In aller Ruhe schlenderte Noah über den Flohmarkt. Eine völlig neue Erfahrung! Er hatte Gebrauchsgegenstände schon immer rein nach dem Grad ihrer Nützlichkeit bewertet, aber an diesem Ort versagte jede ihm bekannte Skala.
Mal sah er sich hier ein Bild an, er verstand nichts von Bildern, dann da ein Stück Geschirr oder eine undefinierbare Textilware. All diese Kissen, Deckchen und Tischläufer mit ihren Blümchenstickereien! Wer brauchte so etwas denn? Diese Frage gehörte für ihn in die Kategorie der ungelösten Rätsel der Menschheit. Zu welchem Zweck wurde Stonehenge erbaut? Gab es ein Leben nach dem Tod, existierte eine Weltformel und wer brauchte bestickte Tischläufer? Wer brauchte überhaupt Tischläufer? Mit oder ohne Blümchen? Ein Mysterium!
Die Gartenzwerge aus Plastik, die einige Meter weiter in Grüppchen beisammen standen, konnten ihn noch weniger überzeugen. Wer so einen freiwillig mit nach Hause nahm, hatte sicher ernsthafte Probleme im Leben. Traurig.
Noah nahm das alles sowieso eher unbeteiligt zur Kenntnis. Nein, er hatte sicher nicht vor, irgend etwas zu kaufen. Er fand nicht, dass ihm etwas fehlte. Und selbst wenn, er hätte nicht hier danach gesucht. Er musste einfach nur eine Stunde totschlagen, bis zu seinem nächsten Termin. Da kam ihm dieser Spaziergang zwischen den Verkaufstischen gerade recht.
Es roch sehr gut nach etwas Gebackenem. Krapfen vielleicht? Interessiert sah er sich um. Von irgendwo musste dieser vertraute Duft, der ihn sofort an seine Kindheit und die Küche seiner Oma erinnerte, ja schließlich kommen. Gedankenverloren schweifte sein Blick über den Markt. Und da entdeckte er ihn. Noah war sich ganz sicher. Dieses Lächeln war einfach hinreißend. Nur einen Steinwurf von ihm entfernt stand David! Natürlich galt dessen Freundlichkeit nicht Noah, sondern der Frau ihm gegenüber, die gerade etwas in ein Blatt Zeitungspapier einschlug.
Wie angewurzelt war Noah stehen geblieben, sein Herz schlug zu schnell und zu laut. Er überlegte, einfach mal Hallo zu sagen. Was konnte da schon groß passieren? Andererseits hatte David auch noch nie einen Zweifel daran gelassen, dass er nichts mit ihm zu tun haben wollte.
Der junge Mann gab der Frau einen Geldschein und sagte irgend etwas, das sie sehr zum Lachen brachte. Auch ein paar der umstehenden Leute ließen sich davon anstecken, alles in allem war die Stimmung dort vorne ausgesprochen heiter. Fröhlich plaudernd strich er sich seinen rotblonden Haarschopf aus dem Gesicht, nahm das Ding im Papier und steckte es äußerst vorsichtig in eine Tasche. Es war wohl etwas Zerbrechliches. David war so herzlich, so liebenswert!
Zu allen außer zu ihm, dachte Noah unwillkürlich. Er hätte schon gerne gewusst, warum das so war.
Der Goldschmied sah auf seine Uhr, erschrak ein wenig, verabschiedete sich hastig und schon war er im Getümmel verschwunden. Vielleicht ging seine Mittagspause zu Ende? Wie auch immer. Wenn Noah eine Möglichkeit gehabt hätte mit ihm zu reden, so hatte er sie vertan. Er sagte sich, dass es nicht wichtig wäre. Leider glaubte er sich das nicht.
Auf dem Tapeziertisch direkt neben ihm, war ein buntes Durcheinander von allerlei Dingen. Auf den ersten Blick konnte Noah die gesamte Harry-Potter Reihe sehen, ein paar Romane und diverse Comics. Dazu Kleidung, Plüschtiere, einen Globus, Kochtöpfe, Blumentöpfe sowie jede Menge Deko-Artikel.
In einer flachen Schachtel lagen eine Unmenge Ketten und Armreifen. Allesamt Modeschmuck. Aus reiner Langeweile und um sich abzulenken, wagte er einen genaueren Blick. Ganz unten war ein Stück, das seine Neugier weckte. Interessiert zog er es heraus. Es war gar nicht so klein, etwa sieben mal vier Zentimeter. Trotzdem lag es nicht schwer in seiner Hand.
Zwischen filigrane, goldene Ranken, sicher war es nur Farbe, waren dunkelrote Steinchen von je etwa vier Millimeter Durchmesser gesetzt, die geschliffen und rund eingefasst waren. Nur der letzte Stein, der ganz unten hing, war eine Spur größer und tropfenförmig. Ursprünglich mussten es insgesamt fünfzehn gewesen sein, aber zwei fehlten schon. Vielleicht war es ein Anhänger? Er wusste es nicht. Das Ding hatte nichts, das aussah als könnte man es daran an eine Kette hängen. Es gefiel ihm trotzdem, es sah interessant aus. Nicht alltäglich. "Was willst du dafür haben?", fragte er den Jungen hinter dem Tisch freundlich. Ein Teenager, vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre alt.
"Fünfundzwanzig Euro!"
"Ganz schön viel, hm? Es ist kaputt." Wenn er es verschenken wollte, müsste er es vorher reparieren lassen.
"Zwanzig. Letztes Angebot!", sagte der Andere sehr streng.
"Ich weiß nicht." Noah musste lächeln. "Ist immer noch viel." Der Bursche meinte es ernst.
"Billiger wird es nicht."
"Du bist ganz schön hart."
"Ich will ein iPhone, Mann."
"Verstehe. Und deshalb darfst du das Zeug von deiner Mama verscherbeln?"
"Oma. Und meinen eigenen Kram."
"Und? Wie sieht's aus?"
"Kommt drauf an. Willst du es haben, oder nicht?"
Eigeninitiative hatte er schon immer sympathisch gefunden. "Also gut. Du bist zwanzig Euro näher an deinem iPhone." Er gab ihm einen Schein, warf das Schmuckstück in die Luft, fing es mit der anderen Hand wieder auf und steckte es in die Jackentasche. "Viel Glück!"
"Hat mit Glück nichts zu tun! Businessplan", grinste der Junge.
Zuhause hatte Noah sich gegen den Schreibtisch entschieden und es sich stattdessen im Wohnzimmer auf der Couch bequem gemacht. Der Mann konnte schließlich überall arbeiten, gewöhnlich brauchte er nicht mehr als sein Notebook dafür.
Was er in diesem Moment machte, hatte mit seinem Job aber nur entfernt zu tun. Seit Monaten geisterte ihm wieder eine Idee im Kopf herum, der er erst einmal ein grobes Gerüst verpassen wollte. Was er am Ende daraus machen könnte, oder ob überhaupt, würde sich später zeigen. Vermutlich viel später. Denn auch das, so wie er es sich vorstellte, war schon eine gewaltige Herausforderung. Allerdings eine, ganz nach seinem Geschmack.
Nur kam er nicht so recht voran. Er hatte Schwierigkeiten sich zu konzentrieren. Das ging schon länger so. Was für ein Zufall, dass ihm David über den Weg gelaufen war!
Oder auch nicht. Wenn man in der gleichen Stadt lebte, war das sicher gar nicht so selten. Salzburg war ja auch keine Millionenmetropole. Noah fragte sich, wie hoch die theoretische Wahrscheinlichkeit für so was war. Was ihn auf den Gedanken brachte, dass es immer mal wieder würde passieren können. Es sei denn, einer von ihnen beiden würde beschließen, nie wieder vor die Tür zu gehen.
Es könnte ihm ja auch egal sein. Wäre nur sein rasendes, lautes Herz nicht. Eigentlich hatte er angenommen, das würde sich bessern. Mit der Zeit. Tat es ganz offensichtlich nicht. Im Gegenteil.
Hätte er zu David nur etwas gesagt! Wie schlimm hätte es schon werden können? Noah wischte diese Überlegung so schnell zur Seite, wie sie ihm in den Sinn gekommen war. Er hätte es gar nicht gekonnt, das war leider die Wahrheit. Eine weitere Abfuhr hätte ihm nichts ausgemacht. Das war es nicht, was ihn dort hatte erstarren lassen. Zwischen dem ganzen Krempel auf dem Flohmarkt.
Stattdessen war es die schlagartige Erkenntnis gewesen, dass er dem fröhlichen jungen Mann, den er in diesem Augenblick nur wenige Meter vor sich gesehen hatte, nie begegnet war. Das hatte ihm einen Stich versetzt, der furchtbar weh getan hatte. Viel mehr als es normal gewesen wäre.
Wann immer er ihm gegenüber gestanden hatte, war David nicht ansatzweise so gewesen. Er war nie nett gewesen, nicht mal ein bisschen. Hatte ihn nie angelacht, nie ein freundliches Wort zu ihm gesagt. Er hatte abweisend, verärgert, sogar zornig und immer äußerst angespannt auf ihn reagiert.
Noah hätte viel dafür gegeben, an der Stelle dieser Frau zu sein, die heute Mittag anscheinend den echten David getroffen und ihm etwas in Zeitungspapier eingewickelt hatte. Oder an der seiner Arbeitskollegin hinter dem Sicherheitsglas, die ihm damals die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Oder an der, der alten Dame mit der Perlenkette. Sein Lächeln für sie hatte Noahs Welt zum Stillstand gebracht.
Darüber nachzudenken war natürlich umsonst. Liebe gehörte zu den Dingen, die man im Leben nicht erzwingen konnte. Was für ein absolut unpassendes Wort! Es fiel ihm gerade auf. Worüber dachte er denn da bloß nach?
Der Begriff hatte natürlich überhaupt keine Berechtigung in diesem Zusammenhang. Er korrigierte sich und suchte nach etwas, das nicht ganz so weit hergeholt war. Freundschaft passte auch nicht. Sympathie? Ja, er nahm Sympathie: Sympathie gehörte zu den Dingen, die man im Leben nicht erzwingen konnte.
Nicht einmal das.