Als der Andere ihn aus dem Gras hochzog, war dem Goldschmied nicht besonders gut dabei. Wirklich nicht. Nur war es eben so, dass es hier vor allem um Herbert ging.
Die Tatsache dass der junge Mann ebenfalls in der fremden Wohnung schlafen sollte, war beängstigend. Auch dann, wenn es nur Noah war, dem sie gehörte. Die Nacht über alleine bei ihm bleiben konnte die Katze nicht, weil er zeitig am nächsten Morgen für länger weg musste. Zu früh, um sie vorher noch im Tierheim abzugeben. Das müsste dann eben David machen. Allein die Vorstellung verursachte ihm Schmerzen, aber länger als unbedingt nötig würde er nicht bleiben. Auf keinen Fall.
Sie würden also zusammen bei Noah sein, der heute Abend auf einmal einfach da gewesen war. Der gesagt hatte, für so was hätte man Freunde. Und der sehr wenig dafür konnte, dass sie beide einen katastrophalen Start gehabt hatten.
Das war ein Tag gewesen, den David am liebsten aus seinem Leben streichen würde. Einer, an dem seine Vergangenheit ihn mit voller Wucht eingeholt hatte. Der Andere trug weder Schuld daran, noch hatte er ihm je absichtlich etwas getan. Ein unbestimmtes Bauchgefühl sagte dem Rotblonden, dass das auch jetzt nicht passieren würde. Trotzdem gab es natürlich immer dieses ... Restrisiko.
Ein Mitarbeiter der Hausverwaltung notierte sich Davids Namen und Telefonnummer. Er sollte sich drinnen nicht länger als nötig aufhalten und sich beim Verlassen des Gebäudes abmelden. Sie müssten sicherstellen, dass hier niemand mehr war.
Im Treppenhaus roch es furchtbar. Ein beißender Gestank nach Rauch, der leider auch die Wohnung nicht ganz verschont hatte.
Der junge Mann packte einige Kleidungsstücke und ein paar Sachen aus dem Badezimmer in eine große Tasche. Nur für zwei, drei Tage. Länger würde das ja wohl kaum dauern. Hoffentlich.
Ladekabel und Handy lagen mal wieder in der Küche, er nahm beides mit. Acht Anrufe in Abwesenheit. Alle innerhalb von wenigen Minuten, alle von Noah.
David fand Herbert unter der Couch, zog ihn vorsichtig hervor und strich ihm beruhigend über das kurze Fell. "Tut mir leid. Das muss sein. Dich darf keiner sehen, schon gar nicht der da unten." Die Katze passte locker noch hinein und war an dem kuscheligen Plätzchen auch durchaus interessiert. Als der Reißverschluss über ihr zugezogen wurde, sah sie allerdings ganz und gar nicht mehr begeistert aus.
Ein Problem war die Toilette des Tierchens. Die wurde kurzerhand in einem Karton verstaut, der vor der Wohnungstür gegenüber abgelegt worden war. Die Nachbarin verschenkte ihn nur zu gerne, das ersparte ihr im augenblicklichen Stress den Weg zum Container.
Vorsichtig hob der Rotblonde die Tasche hoch und hängte sie sich an den Tragegurten um. Im Moment deutete nichts darauf hin, dass sich ein leicht missmutiger Stubentiger darin befand. Der würde aber vermutlich nicht lange so ruhig bleiben. Daher schnappte David sich zitternd aber entschlossen die Schachtel, es war einfach alles ziemlich viel gerade, zog die Wohnungstür von außen zu und atmete tief durch. Das half natürlich nicht. Es verursachte nur Hustenreiz.
Noah hatte gemeint, er würde das Auto holen und unten warten. Er war dann auch wirklich schon direkt vor der Haustür und griff beherzt nach dem Gepäck, das sich zu bewegen begann. Vielleicht sah er deswegen so froh aus. Er konnte gar nicht aufhören zu grinsen.
Der Mitarbeiter der Hausverwaltung stutzte kurz, schüttelte dann aber den Kopf und schrieb weiter diverse Notizen auf einen Zettel an seinem Klemmbrett.
Zur Sicherheit entfernte der Brünette sich ein paar Schritte. Aus der Tasche kamen nämlich inzwischen auch Geräusche. Zum Glück dauerte es nicht lange, bis David an der Reihe war und gehen durfte. Er würde sofort telefonisch verständigt werden, wenn er das Gebäude wieder betreten dürfte. Klasse.
Jetzt stand er also vor dem Haus, suchte den Parkplatz nach einem kleinen, blauen Auto ab und fühlte sich vollkommen verloren. Ein nur allzu vertrautes Gefühl. Diese beklemmende Enge in der Magengegend machte ihm zudem sehr deutlich, dass es nicht gut wäre, wieder von vorne über die möglichen Folgen seiner Entscheidung nachzudenken. Darüber was passieren könnte, wenn Noah doch nicht der nette Kerl war, der er zu sein schien.
Kein Opel Corsa weit und breit. Nur die Heckklappe eines schwarzen Audi öffnete sich und der Größere ging direkt darauf zu.
"Besser wir tauschen."
"Was?" Irritiert registrierte David, dass Noah seinen Karton offenbar in diesem Kofferraum verstauen wollte.
"Nimm die Tasche mal lieber mit nach vorne. Ich glaube, da drin ist jemand mächtig sauer."
Weil der Goldschmied sich nicht rührte, er sah mitgenommen und deutlich überfordert aus, nahm der Brünette ihm die Schachtel einfach ab. "Barbies Traumhaus?"
"Fast. Herberts Kisterl."
"Dann hält der Inhalt nicht, was die Verpackung verspricht?"
"Sich auf so was zu verlassen, ist sehr oft ein Griff ins Klo."
Lachend machte Noah die Beifahrertür auf. "Setz dich und schnall dich an. Ich gebe dir den kleinen Scheißer."
"Wo ... ist denn dein Auto?"
"Ich verstehe nicht?"
"Hat es den TÜV nicht mehr gekriegt?"
"Ach so, du meinst ... Das war nicht meiner."
"Oh. Aha. Und ... der hier ist ...?"
"Ein Firmenwagen."
Der Kofferraum war zu, als der Mann startete. Obwohl er vorne herum gegangen war. Offenbar schloss das Ding sich automatisch. Vorsichtig lehnte David sich im Ledersitz zurück. Er traute sich kaum, sich zu rühren. Das war ja wie in einem Wohnzimmer hier. Kurz musste er darüber nachdenken, was diverse Leute wohl meinten, wenn sie von Fahrgefühl sprachen. In diesem Auto gab es nämlich keines. Es fühlte sich nicht an, als würde es sich bewegen. Und es hörte sich auch nicht so an.
"Ich ... Ist das ein Elektroauto?"
"Nein, ein Hybrid."
"Ah?"
"Ja, reine E-Fahrzeuge haben einfach das Problem mit der Reichweite. Das ist nichts für mich."
Beinahe lautlos glitt der SUV die Straße entlang. In Richtung Innenstadt.
Noah musste sich so was von zusammenreißen! David war heute Abend ganz bestimmt von den Ereignissen erschlagen worden. Von dem Feuer und allem was danach auf ihn hereingebrochen war. Dass ein anderer Grund den Goldschmied dazu bewogen haben könnte zu ihm in den Wagen zu steigen, wagte der IT-Spezialist nicht zu denken. Das hier, war unter diesen Umständen die einzig vernünftige Option gewesen. Jetzt war es aber so, und er würde alles tun, damit es nicht schief ging. Er würde diesen gewaltigen Vorschuss an Vertrauen, so sah er das und er erkannte es richtig, nicht aufs Spiel setzen.
Er müsste vor allem ruhig bleiben. Das hörte sich einfach an. War es aber nicht. Am liebsten hätte er alle Fenster aufgemacht und der ganzen Welt entgegen geschrien, wie glücklich er sich fühlte!
Und auch, welche unendliche Erleichterung er empfand, seit er herausgefunden hatte, dass Herbert doch nicht der Loser war, für den Noah ihn gehalten hatte. Wie unglaublich bescheuert war das denn gewesen?! An ihrer Art der Kommunikation mussten sie unbedingt etwas ändern. Das nahm er sich fest vor!
Wo wollte der denn hin? David kannte die Strecke, hier kam man in die Altstadt. Aber das konnte nicht ... doch. Noah überquerte die Brücke, bog noch ein paar mal ab und hielt schließlich in einer Tiefgarage!
Wieder öffnete sich der Kofferraum, sie saßen alle beide noch im Wagen. Alle drei, wenn man Herbert mitzählte, der sich seit Beginn der Fahrt kaum mehr gerührt hatte.
"David? Alles in Ordnung?" Der Größere war besorgt.
"Was ... Wo sind wir denn hier?"
"Bei mir zuhause." Diese Info schien nicht so recht anzukommen. "Ich wohne hier." Fröhlich stieg er aus, ging hinten herum, nahm den Karton hoch, öffnete anschließend die Beifahrertür und griff sich die Tasche. "Kommst du mit, oder schläfst du lieber im Auto?"
"Nein, ich ... " Unsicher folgte der Kleinere dem Anderen in einen Lift. Die Türen schlossen sich. Noah schmunzelte fast verlegen, David wurde schlecht. Der Fahrstuhl hielt im vierten Stock. "N. Capali" stand auf einem Schild neben der rechten der beiden Wohnungstüren. Sie sprang auf, nachdem Noah seinen Daumen gegen ein kleines Plättchen gedrückt hatte.
"Mach das auch mal schnell."
"Ich soll ..."
"Deinen Finger da drauf halten."
So was hatte der Goldschmied schon gesehen. Im Fernsehen. Vorsichtig berührte er das Teil.
"Danke. Das richte ich dir gleich ein, ja?" Der Größere ging voraus und machte das Licht an. Oder funktionierte das von selbst? An den Wänden zu beiden Seiten standen Einbauschränke, gegenüber befand sich eine Schiebetür. Als sie sich öffnete, verlor David fast das Gleichgewicht.
"Nugget? Hey! Was hast du?!"
"Das Dach!"
Noah folgte seinem Blick. Nach weit oben. "Ich brauche ein Dach." Dieser Hinweis half offensichtlich kein bisschen. "Es hält den Regen ab."
"Und die Couch, sie ..."
"Ja?"
Sie war größer als Davids gesamtes Wohnzimmer. "Hier ist wirklich eine Menge Platz zum Schlafen."
"Wenn du das möchtest, halte ich dich nicht auf. Du könntest natürlich auch das Gästezimmer nehmen." Ob der Andere das hier gut fand, war echt schwer zu sagen. Es wäre schon schön gewesen. "Vorschlag?"
"Hm?"
"Komm erst mal mit in die Küche. Was trinken. Und lass endlich die arme Katze frei."
Noch immer klammerte der Rotblonde sich mit beiden Händen an den Tragegurten der Tasche fest und versuchte sich zu orientieren. Noah merkte das deutlich, nahm David lächelnd das Gepäck ab und öffnete den Reißverschluss. Der kleine Tiger duckte sich, verharrte einige Sekunden, machte einen großen Satz und verschwand sofort unter dem nächsten Möbel.
"Du hast recht. Der ist voll süß." Der Andere sagte noch immer nichts. "Was möchtest du?"
"Was?!"
"Wasser? Tee, oder lieber ein Glas Wein?" Frühstück im Bett? "David?"
"Hm?"
"Du musst nicht mit mir reden, nur weil dir gerade etwas durch den Kopf geht. Aber wenn es mit mir zu tun hat, fände ich es schön, wenn du es tätest."
Ja, die ein oder andere Frage drängte sich durchaus gerade auf!