Noah hatte nur ein Kabel und seinen Laptop gebraucht, um die Tür zu öffnen. Mit einem leisen Klicken war das Schloss aufgesprungen.
David hatte das Geräusch natürlich gehört, interessierte sich aber nicht weiter dafür. Er drehte sich nicht um, sah nicht einmal auf. Konzentriert beschäftigte er sich mit einem Schmuckstück, in das er mit Hilfe einer feinen Pinzette winzige Steine einsetzte. Vielleicht war es eine Brosche. "Doris, ich brauche noch eine gute halbe Stunde. Geht das?"
Aha. Er rechnete wohl mit der älteren der beiden Verkäuferinnen. Auf ihrem Namensschild hatte "D. Blum" gestanden. "D." war dann anscheinend die Abkürzung für Doris.
"Das musst du sie fragen", antwortete Noah lächelnd.
David hielt sofort inne, richtete sich ein wenig auf, zog die Schultern leicht nach oben. Er sah angespannt aus. Aber er drehte sich noch immer nicht um.
"Sollte Ihr System nicht verhindern, dass hier jemand rein kommt?", fragte er.
"Das tut es."
"Offensichtlich nicht", murmelte der Andere.
"Na ja", lachte Noah. "Also ... Ich bin das Sicherheitssystem!"
"Herzlichen Glückwunsch."
"Danke!", antworte der IT-Spezialist beiläufig, als wäre ihm der Sarkasmus im Tonfall entgangen, sah sich kurz um, schlenderte um einen der Arbeitstische herum, griff nach einem Hocker, rollte ihn neben den Blonden und setzte sich. "Hey. Ich bin Noah."
Ein abfälliger Seitenblick. "Ist mir egal." Er beugte sich wieder über die Brosche, nahm mit der Pinzette ein weiteres Steinchen auf und setzte es vorsichtig ein.
Da war wirklich ein Tattoo hinter seinem Ohr. Ein kleiner, blauer Stern. "Hör mal, David. David? Das ist doch richtig, oder?" Noah bekam keine Antwort. "Ich glaube, ja."
"Glauben Sie, was Sie wollen."
Okay. Dann eben gleich zur Sache. "David, das vorhin tut mir leid. Ich wollte dich nicht ärg..."
"Ist mir auch egal."
"Ich habe das sicher nicht böse gemeint, und wenn dich das verletzt hat, ..."
"So wichtig sind Sie nicht."
Wow. Der Kleine war entweder ein echter Sonnenschein, oder Noah hatte wirklich was angerichtet. Die Sonnenschein-Theorie kam ihm irgendwie nicht plausibel vor. Nicht nachdem er ihn vorhin mit Omi hatte flirten sehen. Dann lag es wohl wirklich an ihm. Na, klasse. Vielleicht wenn er es mit einem Themenwechsel versuchte? "Was sind das für Steine?"
"Geht Sie nichts an."
"Es interessiert mich."
"Nicht mein Problem."
"Darf ich mal sehen?"
"Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram."
Schwieriges Gespräch zwar, aber dafür eindeutig mal etwas anderes. Noah musste ein wenig schmunzeln. "Ich will sie ja nicht behalten."
"Glaube ich Ihnen sofort."
"Weil mir die Brosche nicht steht?"
"Weil Sie sie nicht bezahlen können."
"Sagt wer?"
"Ihre Schuhe."
Autsch. Anderes Thema. "Wie viele Leute arbeiten eigentlich hier?"
"Sehen Sie noch jemanden?"
"Ich meinte grundsätzlich."
"Finden Sie es raus, Sie Genie."
Also irgendwo war dann aber auch eine Grenze! David hielt ihn offensichtlich für pleite und blöd. "Glaubst du, ich könnte das nicht?"
"Sie finden ja nicht mal aus der Werkstatt raus."
Dann lieber doch kein Themenwechsel. Noah atmete tief durch. "Bitte, ich möchte mich doch nur entschu..."
"Ist mir vollkommen gleich, was Sie wollen." Seine Stimme war noch immer nicht laut, klang aber inzwischen auch nicht mehr besonders beherrscht. "Lassen Sie mich in Ruhe."
Das lief gerade so gar nicht in die Richtung, die Noah sich vorgestellt hatte. Nicht einmal ungefähr. War David wirklich so empfindlich? Er konnte doch wegen dieses unbedachten Ausspruchs unmöglich so eingeschnappt sein! Und was hatte er eigentlich gegen Sportschuhe?! "Es tut mir leid, ja? Ich habe etwas Dummes gesagt. Ohne es zu wollen. Und ich möchte mich entschuldigen und es wieder gut machen, aber ich weiß nicht wie", versuchte Noah es ganz ehrlich, griff nach der Kante des Arbeitstisches und zog sich ein wenig näher an den anderen heran. Das war offensichtlich keine gute Idee. David erstarrte regelrecht.
"Dann hören Sie schlecht! Hauen Sie ab!" Er war auf einmal so blass, dass sogar seine Lippen keine Farbe mehr hatten. Ein funkelndes Steinchen fiel ihm hinunter, weil seine Hand zitterte, es landete leise klirrend in der flachen Schale in der das Schmuckstück lag. Keine Sekunde später lag die Pinzette daneben, und er hielt sich mit beiden Händen am Tisch fest. Der junge Mann sah wirklich aus, als würde er jeden Moment vollkommen die Fassung verlieren!
Noah rollte auf seinem Hocker sofort einen halben Meter zurück. Reiner Instinkt. Er hatte mit vielem gerechnet, aber das hier konnte er gerade überhaupt nicht einordnen.
"David? Haben Sie Probleme mit dem Herrn?" Das war dann wohl Doris, wie Noah inzwischen vermutete.
"Er wollte gerade gehen", sagte der Blonde zu ihr, sehr um einen beherrschten Tonfall ringend.
Sie hielt nach wie vor die Tür auf und sah Noah streng an. "Wenn ich bitten dürfte?!"
Langsam stand er auf, blickte hinunter auf den Goldschmied und ging schließlich still an ihm vorbei nach draußen. Er hätte auch nicht gewusst, was er noch hätte sagen sollen. Die Frau machte hinter ihm sofort die Tür zu. "Wir schätzen es nicht, wenn unsere Mitarbeiter belästigt werden."
Noah bemühte sich um ein Lächeln. "Das war nie meine Absicht. Glauben Sie mir." So etwas wie das hier, war ihm noch nie passiert. Im ganzen Leben nicht!
"Nein. Mir ... mir reicht es! Mit den Mäännern ... bin ich fertig. Aber soooowas von!"
"Oje. Emma, du bist blau, wie ein Veilchen."
"Ich wa... war noch nie so klar."
Er grinste verwegen. "Willst du es lieber mit Frauen versuchen?"
"Aaalso, du spinnst wohl. Die siiind geisteskrank. Alle. Ich meine ... nich mal duuu versuchst das noch", kicherte sie.
Lächelnd sah der große Brünette auf seine beste Freundin hinunter. "Bleib mal schön hier sitzen, du kleine Rumkugel. Ich hole dir ein Mineralwasser. Oder am besten einen starken Kaffee", murmelte er.
Fest und ein wenig unkoordiniert, griff sie nach seinem Arm. "No... Noah? Du biiist mein bester Freund. Ich liieeebe dich."
Er beugte sich hinunter, und drückte sie einmal fest. "Ach, Süße! Das wird schon wieder."
Eine ihrer Freundinnen, die neben ihr saß, schüttelte verdrossen den Kopf. "Tut mir leid! Ich habe sie schon so gefunden!"
"Ich weiß", zwinkerte er ihr zu. Das passierte alle paar Monate. Emma vertrug einfach keinen Alkohol.
Noah war kurz darauf mit Wasser und Kaffee wieder am Tisch.
"Das ist hoffentlich nicht für mich?", hörte er eine Stimme hinter sich. "Ein kühles Bier wäre mir lieber!"
"Oh!" Er umarmte den jungen Mann so fest er konnte. "Kätzchen!", freute er sich. "Oh, es ist so schön, dich zu sehen!" Die beiden standen minutenlang so da, redeten und lachten, mit zusammengesteckten Köpfen. Irgendwann machte der Dunkelblonde einen Blick in Richtung Emma. "Sag mal, sieht das nur so aus, oder ..."
"Fürchte nicht."
"Echt? Schon wieder?"
Noah nickte.
Seufzend machte Julian einige Schritte auf die junge Frau zu, und drückte sie liebevoll.
"Juuulian? Du biiist mein bester Freund. Ich liieeebe dich."
"Ach, Süße! Das wird schon wieder!"
Julian hatte sich auf Noahs Schoß gesetzt und ihm einen Arm um die Schultern gelegt. "Na, komm. Erzähl mir alles!"
Auch ihr gemeinsamer Freund Tom war in der gemütlichen Bar, daher der Platzmangel. Der große Blonde in der Uniform des österreichischen Bundesheers kam gewöhnlich extrem gut an bei den Damen. Wie üblich hatte er sofort ein paar Mädels angequatscht, die nun alle schon leicht angeheitert um den Tisch herum sassen. "Rutscht doch mal rüber!" Wenigstens versuchte er für Julian ein wenig Platz zu machen.
"Meinetwegen nicht", winkte der ab. "Ich sitze gut."
"Meinetwegen auch nicht", stimmte Noah ihm zu. "Wir sitzen beide gut! Ich fürchte, es gibt nicht viel zu erzählen", wandte er sich an Julian. "Er kann mich nicht leiden."
Julian schüttelte den Kopf. "Kann nicht sein."
"Du hast ja keine Ahnung!"
"So schlimm?"
"Schlimmer. Er hasst mich."
"Sicher nur, weil er dich nicht kennt."
"Er will mich auch nicht kennen lernen."
"Will er sicher. Er weiß es nur noch nicht! Versuch es!"
"Habe ich versucht", seufzte er. "War nicht die beste Idee."
Julian dachte angestrengt nach. "Mach es doch auf die romantische Art!", schlug er schließlich vor.
"Nach der Arbeit mit Blumen auf ihn warten?", fragte Emmas Freundin erwartungsvoll.
"Das ginge", sinnierte Noah, "aber er meinte eher, ..."
"... sich in die Personaldaten der Firma hacken, herausfinden wo er wohnt und ihn flachlegen, bevor es ein anderer tut!", beendete der hübsche Dunkelblonde seinen Satz. "Wobei das mit dem Flachlegen eher optional ist. Mehr situationsabhängig", zwinkerte er. Die beiden lachten sehr.
"Ihr habt vooooll die ... die schräge Be... Beziehung."
Noah und Julian sahen sich an.
"Ja, ich fiiinde, ich muss eu... euch das mal sagen, ihr habt vooooll die schräge Bezi...iehung, seit ihr nich mehr zusammen seid. Ge... Genau." Emma nickte noch bestätigend, bevor ihr Kopf vornüber auf die Tischplatte fiel. Julian wuschelte ihr testweise durch die kurzen Haare. Sie schnarchte leise.
"Hm", meinte Noah. "Lassen wir sie noch ein Bier lang schlafen und dann tragen wir sie nach Hause."
"Wie in alten Zeiten", grinste Julian. "Findest du, wir haben eine schräge Beziehung?"
"Nein. Wieso? Du?"
"Keine Ahnung, was sie meint."
Emma schlief selig in Noahs Gästezimmer. Sie würde vor morgen Mittag nicht aufwachen, und sich dann zwei Tage sterbenskrank fühlen.
Er nahm Aspirin Brausetabletten aus einer Schublade in seinem Badezimmer, holte eine kleine Flasche Wasser und ein Glas, und stellte alles auf ihren Nachttisch. Ihre Jeans und die Socken steckte er in die Waschmaschine, das Oberteil musste noch warten. Das war Feinwäsche. Wie die Unterwäsche.
Nicht, dass er scharf darauf gewesen war, ihr die auszuziehen. Aber sie würde sonst behaupten, die Sachen hätten den Geruch der Kneipe in den Fasern, und sich dann wieder übergeben! Noah hielt ja eine Menge aus, aber das brauchte er bei aller Liebe nicht. Wenn jemand in seiner Nähe krank war, musste er nämlich gleich immer so sehr mitleiden.
Sie hatten ihr eines seiner T-Shirts angezogen. Weil Noah groß und eher kräftig, und Emma genau das Gegenteil war, wirkte es an ihr fast wie ein Nachthemd.
Er kippte noch das Fenster im Zimmer. Sie hatte beim Schlafen gerne kühle Luft. Der Lärm der Stadt hatte sie noch nie gestört. Er selbst war auf dem Land aufgewachsen. In den Bergen. Für ihn wäre das unerträglich.
Alles Nötige war also soweit erledigt, alles reine Routine. Sie hatten zusammen in einer Studenten WG gewohnt, Emma und er. Und dann auch Julian. Es war eine schöne Zeit gewesen! Leise schloss Noah die Tür hinter sich und schmunzelte.
Er konnte nicht schlafen. Die Gedanken in seinem Kopf waren schuld. Wie David auf ihn reagiert hatte, ließ ihm einfach keine Ruhe. Noah verstand es nicht, ging jeden Satz, jedes Wort an das er sich erinnern konnte, wieder und wieder durch. Aber er fand keine logische Erklärung für den katastrophalen Ausgang dieses Gespräches.
Morgens gegen vier Uhr schlich er in die Küche, nahm sich eine große Tasse und schaltete die Kaffeemaschine an.
Vielleicht wäre es besser, die Sache einfach zu vergessen. Andererseits konnte er mit so was schwer leben. Er war zwar keiner dieser Menschen, deren Lebensziel es war von der ganzen Welt geliebt zu werden. Aber gehasst zu werden, leidenschaftlich und abgrundtief, denn genau so hatte es sich angefühlt, fand er jetzt auch scheiße! Besonders, weil er es offensichtlich selbst verbockt hatte.
Er könnte ... ja, er könnte schon. Rein theoretisch. Aber sollte er auch? Einfach mal den Laptop aufklappen? Er müsste sich nur ... Er müsste sich einfach nur in die Personaldaten eines Nobeljuweliers in der Altstadt hacken. Mal schnell. Die romantische Methode eben ...