublenden. Vor allem wollte sie diese Gefühle vergessen. Diese Angst, etwas zu verlieren, das sie nur so kurz in Händen halten durfte. Das Geräusch der Hufe, die den gepflasterten Boden verließen und auf Gras trafen. Der warme Körper unter sich und das Schnauben der Stute, halfen ihr.
Sie liebte das Gefühl so schnell zu reiten. Die Art wie der Wind sie umspielte, als wolle er ihr Lieder singen und ihr Haar spielerisch zerzauste, das sich längst aus der feinen Frisur gelöst hatte. Ihre Finger fühlten sich taub an, so fest hielt sie die Zügel.
Immer stärker wurde das Bedürfnis, diese loszulassen und sich fallen zu lassen. Ein noch unbekanntes, dennoch irgendwie vertrautes Gefühl, breitete sich in ihr aus. Ein Gefühl, dass der Wind unter ihren Flügeln durchfloss und sie langsam nach oben drückte. Sie lächelte bei dem Gedanken daran, wie albern dies doch war. Niemals würde sie fliegen können und doch fühlte sie sich gerade freier denn je.
Die Wärme von Elenyas Körper verlor sich. Sie fühlte sich, als würden warme Hände ihren Rücken sanft berühren, sie emporheben und ihr Flügel geben. Ihre Schwingen zur Freiheit, lächelte sie.
Moment mal... Hatte sie eben ihre Schwingen gedacht?!
Schlagartig riss sie ihre Augen auf und blickte um sich. Die Welt schien weit unter ihr zu liegen. Elenya und Korathan kleine Punkte, die über die nächtliche Insel liefen. Ein kurzer Blick über die Schulter reichte aus. Sie sah zwei mächtige, lederne Schwingen, die aussahen wie die eines Drachen. Gerade wollte sie es Liadan sagen, doch dann sah Lad, dass ihre Schwester verschwunden war. Auf Korathans Rücken, der den Hals herumwarf und aufgeregt wieherte, war sie nicht mehr.
„Schwester!“, wollte Liadan rufen, doch aus ihrer Kehle erklang nur der Schrei eines großen Steinadlers. Ihre bernsteinfarbenen Augen betrachteten den Drachen, der einst ihre Schwester war und mit ruhigen Flügelschlägen neben ihr in der Luft verharrte.
Was war mit ihnen geschehen? Würden sie jemals zurück nach Carrakas kommen und die Angreifer schlagen können? Würden die Schwestern ihre alte Gestalt wiederbekommen oder für immer so verwandelt bleiben, wie sie waren? Wieso hatten sie sich überhaupt verwandelt? War das ihr Spirit, von dem Nysander immer sprach und der nun zum Vorschein kam?
Tausend Fragen gingen Liadan durch den Kopf.
Sie senkte ihr Haupt und blickte auf den Drachen hinab, der unter ihr flog.
„Lad, bist du das?“, rief sie dem Drachen zu, doch nur ein erneuter Vogelschrei erklang. Sie entspannte ihre mächtigen Schwingen, winkelte den einen Flügel an und sank auf die Höhe des großen Tiers hinab.
Liadan konnte es immer noch nicht fassen. Ein Adler, das war sie. Das war ihr Spirit. Doch... Wo war Lad hin?
Der Drache stieß ein lautes Brüllen aus. „Ja, ich fürchte, das bin ich, meine Schwester“, folgte eine tiefe Stimme, die vom Drachen ausging, der ein silbernes Auge auf den Adler neben sich richtete.
„Ein Drache der Elemente“, erklang die voll tönende Stimme des Adlers. Liadans Kehle schmerzte. Sie hatte es geschafft einen Satz herauszubekommen, doch zu einem hohen Preis. Nun wusste sie jedoch, was Lad war und vor allem, was sie selbst war.
Sie war die Wiedergeburt von Kheeta, dem mächtigen Himmelsfürsten, dem riesigen Adler aus den Legenden ihres Volkes. Nun wusste sie auch, warum Nysander sie immer Kheeta oder Sturmauge genannt hatte.
Sie blickte den Drachen nachdenklich an. Es konnte eigentlich nur so sein. Lad musste die Seele des Elementdrachen Emiels in sich tragen.
~*~
Nur wenig später landeten die beiden Himmelsfürsten vor den Toren Carrakas’. Kaum berührten sie die Erde, verwandelten sie sich wieder in ihre ursprüngliche Gestalt, die sie eigentlich waren.
Lad, die stolpernd in menschlicher Gestalt gelandet war, taumelte zu Liadan hin, die niedergebrochen war. „Die Landungen müssen wir noch etwas üben“, murmelte die Fai und hielt ihrer Schwester die Hand hin.
„Da kann ich nur zustimmen“, erwiderte Liadan mit einem Stöhnen und zog sich auf die Beine zog.
„Was war das überhaupt?“, Lad schauderte. Gerade eben war sie noch der Drache gewesen und nun war sie wieder sie selbst.
Liadan schüttelte sich und war sich sogleich wieder ihrer Situation gewahr. Hastig rannte sie los und rief Lad im Laufen zu: „Alle Fai haben einen Spirit, einen Naturgeist, der sie schützt. Je älter, desto mächtiger ist der Geist und manche, mit genug Vertrauen, können die Gestalt ihres Spirits annehmen. Es heißt, die Geister sind fähig, wenn Gefahr droht, auch die Kontrolle über einen zu übernehmen. Du scheinst den legendären Drachen der Elemente, Emiel, als Beschützer zu haben.“
Gemeinsam liefen sie durch die Stadt und Liadan schlug Alarm, bis alle Fai aufgelöst und mit zum Teil müden Augen, ihre Häuser verlassen hatten und auf sie zuströmten.
„Bewohner Carrakas!“, rief Liadan mit kräftiger Stimme. Eine einzelne Handbewegung brachte die wild durcheinanderrufenden Fai zum Schweigen. Alle sahen sie gebannt an und warteten, was sie zu sagen hatte.
„Ihr mögt vielleicht überrascht sein über unsere frühe Heimkehr und den Aufruhr zu solch später Stunde. Eure Fragen sind berechtigt, doch dafür ist nun keine Zeit!“, sprach die blonde Fai mit fester Stimme.
Aufgeregtes Gemurmel erfüllte die kurz eingetretene Stille, doch wurde es in der nächsten Sekunde schon durch Liadans Stimme zerrissen, die wutentbrannt „Ruhe!“ schrie. Sofort wurde es wieder still.
„Horden von Skalanern rücken an und ihre Verbündete sind Orks und Trolle. Sie wollen Unheil über unser Land bringen. Sie vernichten die Wälder und werden schon bald vor unseren Toren stehen. Ihr wisst was zu tun ist. Versteckt die Kinder und Frauen. Sichert die Stadt und macht euch zum Kampf bereit! Aura sei mit euch!“, hallte Liadans Stimme durch die Menge.
Zustimmende Rufe und Schreie erfüllten daraufhin die Luft. Die Menge der Fai zerstob sich schlagartig. Ein einziges Durcheinander. Jeder stand dem anderen im Weg und doch wusste jeder was für eine Rolle er in dieser Schlacht, in diesem Krieg, erfüllen musste, denn Carrakas war eine Stadt, die vornehmlich aus Mitgliedern der Reiter-Turma und anderen Kriegern bestand.
Lad, die nur geschwiegen und zugehört hatte, wurde mehrmals angestoßen, doch blieb sie bei ihrer Schwester, die von ihr eingehend gemustert wurde. Sie bewunderte Liadans Ausstrahlung, die alle dazu bewegte sich in die Schlacht zu werfen. Sacht schlossen sich ihre Augen, um die schillernden Tränen zu verbergen, die ihre Seelenspiegel glänzen ließen. Ihre Schwester erinnerte sie an jemanden, der eine ähnliche Ausstrahlung hatte und den Lad vermisste. Als sie die Augen wieder öffnete, stand Liadan direkt vor ihr.
„Wenn du stirbst, werde ich deinen Leib so lange verteidigen, bis ich selbst falle, denn ich werde nicht denselben Weg gehen, wie das letzte Mal, als mich ein tiefer Schmerz ereilt hatte“, dachte sie bei sich und schluckte das schwere Gefühl der Erinnerung herunter. Laut sprach sie schließlich: „Kommandantin welche Aufgabe habt Ihr für mich vorgesehen?“
Liadan sah ihr Gegenüber eindringlich an: „Du wirst gar nichts tun. Begebe dich nur schnell mit den anderen Frauen und Kindern zu den Verstecken und bleibe dort, bis alles vorüber ist. Ich will nicht, dass dir irgendetwas zustößt. Das könnte ich mir nie verzeihen.“
„Kommandantin, ich weigere mich diesen Worten zu folgen, denn ich werde nicht ohne dich gehen. Ich lasse dich nicht im Stich und ob du nun willst oder nicht, mich wirst du nicht los! Ich folge dir in den Kampf und wenn es sein muss, folge ich dir auch bis in den Tod“, erwiderte Lad mit ernster Stimme. Sie war nicht geboren worden, um sich zu verstecken.
Verblüfft über Lads Worte, nickte Liadan nur und wies ihr an zu folgen. Sie schritt die Stufen zu ihrem Baumhaus hinauf, verschwand durch die Türe und rannte ins Schlafzimmer, wo sie sich das Kleid über den Kopf zog, den Schmuck abnahm und in eine Wildlederhose schlüpfte. Sie legte einen silbernen äußerst widerstandsfähigen Brustharnisch an und schnallte sich Beinschienen um ihre Schienbeine. Armschienen und silberne Reifen schützten ihre Arme wie die Panzerhandschuhe einer Rüstung. Geschwind schlüpfte sie in bis unters Knie hochgeschlagene Wildlederstiefel und steckte in die beiden Schäfte zwei spitze, lange Dolche von außergewöhnlicher Machart. Schlussendlich schnallte sie sich Orcomhiel, das Schwert der Hoffnung, um die Hüfte. Es hatte ihr gute Dienste geleistet. Ihren Bogen und einen Köcher voller Pfeile, deren spitzen sie akribisch überprüfte, nahm sie ebenfalls mit.
Lad war ihrer Schwester indessen gefolgt, hatte ihr Kleid abgelegt und schlüpfte nun in eine schlichte Hose und ein Leinenhemd. Von Liadan erhielt sie einen ebensolchen Harnisch, wie diese ihn trug. Sie holte ihr Schwert, das von Schmiedekunst her laut Liadan ein Dunkelschwert war, mit einem ebenholzschwarzen Griff und feinen Verschnörkelungen an der Klinge war und befestigte es an ihrem Gürtel.
Ihr Blick folgte Liadan, die zu einem Regal eilte, wo sie einen kleinen Schminktopf öffnete und sich mit geübter Hand Symbole auf die rechte Gesichtshälfte malte, wie Ranken, die sich über ihre Wange zogen.
Ein flehender Blick galt Lad, die jedoch den Kopf schüttelte. Sie war nicht davon abzubringen, mit ihr zu reiten.
„Wie du meinst, Lad í Sathil“, seufzte sie und befestigte den Dolch Brythir an ihrem Bein. Eglesiel überreichte sie Lad, die diesen an ihrer Hüfte befestigte. Es waren die Dolche, die sie von Tanis bekommen hatten.
Dann packte sie Lads Hand und malte mit schwarzer Farbe ein rundes Diagramm auf die Handinnenseite, legte dann ihre eigene Hand auf die Lads und murmelte eine Formel in unverständlicher Sprache. Eine angenehme Wärme ging plötzlich von Liadans Hand aus, gleißendes Licht erhellte den Raum. Liadan löste ihre Hand von Lads, strich das Diagramm nach. Ein Kreis mit einem Stern, der sich mit einer Feder kreuzte, hatte sich golden schimmernd in der Handfläche eingebrannt.
„Das Symbol Auras“, sprach die Fai leise und blickte ihrem Gegenüber in die funkelnden Augen, „Wenn du in diesem Kampf umkommst, wird deine Seele geschützt und nach Gaia begleitet. Sie wird nicht in die Abgründe der Dämonen wandern.“
Wortlos blickte Lad auf das Zeichen auf ihrer Hand, nickte dankend. Still fragte sie sich, ob es dafür nicht ein wenig zu spät war.
Liadan hatte Phil auf den Arm genommen und trug ihn zum geöffneten Fenster, wo sie ihn auf dem Fensterbrett absetzte. „Na los. Verschwinde. Ich gebe dir die Freiheit. Geh!“, sie stupste das Hermelin an, das sie aus traurigen Augen musterte, sich noch ein letztes Mal gegen die Hand seiner Herrin kuschelte und schließlich mit einem leisen Keckern vom Fensterbrett in die Tiefe sprang. Die Fai wandte sich sofort ab, wischte sich mit dem Handrücken eine Träne weg. Sie hatte dieses quirlige Wesen aufgezogen. Phil hatte zu ihrem Leben gehört, doch es war sicherer, wenn er sich allein durchschlug und zu seinesgleichen in den tieferen Wäldern fand. Ohne ein weiteres Wort verließ sie raschen Schrittes das Baumhaus, immer zwei Stufen auf einmal nehmend schritt sie die Treppe hinunter, hastete zu ihrem Hengst, legte ihm die Hände um den Hals und vergrub ihr Gesicht in seiner Mähne. Korathan schnaubte leise, stupste seine Reiterin mit der Schnauze aufmunternd in die Seite.
Liadan kraulte ihrem Hengst liebevoll die Mähne, als sie Lads Hand auf ihrer Schulter spürte und sie flüstern hörte: „Alles wird gut werden. Wir dürfen nur nicht verzweifeln.“