Noah setzte sich absichtlich weder genau gegenüber, noch direkt neben David. Nicht nur, weil die Frauen ihn sich natürlich sofort geschnappt, und den jungen Mann zwischen sich auf die Eckbank gezogen hatten. Er sollte sich aussuchen, wo er sein und mit wem er reden wollte. Ohne das Gefühl zu bekommen, keine Wahl zu haben.
Zu Anfang schien er recht vorsichtig zu sein. Er hörte mehr zu, als dass er sich an den Gesprächen beteiligte. Aber die Damen waren ebenso neugierig wie liebenswert und im Grunde hatte er keine Chance ihnen zu entkommen. So fand Noah heraus, dass David wohl eine verdammt gute Kamera besaß. Jedenfalls löste die Erwähnung von Marke und Modell bei dem älteren der Kollegen wahre Begeisterung aus. Zwischen den beiden entwickelte sich ein äußerst angeregtes Gespräch, dem Noah erst wieder einigermaßen folgen konnte, als es um Bildbearbeitungsprogramme ging.
"Sind die Fotos in deiner Wohnung etwa von dir?", fragte er den Rotblonden ehrlich erstaunt.
"Ja. Alle."
"Und wie machst du das?"
"Was denn?"
"Sie sehen nicht aus, als wären es Fotos. Eher wie ... Kunst! Ich meine ... was ist denn das Längliche über der Couch?"
"Mais."
"Was?"
"Das ist einfach." Der Rotblonde probierte eine Gabel von seinem Risotto. Es schien ihm gut zu schmecken. Er hatte sofort einen freudigen Ausdruck im Gesicht. "Man verändert nur die Farben und ersetzt den Hintergrund durch eine monochrome Fläche."
"Schon", redete der Alte auf David ein. "Aber schau dir dieses andere Programm einmal an. Das ist ungleich besser, glaub es mir!"
"Es ist aber auch richtig teuer!"
"Geh, bitte." Er rückte sich seine Brille zurecht. "Noah?"
"Praktisch schon erledigt", nickte der Brünette noch in der gleichen Sekunde.
David hatte keine Ahnung, was die meinten.
"Hey, seht mal!", strahlte die Blonde. Euer Kumpel ist wieder da!"
Alle Augen richteten sich gespannt auf die Tür.
Mit wenigen Schritten war Tom am Tisch angelangt und baute sich scharf einatmend vor David auf. Der Gesichtsausdruck des Unteroffiziers war schwer zu deuten, als er eine ganze Menge kleiner Scheine auf den Tisch legte. Unübersehbare Scham lag in dieser Geste. Aber ganz sicher auch eine gute Portion Respekt.
"Und?" fragte der Andere betont unschuldig von unten, legte eine Hand auf den Haufen Geld und zog diesen, ohne den großen Blonden dabei aus den Augen zu lassen, näher an sich heran. "Erfolg gehabt?"
"Das - weißt du genau!"
Auf dem Gesicht des Kleineren breitete sich ein Grinsen aus, das keinen Raum für Spekulationen mehr zuließ. "Schon." Genüsslich begann der Goldschmied seinen Wettgewinn zu zählen. "Aber ich möchte es trotzdem gerne hören."
Mit hochrotem Kopf stützte Tom sich auf einer Sessellehne ab. "Nachdem wir am Kloster angekommen waren und Schwester Maria-Juliana mich der Mutter Oberin vorgestellt hatte, ..."
Am Tisch brach schallendes Gelächter aus. David biss sich in die Unterlippe.
"... schleppte ich die verdammte Truhe in den dritten Stock."
"Ja?"
"Oh, ja", knurrte der große Blonde. "Und das war noch längst nicht alles. Anstatt anschließend, wie geplant, in Gesellschaft der umwerfenden Julie ... wieso war die vorhin eigentlich nicht angezogen wie ein Pinguin?"
"Ist ein sehr liberaler Orden."
"Aha?"
"Ja. Wenn sie zu arbeiten haben, tragen sie schon mal Zivilkleidung."
"Ist ja super. Anstatt also mit der wundervollen Juliana zu Mittag zu essen, die da übrigens schon längst auf Nimmerwiedersehen verschwunden war, durfte ich unter strengster Beobachtung von Schwester Maria-Innocentia, die gefühlte hundert Jahre alt ist, ..."
"Sechsundneunzig."
"Schön für sie."
"Ein niedlicher Sonnenschein, nicht wahr?"
"Ganz zauberhaft. Jedenfalls durfte ich gleich noch einen kompletten Schrank mit nach unten nehmen."
Spätestens als Noah David ansah, dem schon Tränen in den Augen standen, weil er sich so verzweifelt bemühte, nicht in das Gejohle der Mädchen neben sich einzustimmen, musste auch der Brünette haltlos lachen.
"Das Ding wog eine Tonne. Fast so viel, wie die unglaublich schwerhörige Schwester Maria-Ignatia, die ernsthaft meinte, ihre gebrüllten Anweisungen seien mir eine Hilfe."
"Ist sie nicht reizend?"
"Doch, die kann einen reizen. Ich habe das Ungetüm von einem Möbel erst zerlegen müssen, um überhaupt eine Chance zu haben, es ins Erdgeschoss zu schaffen."
"Das war aber lieb von dir."
"Findest du, ja?", presste der Unteroffizier zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
"Absolut. Hast du es den Damen denn auch wieder zusammengebaut?"
"Warum glaubst du, dass ich erst jetzt hier stehe?", schimpfte er und wandte sich tödlich genervt an die ausgelassene Runde. "Ist ja super, wenn ich die Quelle eurer Heiterkeit bin!"
"Wir lachen nicht über dich, sondern mit dir", versuchte Noah seinen Freund zu beschwichtigen.
"Verarsch mich ja nicht! Das war meine gute Tat für dieses Jahr, das sag ich dir. Ist mein Ernst, Mann. Von mir habt ihr nichts mehr zu erwarten. Keiner von euch!"
"Ach, was", prustete David nun los. Er konnte einfach nicht mehr. "An dir nehme ich mir gerne ein Beispiel. Mädels", strahlte er die Damen am Tisch an, "bestellt euch ruhig noch ein Dessert. "Wie wäre es mit einem Gläschen Sekt dazu?" Voll Freude wedelte der junge Mann mit den Scheinen in der Luft. "Ich zahle!"
"Ist es nicht schön, wenn es ausnahmsweise mal die trifft, die es am nötigsten haben?", jubelte die Schwarzhaarige.
"Ja, uns!", stimmte ihre rothaarige Freundin mit ein, schlang beide Arme um den etwas verblüfften David und drückte ihn begeistert.
"Kunststück, mit meiner Kohle", knirschte Tom und ließ sich seufzend neben Noah nieder, der ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte.
Die Situation war auch zu dämlich. "Is ja gut. Ich schätze ... ich hab's verdient", gab der Blonde schließlich zu und schüttelte den Kopf. Es würde sich schon wieder was ergeben. Scheiß Glückskeks!
Noah beobachte David so unauffällig wie möglich. Er hatte sichtlich Spaß, lachte oft und sah überhaupt recht unbeschwert aus. Vielleicht war es die Anwesenheit vieler Menschen, die ihn beruhigte? Das sollte kein Problem sein.
"Wollen wir nächsten Samstag ins Kino?" fragte der Brünette beiläufig.
"Fände ich cool", erwiderte die Blonde sofort.
"Ja, würde mir auch gefallen", freute sich die Rothaarige, die noch immer David umarmte. "Du kommst doch mit, oder?", fragte sie ihn erwartungsgemäß.
"Also ... ich weiß nicht."
"Was läuft denn?", wollte einer der Männer wissen.
"Ist doch egal. Wir finden schon was", entschieden die Mädchen.
"Okay, dann um sieben?", wandte Noah sich an David.
"Ich ... denke nicht, dass ..."
"Soll ich dich abholen?"
"Nein! Danke."
Da war es wieder. Dieses deutlich sichtbare Unbehagen, das wohl schon der bloßen Vorstellung geschuldet war, nur zu zweit in einem Auto zu sitzen. Es war wohl am besten, nicht zu viel Interesse zu zeigen.
"Aber du kommst!" Erwartungsvoll sahen die Frauen den Goldschmied an. Ach, sie waren einfach herrlich berechenbar.
Der Gedanke gefiel David schon. Es wäre mal was anderes, als immer daheim zu sein. Außerdem hatte er sich ewig keinen Film mehr angeschaut. Alleine machte das aber auch keinen Spaß. Und diese paar ganz unterschiedlichen Leute waren wirklich richtig nett und lustig. Bis eben hatte er sich eingeredet, die Gesellschaft anderer Menschen würde ihm nicht fehlen. Aber in seinem Leben, in dem er so viele schlechte Entscheidungen getroffen hatte, musste er zugeben, dass es eine der besseren gewesen war, heute zu bleiben. Wenn David ehrlich zu sich selbst war, dann war es viel zu lange her, dass er sich so gut unterhalten hatte.
Er hatte immer noch Noah im Blick, der nicht aussah, als würde er der anstehenden Entscheidung größere Bedeutung beimessen. Seelenruhig nippte der Mann an seinem Kaffee und unterhielt sich bereits wieder mit Tom.
"Okay, wieso nicht", stimmte David schließlich zu.
Noah hatte jedoch sehr genau hingehört. Ihm wurde wunderbar warm um sein Herz, das deutlich schneller schlug. Und das kam nicht von dem großen Braunen in seiner Tasse.
David staunte nicht schlecht, als die Rechnung kam und die kleine Rothaarige für alle bezahlte. "Du darfst deine Kohle behalten, wir setzten das als Arbeitsessen ab", erklärte sie ihm knapp. "Das geht, weil er dabei ist!" Mit einem Zwinkern deutete sie auf Noah, der ein wenig lächelte.
"Macht ihr sowas öfter zusammen?", fragte der Goldschmied.
"Eva und Sam sind erst seit ein paar Wochen in der Firma", erklärte der Brünette. Die beiden waren eben in Richtung Toiletten verschwunden. "Sie sind Top-Programmierer. Wir waren froh sie zu kriegen und möchten dass sie sich wohl fühlen. Nicht nur in der Arbeit. Menschen ohne funktionierendes soziales Umfeld sind weniger glücklich. Sie bleiben oft nicht. Deshalb versuchen wir immer, neuen Kollegen möglichst schnell auch ein stabiles privates Netz aufzubauen."
"Aha." Leicht irritiert schaute er zu der jungen Frau, die eben die Rechnung in einer kleinen Mappe verstaute. "Dann seid ihr alle ..."
"Computernerds?", grinste die Rothaarige. "Fast. Ich bin nur Team-Assistentin."
"Sag nicht nur, Liebes. Wir wären allesamt verloren ohne dich", lächelte Noah sie an.
Du hast keine Ahnung, wie sehr. "Ist er nicht umwerfend?", fragte sie David ganz ernst. "Ich steh auf ihn."
"Das ... okay?" Der junge Mann räusperte sich. Fast sah es aus, als wäre er ein bisschen nervös. "Und ... und was machst du da genau?"
"Alles eigentlich. Ich buche Flüge, koche Kaffee, koordiniere Termine, plane Meetings, ..." Helfe Amor seinen verdammten Job zu erledigen. "Hauptsächlich kümmere ich mich darum, dass die richtigen Menschen, zur richtigen Zeit an den richtigen Orten sind." Und ich bin verflucht gut darin, wie man sieht! "Ich sorge allgemein für optimale Rahmenbedingungen, wenn du so willst." Gelegentlich muss ich dafür zwar mit Kerlen arbeiten, die ich privat nicht mal mit einer Beißzange anfassen würde, aber bitte.
Tom grinste in sein Bier.
"Es ist schön, dass du ins Kino mitkommst." Das soll mir mal einer nachmachen! Die Team-Assistentin wandte sich wieder an den großen Brünetten. "Nicht wahr, Noah?"
"Das ist es", stimmte er ihr aus tiefster Seele zu.
Zwar würde David nicht seinetwegen dabei sein. Aber Noahs Anwesenheit hielt ihn auch nicht davon ab. Er wertete das einfach mal als Erfolg.