Weit entfernt von Aureniens lag eine weit weniger erfreuliche Stimmung in der Luft. Dort auf der anderen Seite des weiten Meeres, fiel eine Tür geräuschvoll ins Schloss.
Ein Augenpaar von der Farbe eines Chrysolits wandte sich dem Eintretenden zu. Sein Besitzer hatte keine Ahnung, welche Wirkung das helle Grün seiner Iris auf andere Personen hatte, noch, dass man es mit einem Mineral verglich, das in alltäglicher Sprache „Goldstein“ hieß. Ihm fiel auch nicht auf, dass sein Gegenüber einen großen Ring am Finger trug, dessen Stein eine ähnliche Färbung aufwies. Noch weniger bekannt war ihm, dass sein Träger diesen nur gewählt hatte, weil sein eigener Name Peridot war.
Edwin hatte sich nie viel aus solchen Dingen gemacht. Namen, Steine, Schmuck. Es war ihm gleichgültig und er hatte das Glück, dass seine Frau ebenso darüber dachte.
Ruhig verfolgte er, wie sein Gegenüber, ein Mann mittleren Alters mit tiefen Falten um den Mund, aufstand, um den Eintretenden zu begrüßen und Platz zu schaffen. Der Raum war ein Nebenzimmer eines Wirtshauses der Stadt. Er war nicht gerade groß, dafür warm. Der Winter nebst Väterchen Frost war ins Land gezogen. Die sonst blühenden Felder lagen unter Schichten von Schnee und Eis. Die Teiche, Seen und kleinere Bäche waren zugefroren.
Die Natur hatte sich zur Ruhe gebettet. Darauf wartend, dass eine andere Zeit anbrach. Doch die Menschen Astilas konnten sich nicht in den Winterschlaf begeben wie die Tiere.
Der Krieg mit den benachbarten Düsterlanden zog sich in die Länge. Ein Land, dessen Volk dem eigenen so fremd und zeitgleich so vertraut war. Edwin wusste, dass es dort nicht nur Menschen gab. Seit jeher lebten Elfen in den Düsterlanden, doch waren es keine, wie man sie sich im Normalfall vorstellte. Es hieß, sie bauten ihre Städte unter der Erdoberfläche und ihre Haut sei so dunkel wie die Nacht. Er selbst war zu jung, um bereits einem von ihnen begegnet zu sein. Auf dem Schlachtfeld standen sie den freien Menschen des Landes gegenüber. Frei war in diesem Land ein dehnbarer Begriff. Fast jeder wusste, dass die Menschen in Wahrheit von den Elfen regiert wurden. Aus dem Schatten heraus wie Marionetten, selbst, wenn die Düsterlande offiziell unter der Herrschaft von König Wulfenian standen. Als die ersten Siedler vor vielen Generationen in den Süden des Drachengebirges kamen, wurde ein enges Bündnis zwischen den ungleichen Völkern geschlossen. Die Menschen hatten sich nicht daran gestört, dass ein viel älteres Volk bereits Besitz vom Land ergriffen hatte. Während sie oben bauten und ungestört ihrem Tagwerk nachgingen, untergruben die Elfen die Düsterlande. Sie siedelten zudem weiter im Landesinneren, fernab des Grenzgebirges zu Astila und Neodamos, sofern man überhaupt so weit kam. Noch hatte man von keinem gehört, der weiter ins Landesinnere vordrang, als bis zum großen Fluss. Dies war die sichtbare Grenze zwischen dem Bereich der Menschen und der Elfen, die dort Dunkelelfen genannt wurden. Dunkelelfen, dachte Edwin und strich sich nachdenklich über das Kinn, Xanthas Freundin hatte von solchen erzählt. Er fragte sich, ob er in seinem Leben noch welche zu Gesicht bekommen würde.
„Setzt Euch, Sinon, bitte“, bat Peridot und zog einen Stuhl herbei, auf den sich der Mann, der Sinon hieß, niederließ. Schneeflocken lagen auf dem Pelzbestickten Kragen seines Reisemantels. Seine Nase und Wangen waren rot vor Kälte.
„Sauwetter verfluchtes da draußen“, tönte Sinon, als er sich schwerfällig auf dem Stuhl niederließ und den Mantel zurechtrückte, „Die Götter allein wissen, warum sie uns so viel Schnee schicken. Seht Euch das an, Peridot! Bis über den Stiefelkragen. Der Herweg zu Euch ist wahrlich kein Vergnügen.“
„Verzeiht die Unannehmlichkeiten. Wegen dem Krieg und dem Neuschnee sind alle Männer unterwegs in der Stadt und helfen den Bürgern, die Wege freizuschaufeln. Offenbar sind sie noch nicht bis zu meiner Tür gekommen. Ein Ärgernis, aber was soll man tun? Ändern können wir es nicht und ich brauche Edwin hier, um mir bei der Lagebesprechung zu helfen. Auch, wenn er nicht danach aussieht, führt er die Feder so schnell und präzise wie das Schwert. Ich nehme an, du bringst Neuigkeiten von der Grenze? Wie sieht es aus? Hat Wulfenian sich zu Verhandlungen bereit erklärt oder spielt er noch den Sturschädel? Die Hohepriesterin der Dunkelelfen muss ihn ganz schön um den Finger gewickelt haben, wenn er auch in dieser unwirtlichen Jahreszeit seine Soldaten ausschickt“, Peridot lehnte sich mit fragendem Gesichtsausdruck auf seinem Stuhl zurück.
Der Schnee schmolz langsam auf dem Mantelkragen. Erwärmt durch den kleinen Ofen, der neben einem großen Tisch und ein paar Stühlen das einzige Mobiliar des Raumes war. Karg, spartanisch, aber zweckdienlich. Peridot hatte dem Wirt, dem der Raum und das restliche Haus gehörte, eingeschärft, dass er den Platz brauchte für wichtige Unterhaltungen. Er selbst residierte den Großteil des Tages in seinem Zimmer im oberen Stockwerk, das, nach Edwins erster Einschätzung, die doppelte Größe aufwies.
Sinon schnaubte verächtlich. „Als ob der das zugeben würde. Keiner weiß doch, warum er unbedingt jetzt einen Krieg vom Zaun brach. Ob die verdammten Elfen dahinterstecken, bleibt wohl auch fürs erste ein Rätsel. Ich kann’s nicht sagen. Nicht mit Gewissheit, aber ich glaube es fast. Wie heißt die Priesterin noch mal, die sie haben? Manche sagen ja, sie sei nur ein Mythos. Stellt Euch mal vor, bei uns würde eine Frau die Zügel in der Hand halten. Unvorstellbar, wobei ich gespannt darauf wäre. Wäre mal eine interessante Wendung, nicht wahr?“, er lachte rau auf, „Die Grenzen halten sich gut. Der letzte Vorstoß der Düsterländer liegt schon eine Weile zurück. Im Herbst haben sie versucht nach Neodamos vorzudringen. Ihr wisst schon, Peridot, Neodamos wäre perfekt für den Zugang zu den Sumpflanden. Astila ist für sie zu geschützt. Wir haben das Drachengebirge auf unserer Seite und da schnell Truppen hinüberschicken, ist selbst im Hochsommer schwer. Die Berge sind zu hoch und oben soll immer Schnee liegen.“
„Mit anderen Worten augenblicklich gibt es keinen Grund, dass die grenznahen Städte evakuiert werden müssten, um einer weiteren Truppenbewegung Platz machen? Das wäre sehr wünschenswert. Es sind schon genug Soldaten umgekommen oder verschwunden in den letzten Jahren. Nicht alle tauchen wieder auf, so wie der gute Edwin hier. Er“, Peridot hob die Hand in seine Richtung, „war fast ein ganzes Jahr spurlos verschwunden. Wollt Ihr wissen, wo der Kerl wieder auftauchte? Bei diesem verfluchten Schloss in Telrúnya. Hat sich dort von den Weibern gesundpflegen lassen. Vermutlich ging es ihm sehr gut. Die Schlossbewohnerinnen sollen ja recht hübsch sein. Die eine von exotischer Schönheit. Wer weiß, was die alles können …“
„Verzeiht, Herr Peridot, eines dieser Weiber, wie Ihr es ausdrückt, ist zufällig meine angetraute Frau und ich verbitte mir, wenn Ihr in dem Tonfall von ihr sprecht!“, warf Edwin ein, der von seinen Notizen aufsah. Die grünen Augen funkelten gereizt. Wenn hier jemand das Recht hatte so über die drei von Telrúnya zu sprechen, dann nur er. Immerhin trug die sogenannte exotische Schönheit seinen Ring am Finger.
„Eure Frau?“, Sinon beugte sich interessiert vor, „Ich habe von dem Schloss schon gehört. Dort soll es spuken und ein Geist oder ein anderes Monster sein Unwesen treiben. Manchmal, so wird erzählt, verschwinden Leute über Nacht spurlos und am nächsten Tag findet man ihre Leichen. Ausgeblutet und platt wie ein leerer Wasserschlauch. Von anderen sollen nur Knochen übergeblieben sein. Wie hält es sich damit? Entspricht das noch den Fakten?“
„Ich weiß nicht, was das mit unserer Zusammenkunft heute zu tun haben soll. Auf meiner Liste steht, dass wir uns über die Grenzsituation zu unterhalten hätten und man über eventuelle Verbindungen mit Neodamos’ Fürsten nachdenken sollte“, er hob einen Stapel Papiere hoch und hielt sie, einem Schild nicht unähnlich, vor sein Gesicht, „Seht Ihr? Ich warf nur ein, dass eine der ‚Weiber‘ die meine ist.“
„Ach seid nicht so, Edwin! Erzählt Sinon wie sich das verhält. Ihr kennt die Gegend um das Schloss besser als jeder andere!“, Peridot ließ die Hand erwartungsvoll auf die Tischplatte sausen und entriss ihm mit der anderen schwungvoll die Papiere, „Auch ich würde mich dafür mehr interessieren als für die Fürsten in Neodamos. Hochnäsige Herren, allesamt und der
Höchste unter ihnen will sowieso nur seine Neutralität wahren. Ihn hat man schon lang nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Allein, dass die Lichter seines Hauses brennen, zeigt doch an, dass dort überhaupt jemand lebt. Das ist so verflucht wie Telrúnya hier bei uns. Also sagt schon: Was stimmt an den Gerüchten? Haben die Weiber… – verzeiht – die Frauen das Monster erlegt, das dort gelebt haben soll oder sind sie selbst die Hexen, für die man sie hält? Wisst Ihr Sinon, drei Frauen unter einem Dach und das ohne Mann. Da fangen die Leute an zu reden, wenn es nicht grad eine Priesterinnenschaft ist, die sich gegen lüsterne Blicke durch dicke Klostermauern absichert.“
„Es sind drei absolut normale, gesunde und junge Frauen“, antwortete Edwin sachlich, „Liebenswert und aufrichtig. Keine Hexereien oder andere teuflische Sachen sind im Spiel. Es sind nur drei Freundinnen, die im alten Schloss ein Zuhause gefunden haben.“
„Das hast du ihnen erzählt?“, Xanthas Lachen war glockenhell, „Und sie haben es dir abgekauft? Keine Zauberei und kein Pakt mit dem Leibhaftigen?“
„Sie haben es geschluckt. Ich habe mich bemüht so überzeugend wie nur möglich zu sein. Will ja nicht, dass Merry ungewollte Gäste bekommt“, grinste Edwin und streichelte seiner Frau sanft über die Wange, „Hast du von ihr gehört?“
„Sie schreibt, dass Lad im Frühling heimkommen wird. Ich möchte zu ihr reisen und dort auf sie warten. Ist das in Ordnung für dich? Ich weiß, du musst bald an die Grenze ziehen, aber Telrúnya liegt näher beim Hafen.“
„Du kannst es nicht erwarten, oder?“, er fasste liebevoll ihr sommersprossiges Gesicht und neigte den Kopf, um einen Kuss an ihre Stirn zu hauchen, „Meine liebe Xantha. So weit haben dich deine Füße schon getragen und du wirst nicht des Reisens müde wies aussieht. Oder ist es wegen meinen Eltern? Gehen sie dir so sehr auf die Nerven, dass du gleich die erste Gelegenheit beim Schopf packst, um hier rauszukommen?“
Sie schnitt ihm eine Grimasse und lachte auf: „Ach du. Ich mag deine Eltern und sie mich doch auch. Aber Merenwen ist ganz allein zurückgeblieben, nachdem wir gingen. Ich will nicht, dass sie den ganzen Winter allein in ihrem Kaminzimmer sitzt und ihre Nase in die staubigen Bücher steckt. Sie tut doch immer nur so, als würde es ihr nichts ausmachen. In Wahrheit zählt sie sicherlich schon die Stunden, bis Lad heimkehrt.“
Edwin schmunzelte und tauchte den Löffel in die Schüssel, die vor ihm stand. Der Tag war lang gewesen und der Weg nach Hause bedeckt von Schnee. Zweimal war er ausgerutscht und zweimal hatte er lauthals geflucht. Ein Blick zum Kamin reichte, um zu sehen, dass Xantha seine Kleidung zum Trocknen ausgebreitet hatte. Mantel, Socken, Hose und selbst das Hemd unter dem dicken Wams war nass geworden, denn der Schnee hatte sich seinen Weg gesucht. Durchnässt, das Gesicht gerötet, hatte er vor der Haustür gestanden und mit klammen Fingern geklopft. Die gute Seele, die er geheiratet hatte, fackelte nicht lange, als sie ihn so sah. Er hätte nicht einmal mehr bis zehn zählen können, schon fand er sich in trockner Kleidung und in eine Decke gewickelt auf dem Sessel vor dem Kamin wieder. Xantha drückte ihm eine Schüssel dampfende Suppe in die Hand, in der blasse Karotten schwammen.
„Nimm wenigstens eine Kutsche dorthin, ich bitte dich. Du holst dir dort draußen den Tod!“
„Bloß weil ich aus der Wüste komme, heißt es nicht, dass dies mein erster Winter ist“, seine Frau schüttelte den Mantel aus, zupfte ihn auf der Leine zurecht, die über dem Kamin gespannt war, damit er besser trocknete.
„Du weißt, wie ich’s meine.“
„Mach dir doch keine Sorgen. Ich kann gut reiten. Bei Merry kann ich das Pferd auch unterstellen.“
„Wie du meinst“, er lehnte sich mit einem Seufzen zurück, „Aber sei vorsichtig. Wir leben in unsicheren Zeiten.“
„Ja doch“, sie winkte ab und ließ sich auf einem Sessel ihm gegenüber nieder, „Jetzt erzähl mir doch mal: Neodamos ist ein Reich aus Fürstentümern, richtig? Astila ist ein Königreich? Ich sollte doch wirklich mal wissen, welche Regierungsform wo vorherrscht, wenn ich schon hier lebe und einen Soldaten als Mann hab. Lach nicht! Ich habe mich nie darum gekümmert, weil es mir egal ist, solange ich gut leben kann. Das war ja bisher immer der Fall. Die Düsterlande sind dort hinterm Drachengebirge, richtig? Und dich habe ich damals auf einem Schlachtfeld gefunden, als sie schon ziemlich weit gekommen waren?“
„Nein. Du hast mich auf einem anderen Feld gefunden, meine Liebe und von dort entführt. Ich wollte ja bleiben. Schau mich nicht so vorwurfsvoll an, bitte. Mir ist klar, dass ich verbluten hätte können. Das hast du mir lang und breit erklärt. Punkt ist jedoch, dass dies ein Kleinkrieg in Astila selbst war. Einer der Fürsten wollte seine Macht ausdehnen und hat sich dafür mit anderen verbündet, die jetzt allesamt längst die Unterseite der Erde begutachten. Da gab es noch keinen Ärger mit den Düsterländern… Sag mal, Lad hat doch von Dunkelelfen erzählt, oder irre ich mich? Es heißt, dass in den Düsterlanden Elfen leben, die unter der Erde hausen und von einer Hohepriesterin regiert werden. Ich kenne mich nicht so gut damit aus und dachte, vielleicht weißt du mehr. Du kennst Lad am längsten und sie ist doch eine von denen.“
„Sie ist eine Fai. So nennt sich das Volk in ihrer Heimat und ich glaube nicht, dass du sie mit Dunkelelfen in einen Topf werfen darfst. Sie hat mal vom Krieg in ihrer Heimat erzählt, der herrschte, als sie jung war und offenbar noch andauert“, Xantha tippte überlegend auf ihre Lippen.
„Als sie jung war?“, er verschluckte sich an einem Löffel Suppe und hustete, „Herrje! Wie lang dauert der Krieg denn dort? Sie ist doch schon uralt für uns Menschen.“
„Für Merenwen ist sie auch noch jung und ich denke mal Elfen können ziemlich alt werden, wenn sie nicht durch Klinge, Pfeil oder Krankheit sterben. Vermutlich dauern auch ihre Kriege deswegen länger. Jetzt beantworte doch meine Fragen! Sonst vergess ich sie wieder und ärgere mich später“, drängte sie ihn.
„Ja, Neodamos besteht aus verschiedenen Fürstentümern. Sie haben untereinander eine Rangordnung, aber bitte frag mich nichts Genaueres. Ich bin nur ein einfacher Soldat, der zufällig auch noch Schreiben kann, weil meine Eltern mich dort in die Lehre schickten, bevor ich dem Ruf des Schwertes folgte. Unser Land ist ein Königreich. Der König hat seinen Sitz in der Hauptstadt und er heißt Hiddenos. Den Namen seiner Frau, weiß ich grad nicht. Irgendwas mit Iola… Ich bin mir nicht sicher. Es ist auch nicht wichtig. Zusätzlich zum König gibt es auch Fürsten, die bei der Verwaltung Astilas helfen. Sie sind Hiddenos unterstellt und treu ergeben mit Ausnahmen, wie ich bereits vorher erwähnte. Ihren Sitz haben sie zumeist in den größeren Städten und sie haben auch Anspruch auf gewisse Landteile. Astila ist größer, als das, was du bisher gesehen hast, Xantha, und der König hat auch außerhalb Besitztümer, wo er Stellvertreter einsetzt. Die Düsterlande sind offiziell ein Königreich unter Wulfenian. Bekannt ist aber eben die Sache mit den Elfen.“
„Mhm. Du erwähntest, dass es unsicher sei, ob Wulfenian allein hinter der Kriegserklärung steckt oder ob die Elfen auch eine Rolle spielen.“
„Ja. Das ist die große Frage. Wenn sie dahinterstecken, dann ist sicher mehr im Busche, als wir ahnen. Ich wüsste zu gern, was die gerade treiben…“
Die Ketten schnitten schmerzhaft in Lumenias Gelenke. Das Halbblut ließ den Kopf mit einem Seufzen hängen. Sie hatte jegliches Gefühl über die Zeit verloren, so lange schon war sie in diesem Kerker in Tenlisan, einer Stadt der Düsterlande. In Sonderbehandlung. Weit ab von allen anderen Gefangenen und mit einem Wächter, der allein für sie abgestellt worden war.
Ihr schlohweißes Haar klebte bereits strähnig an ihrem Kopf und sie sehnte sich danach, sich endlich bewegen zu dürfen. Gerade für das Notwendigste ließ man ihr etwas Spielraum, bevor man ihre Arme wieder nach oben zog, die sich schwer wie Blei anfühlten. Trinken und Essen gab man ihr ein, als wäre sie ein kleines Kind. Thyram trat näher an die Zellenstäbe und betrachtete Lumenia. Ihre violetten Augen funkelten noch immer kämpferisch, wenn sie seinen Blick auffing. Noch war ihr Wille nicht gebrochen und er fragte sich, ob das jemals möglich sei. Ob eine wie sie, die die Hölle bereits einmal durchlebt hatte, gebrochen werden konnte.
„Was gibt es zu glotzen? Es hat sich nichts verändert. Ich hänge noch immer hier und warte darauf, bis die nächste Wasserration kommt“, fauchte sie ihn an.
Ein Schmunzeln umspielte ihre beinahe vollen Lippen. Hochmütig und arrogant. Als wäre sie die Königin und kein Sklave in Ketten.
Unwillkürlich musste Thyram das Lächeln erwidern. Sie war schon was Besonderes, die kleine Halbblütige, die Marionette des Puppenspielers. In ihr floss zum Teil das gleiche Blut wie in seinen Adern.
„Heute gibt es nichts zu Trinken. Du wirst geholt“, entgegnete er und wandte sich damit wieder seinen Aufzeichnungen zu, die seine Tagesbeschäftigung waren.
„Von wem werde ich abgeholt? Habt ihr endlich entschieden, mich loszuwerden?“
„Dein letzter Besucher wünscht dich mitzunehmen.“
„Der Söldner mit diesem komischen Trottel aus Skala oder der, der mich hierherbrachte?“
Die Tür zum Gefängnis öffnete sich mit leisem Quietschen der Angeln und Furias schob sich in den Raum. „Letzterer“, erklärte er und nahm den Schlüssel zur Zelle von Thyram entgegen, „Aber auch nur, um dich zu den anderen zu bringen, Lumenia.“
„Wunderbar. Du hast dir gemerkt, wie ich heiße. Ich gratuliere dir“, ihre Augen verengten sich zu bedrohlichen Schlitzen, „Was, wenn ich mich weigere?“
„Wie willst du das denn anstellen, Bastard?“, geschickt löste er die Fesseln, die ihre Handgelenke an der Wand befestigten, nur um eine neue Kette anzubringen und sie an dieser zu führen, „Thyram, das Mittel.“ Er warf einen kurzen Blick zu dem Älteren, der eine Phiole aus einer kleinen Truhe an der Wand entnahm.
Furias spürte ein Zittern der Kettenglieder, als die Gefangene sich schüttelte und gegen die Wand drückte. In der Flasche war ein Mittel, das ihren Körper weitestgehend lähmte. Gehen dürfte sie mit einer geringen Dosis gerade noch können und mehr brauchte es nicht. Ein Fluchtversuch wurde damit unterbunden.
Sie würgte, als Thyram die Flaschenöffnung an ihre Lippen ansetzte und mit der anderen Hand ihren Kiefer auseinanderdrückte. Ein kribbelndes Gefühl machte sich auf ihrer Zunge breit. Die Augen verdrehten sich, bis nur mehr das Weiß zu sehen war. Lumenia klappte zusammen und Furias wurde unwillkürlich mit nach unten gerissen, fing sich jedoch gerade so stolpernd ab.
„Verdammt. Laufen soll sie doch noch!“, schnauzte er Thyram an, der die Phiole wieder verschloss und mit einem zufriedenen Grinsen feststellte: „Nun, sieh es als meine kleine Rache für deinen versäumten Wachdienst.“
Der Dunkelelf zerrte an der Kette, um das Halbblut wieder auf die Beine zu bekommen. Ihre Lieder flatterten, doch sie kam wieder zu sich. Wackelig, aber einigermaßen stabil, setzte sie ein Bein vor das andere. Furias ergriff sie am Arm und half ihr. Ihre Ketten schleiften nutzlos am Boden, als sie das Gebäude verließen.
„Das ist also der Plan, mich am wegrennen zu hindern?“, nuschelte die Elfe, den Kopf gesenkt, denn ihre Muskeln gehorchten ihr gerade so weit, dass Furias nicht ihr Gesamtgewicht schleifen musste.
„Ja, das war der Plan. Die Überdosis nicht. Er hätte dich damit auch umbringen können und dann wär ich dran gewesen“, knurrte Furias und blieb kurz stehen, um die Ketten, die ihre Handgelenke verbanden, zu lösen. Er packte einen ihrer Arme und zog ihn sich über die Schultern. „Mach keinen Mist, klar? Ich lass dich nur so laufen, weil ich nicht annehme, dass wir anders schneller vorankommen.“
„Als ob ich was tun könnte. Ich spür doch nicht mal etwas. Du könntest mich abstechen und ich würde wohl schmerzlos sterben.“
„Das habe ich nicht vor. Mein Leben hängt an deinem. Wieder einmal“, er zerrte ein wenig an ihr und sie kamen in einem halbwegs normalen Tempo voran. Die Straße war kein Problem, doch die Treppe, der sie sich näherten, dürfte ein wenig schwerer für sie werden, wenn Lumenia bis dahin nicht ein wenig mehr aus diesem Zustand erwacht wäre.
„Wieder, ja. Wird dir das nicht zu anstrengend? Die ganze Zeit hängt dein Leben von deinem Tun, deinem Erfolg, um es präziser auszudrücken, ab. Wolltest du nie dein eigener Herr sein? Ich wollte immer meine Freiheit, als ich dem Puppenspieler diente. Nur hatte ich es schwerer als du jetzt. Ein Fluch kettete mich an ihn und er wusste immer, wo ich war. Ein einfaches Ziehen an den Fäden und ich musste zurückkehren. Du kannst doch gehen, wohin du willst“, fragte sie ihn leise, um nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Doch es waren kaum Leute auf der Straße unterwegs und die, die es waren, schienen es eilig zu haben. Sie beachteten das seltsame Paar nicht, das den Weg zum Turm der Hohepriesterin einschlug.
„Leichter?“, er lachte, „Leichter sagst du. Was weißt du schon, Bastard? Du kennst weder unsere Gebräuche noch Sitten. Deine Mutter mag ja von hier stammen, wie du selbst sagtest, aber wo bist du aufgewachsen? Als Kind einer Verstoßenen unter den Menschen. Du hast niemals das durchgemacht, was ich mitmachen musste, kaum, dass ich laufen und ein Schwert halten konnte! Dein Meister hat dich trainiert, aber hat er dich eine Ewigkeit in den Wald geschickt? Isoliert von allem, was dir lieb und teuer ist, allein, hungernd? Nein. Das musstest du nie erleben. Du hast keine Ahnung, wie es ist! Du denkst nur, es sei auch leichter zu gehen. Mein Kopf hängt gerade an deinem. Die Höchste verlangt nach dir und wenn ich dich nicht heil bei ihr abliefere, bin ich dran. So war es auch damals, als ich geschickt wurde, um den Puppenspieler zu vernichten. Ich weiß nicht, wohin ich nachher geschickt werde. Wulfenian hat die Fürstentümer von Neodamos angegriffen. Früher oder später werden auch wir in die Schlacht ziehen. Was sie mit dir vorhaben, weiß ich nicht. Sie will dich unversehrt. Vielleicht braucht sie einen Bastard, um ein Exempel zu statuieren.“
„So wie du redest … Du bist diesem Leben hier müde. Das hört man raus. Pass besser auf deine Worte auf. So viel hab ich schon mitbekommen, dass man schnell den Kopf verlieren kann, wenn die Zunge zu leichtfertig eingesetzt wird“, zischte sie.
„Was soll ich deiner Ansicht nach tun? Weglaufen? Mich verstecken und hoffen, dass ich nicht erwischt werde, nur, weil es mir stinkt, dass ich herumkommandiert werde? Hast du eine Ahnung, wie viele Gefährten ich bereits fallen sah? Ich entging dem Tod nur knapp. Mein eigener Herr sein. Pah. Dafür bin ich zu niedrig geboren. Du wüsstest, wovon ich rede, wärst du reinblütig!“
„Das bezweifle ich.“
„Weshalb?“, er wandte den Kopf leicht, um sie anzusehen, „Weshalb sollte es dir denn bessergehen, wenn du hier geboren wärst?“
„Weil meine Mutter eine eurer Hochgeborenen ist, wie du es nennst“, Lumenia presste es zwischen den Zähnen hervor, „Irgendwo hier ist sie auch. Der Puppenspieler hat es so eingerichtet, dass ihre Blutschuld reingewaschen wurde. Sie erinnert sich an nichts.“
„Sie wurde sicher schon geopfert. Erinnerung hin oder her. Sie hat einen Bastard geboren und die anderen wissen davon!“
„Eben nicht. Sie wissen nur, dass sie auf einer langen Reise war. Sie ging, bevor irgendjemand wusste, dass ich in ihrem Bauch war oder wer mein Vater war. Nur sie wusste es und floh, bevor ihr Schlimmeres widerfahren konnte. Sie hasste mich jeden Tag dafür. Nur du weißt, dass sie von hier stammt und warum? Weil ich es dir erzählt habe. Keiner außer dir weiß das und wenn du eingehalten hast, worum ich dich gebeten habe, hast du es für dich behalten!“ Ihre violetten Augen funkelten ihn abschätzig an.
„Das habe ich auch“, entgegnete Furias und nahm die erste Stufe der Treppe. Erleichtert bemerkte er, dass sie offenbar sicherer geworden war, denn sie trat bestimmt auf. Ihr Arme hingen jedoch noch schlaff herab.
„Gut. Nimm es mit ins Grab. Es würde dir nur Ärger einbringen, denn wer glaubt mir schon? Ich bin ein Bastard. Meine Mutter hat keine Erinnerung und du wirst für einen alten Fehltritt schon genug herumgeschubst.“
„Ich habe keinen Fehler gemacht!“, fauchte Furias.
„Warum lassen sie dich dann die Drecksarbeit verrichten? Ich sag’s dir noch mal: Lauf doch einfach weg.“
„Und ich sag dir noch mal: Das geht nicht!“, erwiderte er rasch und hob den Kopf, um nach oben zu sehen. Am ersten Absatz der Treppe erwarteten sie Wachen, „Sei still oder es geht uns beiden gleichermaßen an den Kragen!“
Einer der Gardisten löste sich aus seiner starren Haltung und ergriff Lumenias zweiten Arm. Grober als Furias es getan hatte. Sie verzog leicht das Gesicht. Allmählich kehrten die Gefühle in ihre Gliedmaßen zurück.
Tapfer setzte sie einen Fuß vor den anderen. Das Gehen war auch nach der langen Zeit in der Zelle ungewohnt und ihre Beine fühlten sich vom Mittel noch schwer wie Blei an. Sie versuchte sich zu erinnern, aus welchen Zutaten es wohl bestanden haben mag. Ihr Meister hatte ähnliche Gifte verwendet, wenn seine Opfer noch am Leben sein mussten.
Während sie in Gedanken versank, warf Furias ihr einen raschen Seitenblick zu. Er wünschte, er könnte sie verfluchen, doch konnte er es nicht. Sie hatte Recht. Er wollte frei sein. Die Freiheit kennenlernen, von der sie nie müde geworden war zu Reden. Schon bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ihm davon vorgeschwärmt. Damals hatte sie einen unbekannten Funken in ihm entfacht und dieser war über die Zeit gewachsen.
Er ließ den Blick aus seinen tiefroten Augen über die schwarze Treppe gleiten. Dieser Weg führte nur weiter hinauf. Nur näher heran an den nächsten Befehl.
Furias lächelte innerlich. Die andere Richtung führt in die Freiheit, dachte er bei sich, In eine Freiheit, die ich kosten will. Zulange habe ich das hier erduldet. Zu viel Hunger gelitten, zu viele Gefährten verloren. Er hasste es. Er hasste die Hohepriesterin und all die, die vor ihr buckelten und ihre Füße küssten, um nicht in Ungnade zu fallen. Was konnte er als einfacher Soldat schon erreichen? Oberster Füßeküsser werden? Nein, er wollte mehr als das. Viel mehr.
Furias drückte Lumenias Handgelenk und sie hob den Kopf daraufhin ein Stück, um seinen Blick aufzufangen. Sie sah die rubinroten Augen und verstand. Er hatte sich entschieden.