Weil ein riesiger Container den Parkplatz vor Davids Haus blockierte, stellte Noah sein Auto mal lieber um die Ecke ab.
Als nächstes musste er sich irgendwie das Grinsen aus dem Gesicht wischen, bevor er nach oben ging. Leider war das gar nicht so einfach. Er sollte rauf kommen! Das hätte er nicht erwartet, als er vorhin angerufen hatte. Im Leben nicht. Er hatte schon gehofft, David zu sehen. Ein kurzes Zusammentreffen an der Treppe wäre durchaus im realistischen Bereich gewesen. Mehr eher nicht.
Und jetzt das. Ein simples Bildbearbeitungsprogramm würde dem IT-Spezialist die Türe öffnen. Er konnte sein Glück kaum fassen!
Von sich aus hätte er nie versucht, noch einmal in Davids Zuhause einzudringen. Als Noah diese Wohnung das letzte Mal betreten hatte, war ihm nicht ansatzweise bewusst gewesen, welche Lawine er damit ins Rollen bringen sollte. Nicht mal im Traum wäre ihm eingefallen, dass ein paar unbedachte Schritte in die falsche Richtung so viel Angst auslösen konnten. Es hatte dann in einer kleinen Katastrophe geendet. Für sie beide. Wenn auch auf unterschiedliche Arten. Nur Speedy war ruhig geblieben, aber die Spinne war ja auch nicht schuld gewesen.
Wenn David ihn jetzt rein ließ, einfach so, hatte sich das Verhältnis zwischen ihnen eindeutig entspannt.
Trotzdem hatte der Brünette sich vorgenommen, nicht zu viel in diese Geste hinein zu interpretieren und die Situation schon gar nicht auszunutzen. Er würde sich nicht länger als nötig aufhalten und äußerst aufmerksam sein. Beim geringsten Anzeichen von Unwohlsein, das David zeigen würde, wäre sofort Schluss. Das Ganze könnte sonst womöglich noch mit einem Rückschritt enden. Schließlich konnte keiner so genau wissen, wo für den Goldschmied jetzt wirklich die Grenze des Erträglichen war. Im Umgang mit Menschen allgemein. Und mit Noah im Besonderen. Dazu noch mit ihm alleine.
Nein, er würde kein Risiko eingehen. Es ging immerhin um viel! Wenn er es heute schaffte, einen vertrauenswürdigen Eindruck zu hinterlassen, wäre das doch eine wunderbare Sache. Auf der man aufbauen könnte.
Er musste sich anstrengen. Und vor allem, aufhören zu grinsen. Unbedingt.
David war überrascht, als es nicht unten, sondern direkt an seiner Tür klingelte. Er hatte Noah vom Küchenfenster aus nicht ankommen sehen, was ihm lieber gewesen wäre. Das hätte Zeit verschafft. Wozu eigentlich? Um sich noch einzukriegen? Zu spät. Selbst schuld.
Der junge Mann hielt immer noch die Katze im Arm, als er tief durchatmete und nach der Klinke griff. Das war vielleicht keine so gute Idee. Immerhin war das Tier nicht erlaubt.
Was waren denn gesicherte Informationen über diesen Kerl da draußen? Dass er sich mit Computern auskannte und Holiday on Ice mit der ewigen Verdammnis verwechselte. (Wo jeder wusste, dass die Hölle der Musikantenstadl war.) Mehr eigentlich nicht. Zugegeben, der Typ wirkte nicht so, als würde er im gesamten Großraum Salzburg nach Verstößen gegen das Mietrechtsgesetz suchen und damit sofort zur Hausverwaltung laufen, weil ihm dabei einer abging. Aber ausschließen konnte man so was ja auch nie. Zu gefährlich.
Je weniger Menschen von Herbert wüssten, umso sicherer wäre er!
Hektisch sah der Goldschmied sich um. So viele Möglichkeiten gab es nicht. Schlafzimmer? Oder Bad? Das Kisterl stand da drin, was sicher gut war. Er entschied sich spontan für das zweite, setzte den missmutigen Tiger auf den Fliesen ab und machte zu.
Besser.
Zweiter Versuch.
"Hey." Damit der Andere den kleinen Vorraum betreten konnte, musste David einen Schritt zur Seite machen. Sollte er ihm die Hand geben? Ihn umarmen, wie Tom das tat? Oder ihm gar ein Küsschen auf die Wange drücken, oder mehrere, wie die Frauen letztens? Nein, das nicht. Das käme nie in Frage. Trotzdem war die Situation ungut. Sehr sogar. Was würde Noah jetzt erwarten?
Offensichtlich gar nichts. Er schlüpfte sofort aus seinen Straßenschuhen und schob das Paar mit dem rechten Fuß gegen die Wand.
"Hallo, David. Schön, dich zu sehen. Darf ich durchgehen?" Lächelnd schaute der Größere in Richtung Wohnzimmer. Er wirkte überhaupt recht entspannt. Was in Wirklichkeit harte Arbeit war. Aber notwendig. Vor allem, wo der Gastgeber schon sichtlich nervös zu sein schien. Er wusste wohl gerade nicht, wohin mit seinen Händen, steckte dann beide in die Hosentaschen und kaute auf seiner Unterlippe herum. Sogar seine Wangen waren leicht gerötet. Gerade so, als würde er eben etwas äußerst Fragwürdiges anstellen.
"Ja. Klar, bitte." Ein banger Kontrollblick zu einer Tür, der dem Anderen auffiel, war im Vorbeigehen nicht zu vermeiden. Hoffentlich würde das Raubtier dahinter ruhig bleiben. Es war nicht gewohnt, eingesperrt zu sein.
Auf dem niedrigen Tisch im Wohnzimmer lag ein Notebook. Das Gerät war aufgeklappt und an. Noah hatte aus der rechten Hosentasche seiner Jeans einen Stick zu Tage befördert. Alles hier sah aus, wie beim letzten Mal. Und doch war es, als hätte sich irgend etwas verändert. Seltsam. War da ein Geräusch gewesen? Hinter einer der beiden verschlossenen Türen?
Der Brünette schüttelte den Kopf. Sicher nur Einbildung. "Ein paar Minuten wird es dauern, ja?"
"Ja. Dann ... setz dich doch. Magst du was trinken?"
Er hätte nichts gegen einen starken Mokka gehabt, konnte sich aber nicht erinnern, in der Küche eine Kaffeemaschine gesehen zu haben und wollte David nicht in Verlegenheit bringen. "Ein Mineralwasser wäre schön. Wenn du eines da hast."
"Sicher." Er war ziemlich froh, nebenan für ein paar Minuten verschwinden zu können. Als er wieder zurück kam, fand er Noah schon konzentriert vor dem Bildschirm. Felder öffneten sich, gingen wieder zu, die Finger des Mannes flogen in einer Geschwindigkeit über die Tasten, die unfassbar war. Der Goldschmied hatte so etwas noch nie gesehen. Und war sich auch nicht sicher, ob er gerade was sagen durfte? Lieber nicht. Das würde bestimmt stören. Er stellte das Glas in angemessener Reichweite auf dem Tisch ab.
"Ich will dir da nur schnell was ... Das geht sonst nicht ... Und deine Firewall ..."
Es dauerte etwas. David setzte sich still an das andere Ende der Couch. Herbert! Man hörte ihn! Was machte der Kleine denn da drinnen?! Sicher fiel das bald einmal auf. Vor allem, weil es sonst so still war. Abgesehen von dem Klicken der Tastatur.
Irgendwas stimmte hier nicht. Es musste noch ein Bade- und ein Schlafzimmer geben. Aus einem der beiden kamen leise Geräusche. Oder waren die Wände dünn, und man hörte etwas aus der Nachbarwohnung? Das könnte es sein.
"Hier muss ich noch ... So gefällt mir das besser ... Hab's gleich. Sorry", fügte der Größere schulterzuckend hinzu, weil er merkte, dass er beobachtet wurde. Er sah nicht auf dabei. Und verlangsamte auch sein rasendes Arbeitstempo nicht. "Manchmal denke ich laut."
"Das", sagte der Rotblonde versonnen, während er dem Anderen von der Seite zuschaute, "möchte ich auch können."
"Denken?"
Das Deko-Kissen, das dem IT-Spezialist umgehend für diese kleine Frechheit ins Gesicht flog, hatte er nicht kommen sehen. Einen Moment war es vollkommen ruhig. Dann musste er so lachen, dass er sogar vergaß, was er eben noch hatte machen wollen. "Entschuldigung."
Der Schlag war sicher ein reiner Reflex gewesen. Dass David ihn nicht unterdrückt, und sich das getraut hatte, war einfach nur wunderbar. So herrlich normal!
Er grinste auch. Gott sei Dank! Dann war er nicht beleidigt. Das war einfach nur die verdiente Quittung für etwas gewesen, das Noah rausgerutscht war und ihm noch in der gleichen Sekunde leid getan hatte. Es hätte auch gründlich schief gehen können.
Konzentration!
Irgendwann nickte er zufrieden und griff nach seinem Wasserglas. Mit der anderen Hand schob er das Gerät zu seinem Besitzer.
"Erledigt. Magst du es dir ansehen?"
"Gerne, ja! Kennst du es?"
"Ehrlich gesagt, nicht. Und ich hatte leider noch keine Zeit, mich damit zu beschäftigen. Also bin ich dir ab hier keine Hilfe mehr."
"Wo habt ihr es her?"
"Willst du gar nicht wissen", zwinkerte der Größere.
"Schon wieder? Alles klar." Es amüsierte ihn sichtlich.
Das war super. Nein, viel mehr als das! Es war genau, was Noah sich gewünscht hatte. "Dann hau dich mal rein." Er stand auf und trank den letzten Schluck aus seinem Glas. Nur nichts herausfordern.
"Ich ... Danke!"
Auch David war aufgesprungen und hinter Noah bis in den Vorraum gegangen. Der bückte sich und schlüpfte in seine schwarzen Sportschuhe. Genau in diesem Augenblick fiel etwas zu Boden. Hinter einer der Türen ... der rechten! Der Besucher hielt in seiner Bewegung inne. Da drinnen brannte Licht und ein Schatten war durch den schmalen Spalt am Boden zu sehen. Ganz deutlich.
Mit fest aufeinander gepressten Lippen bewegte der Rotblonde sich einige Schritte rückwärts. Als würde er sich schützend vor diesen Raum stellen.
Nur keine Regung zeigen! "Wir sehen uns am Samstag?"
"Ja, ich ... ja."
"Schön. Bis dann." Damit war Noah verschwunden.
"Mein süßer Schatz! Was hast du angestellt?!" David hatte keine echte Autorität in der Stimme und wollte es auch gar nicht. Das war ja gerade noch mal gut gegangen! Er hob die Zahnpasta wieder auf, die seine kleine Mitbewohnerin aus lauter Langeweile auf die Fliesen befördert hatte. "Das war gar nicht schlimm." Es war ihm selbst unklar, ob er das gesagt hatte um die Katze, oder sich selbst zu beruhigen.
Noch nie zuvor hatte er jemand hier rein gebeten. Nie.
Derweil ging der Andere nachdenklich die Treppe nach unten. Was bitte, war das eben gewesen?
Und plötzlich machte alles einen Sinn.
Da war noch jemand bei ihm! Nur deshalb hatte Noah es in die Wohnung geschafft. David hatte wenig Bedenken gehabt, weil er nicht alleine gewesen war. Weil da noch einer war, dem er vertraute!
Scheiße!