Seit dem Spaziergang auf dem Flohmarkt, vor wenigen Wochen, hatte Noah diese Jacke nicht mehr getragen. Als er jetzt in die Tasche griff und das Schmuckstück zu fassen bekam, das er an diesem Tag gekauft, eingesteckt und vergessen hatte, fiel es ihm wieder ein.
Er sah sich das Ding noch einmal an. Ob es wirtschaftlich überhaupt Sinn machte, es richten zu lassen? Ganz sicher nicht. Immerhin hatte er nur zwanzig Euro dafür bezahlt. David könnte ihm diese Frage bestimmt beantworten, er war schließlich Goldschmied. Dafür müsste der aber mit ihm reden. Was er nun mal nicht tat. Noah musste es also selbst entscheiden.
Das Teil gefiel ihm wirklich, auch wenn er noch immer nicht wusste, was es war. Aber wenn man die fehlenden Steinchen ersetzte, wäre es hübsch. Ein nettes kleines Geschenk für seine Mama, die Modeschmuck mochte. Er war sowieso gerade in der Altstadt, der Juwelier der ihm als erstes in den Sinn kam, war nicht weit.
Als Noah den Verkaufsraum betrat, herrschte einiger Andrang. Alle Verkäuferinnen waren sehr beschäftigt, er spazierte zwischen den verschlossenen Vitrinen hin und her bis er dran war. Er legte das Stück schließlich vor einer jungen, blonden Angestellten auf den Tisch. "Ich möchte das gerne reparieren lassen. Ist das möglich?"
Unsicher schaute sie sich das Teil an. "Darf ich Sie um einen Moment Geduld bitten?" Die Gute wirkte leicht überfordert.
Wenig später stand die große Kollegin neben ihr, die Noah schon beim letzten mal hier gesehen hatte. D. Blum. Er überlegte fieberhaft. Doris!
Die Frau hatte zu Anfang ihr professionelles Dauerlächeln im Gesicht gehabt, jetzt wirkte es eingefroren. Sie hatte ihn ebenfalls wiedererkannt und schien keineswegs erfreut darüber. Auch sie sah sich das Kleinod an. Er hörte die beiden flüstern. "Ich weiß nicht. Corinna ist noch im Urlaub. Wann David wiederkommt, kann niemand sagen." Die Blonde überlegte. "Und von den anderen?" Die Größere schüttelte den Kopf. Kein einziges Haar ihrer streng nach hinten gekämmten Frisur bewegte sich.
"Es tut uns sehr leid, Ihnen keine zufriedenstellende Auskunft geben zu können", ergriff Doris schließlich das Wort. Sie sah aber gar nicht aus, als würde sie das bedrücken. "Was wir Ihnen selbstverständlich anbieten können, ist eine Expertise zu einem späteren Zeitpunkt."
Expertise. Noah musste schmunzeln. Es fehlten doch nur zwei rote Glassteinchen.
"Wenn Sie uns das Stück anvertrauen wollen, werden wir Sie ehestmöglich kontaktieren."
Noah überlegte kurz. "Ich weiß nicht. Ich hätte schon gerne sofort gewusst, ob es überhaupt noch zu retten ist." Er wagte es einfach. "Ist David da?", fragte er betont unauffällig.
Doris lächelte kein bisschen mehr. Ein Muskel in ihrem Mundwinkel zuckte kaum merklich. "Ich bedaure."
"Wann kommt er denn wieder?"
"Das entzieht sich leider meiner Kenntnis."
Wäre David im Urlaub gewesen, hätte sie es ja wohl gewusst, oder? "Ist er krank?"
Mit eisigem Blick schob sie das Schmuckstück in Noahs Richtung. "Wenn Sie etwas damit zu tun haben, lernen Sie mich kennen, ist das klar?"
"Bitte?"
"Sie haben mich schon verstanden." Die Frauen ließen ihn einfach stehen.
Noah begriff rein gar nichts.
Wieder zuhause legte er ein Schneidebrett auf die Arbeitsfläche in seiner Küche. Er holte einen Zander aus dem Kühlschrank und nahm ein Filiermesser zur Hand.
Was war denn mit David? Warum wussten sie denn nicht, wann er wieder zur Arbeit kommen würde?
Mit routinierter Sicherheit begann der Mann den Fisch zu zerlegen, den er zu Abend essen wollte.
Das alles kam ihm ganz und gar nicht gut vor. Er machte sich Sorgen. Wenn er mal nachsehen würde? Nein. Das ging ihn doch überhaupt nichts an.
Fachkundig strichen seine Fingerspitzen über die beiden Filets. Er brauchte eine Grätenzange. Wo hatte er die nur eingeräumt?
Diese Sache vorhin, ließ ihm keine Ruhe. Aber er konnte doch nicht aus heiterem Himmel bei ihm auftauchen. Einfach so. Andererseits ... gäbe es einen glänzenden Vorwand.
"Ich muss unbedingt wissen was es ist, und ob man es reparieren kann!" Noah hielt sein Schmuckstück vor Davids Türspion.
"Deshalb kommen Sie zu mir nach Hause?"
"Ja! Es ist wirklich wichtig!"
"Bringen Sie es zu einem Juwelier!"
"Das habe ich versucht! Die wissen es nicht!"
"Was? In welchem Saftladen waren Sie denn da!"
"In deinem."
Es war still. Eine unendlich lange halbe Minute! Dann hörte Noah das leise Klicken des Schlüssels in der Wohnungstür, die sich kurz darauf einen Spalt weit öffnete. Er trat etwas zurück. Im Vorzimmer war es dunkel. Ein genervtes, "Zeigen Sie mal her", war zu hören, als die ausgestreckte Hand des Anderen nach dem goldenen Etwas griff. Sofort ging die Tür wieder zu. Es dauerte ein Weilchen.
Noah sah sich um. Das Treppenhaus hielt, was die Fassade versprach. Grau und ungemütlich. Er stand im ersten Stock und sah nach oben. Das Gebäude hatte vier Stockwerke und einen Keller.
Leise machte David wieder auf. Etwas weiter, als vorhin. Aber von ihm war wieder nicht viel zu erkennen, unmöglich zu beurteilen, ob er krank aussah. Drinnen war es immer noch dunkel.
"Es ..." setzte der Goldschmied an, stieß einen unterdrückten Schrei aus, warf ihm das Schmuckstück zu, ließ die Klinke los und machte einen so hastigen Sprung nach hinten, dass er fast einen Kleiderständer umgerissen hätte.
Noah war etwas irritiert. Vorsichtig beugte er sich nach vorne und spähte in das Innere der Wohnung, auf jene Stelle an der Wand, wo David zuletzt hingesehen hatte. Die Ursache für seinen Schock war schnell auszumachen.
Gleich neben dem Türrahmen hatte es sich eine Spinne gemütlich gemacht. Eine von diesen dicken Schwarzen. Und ja, sie war vergleichsweise riesig. Weil sie auch genau in Davids Blickfeld saß, war seine Reaktion eigentlich kein Wunder. Noah hätte sie im ersten Moment sicher ebenfalls erschreckt. Auf den zweiten Blick waren Spinnen dann aber auch nur ganz normale Tiere. Mit etwas zu vielen Beinen.
Noah steckte das Schmuckstück wieder ein, anscheinend wurde er es einfach nicht los, und machte einen Schritt in die Wohnung. Vorsichtig pflückte er das Tierchen von der Wand, legte blitzschnell die Zweite Hand darüber und bildete einen Hohlraum.
David beobachtete das Ganze mehr oder weniger entsetzt. Eher mehr. Der genaue Grad seiner Bestürzung war durch die spärliche Beleuchtung schwer einzuschätzen.
Der Größere sah sich um. Die Haustür unten würde er mit der Spinne in den Händen nicht öffnen können. Es gab zwar in jedem Stockwerk ein kleines Lichtfenster, aber ohne Griffe. Noah machte also einen beherzten Schritt in die Wohnung. Geradeaus war ein Fenster, es war normal groß und hatte einen Fenstergriff. Eine andere Möglichkeit sah er nicht, also ging er einfach darauf zu. "Kannst du das mal aufmachen?"
"Was?! Gehen Sie aus meiner Wohnung raus!" David schien vollkommen außer sich. Noah schob es auf die Spinne.
"Kannst du das bitte mal aufmachen?" Wartend stand er vor dem Wohnzimmerfenster und hielt nachdrücklich seine gut verschlossenen Hände in die Luft.
"Was ... was wollen Sie?!"
"Das arme Tierchen an die Luft setzen? Deinetwegen hatte die Kleine fast einen Herzinfarkt!", fügte er gespielt vorwurfsvoll hinzu.
"Sie ... Sie müssen die umbringen! Die kommt doch sonst wieder rein!"
"Also ehrlich." Noah schenkte ihm einen mitleidigen Blick. "Du musst dich mal entscheiden! Du willst kein Fleisch essen, damit kein Tier deinetwegen geschlachtet wird, aber dieses kleine Wesen hier verurteilst du ohne mit der Wimper zu zucken zum Tode? Ist das dein Ernst?"
David atmete mehrmals tief durch, kam dann doch aus seiner dunklen Ecke, lief zum Fenster und riss es auf. Noah setzte die Spinne auf das Fensterbrett und machte wieder zu. Nachdenklich schaute er hinaus.
"Ist sie weg?"
"Ja." Sie war nicht weg. "Gern geschehen."
"Das ... Das hätte ich auch selbst gekonnt!"
"Klar", lächelte der Größere und sah sich in der Wohnung um. Zum tristen Treppenhaus war das hier ein Kontrast, wie er krasser nicht hätte sein können.
Als erstes fiel ihm der Teppich auf. Weiß, wie die kleine Couch und der Ohrensessel. Nicht mal cremefarben, nein, weiß! Dahinter die einzige Wand, die farbig gestrichen war. Ein ruhiges Kaminrot, das sich auch in Kissen, Vorhängen und Bildern fand. Dabei stand ein niedriges Tischchen aus glänzendem, dunkelbraunem Holz, es sah irgendwie asiatisch aus.
Gegenüber der Couch war ein Sideboard, ebenfalls aus dunklem Holz, in dessen Mitte eine kugelförmige Vase aus geschliffenem Glas stand. Darin befanden sich frische Tulpen in gelb und rosa, mit Grünzeug dazwischen. Zu beiden Seiten standen Fotos in wundervollen Bilderrahmen, hauptsächlich in Silber, wie die Katze neben der Tür zum Eingang. Sie war sehr elegant, etwa einen halben Meter hoch und hatte Augen aus geschliffenen, schwarzen Steinen.
Einen kunstvollen, silbernen Rahmen hatte auch der fast raumhohe Spiegel neben der Wohnungstür. Außerdem fand sich im Vorraum noch ein antik anmutender Schrank und eben jener Kleiderständer, gegen den David vorhin geprallt war.
An allen Wänden hingen vergrößerte Fotos. Sie zeigten durchgehend Blüten. Noah hatte zweimal hinsehen müssen, um sie als solche zu erkennen. Durch die extremen Nahaufnahmen wirkten sie fast abstrakt.
Neugierig geworden, machte er einige Schritte. Die Küchentür stand weit offen, er riskierte einen Blick. Auch dieser Raum war klein, aber nicht weniger einladend. Alle Oberschränke hatten Glasfronten und waren von innen beleuchtet. Darin befanden sich Gläser, Tassen, Schüsselchen, die allesamt wirkten, als würden sie zerbrechen, sobald man sie anfasste.
Überhaupt sah jeder einzelne Gegenstand, was es auch war, so aus, als wäre er genau für den Platz angefertigt worden, an dem er stand oder lag. Diese Wohnung war traumhaft schön!
"Gehen Sie raus!", riss David ihn aus seinen Gedanken.
"Echt?", lachte Noah. "Wo ich dir gerade das Leben gerettet habe?" Erst da blickte er den Anderen, der jetzt auch im Licht stand, wirklich genau an. Und darum war das sprichwörtliche blaue Auge, die aufgeplatzte Lippe und einige unschöne Flecken an seinem Hals gut zu sehen.
"Gehen Sie sofort aus meiner Wohnung raus!" Der Kleinere war weiß wie die Wand.
"Was ..." Das konnte Noah gerade nicht so richtig glauben. "Was ist das?" Er fasste nach dem Kragen von Davids Shirt und zog ein wenig daran. Es schien darunter noch viel mehr dieser Blutergüsse zu geben. "Wo hast du die denn her?!"
"Das geht Sie nichts an!", schrie David, heftig nach der Hand am Saum seines Oberteils schlagend. "Hauen Sie sofort ab!"
"Wenn ich herausfinde, dass Sie etwas damit zu tun haben ...", hatte Doris gesagt. Noah schloss kurz die Augen. Das durfte ja wohl nicht wahr sein!